Hunderte Wissenschaftler appellieren an WHO, die Übertragung durch Aerosole ernst zu nehmen

Mehr als 200 Wissenschaftler appellieren an die WHO und den medizinischen Fachbereich: Die Übertragung von COVID-19 durch Aerosole müsse ernst genommen und schützende Maßnahmen angepasst werden. Bisher hält die WHO an den ursprünglichen Richtlinien fest.
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Wissenschaftler in einem Analyselabor.Foto: iStock
Von 14. Juli 2020

Insgesamt 239 Wissenschaftler aus 32 Ländern unterstützen die Veröffentlichung „Es ist an der Zeit, sich mit der Aerosol-Übertragung zu befassen“. Darin appellieren sie an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und andere medizinische Behörden, die Aerosol-Übertragung ernst zu nehmen und Maßnahmen anzupassen.

Durch Aerosole könne sich das Virus über eine weitaus größere Distanz als die empfohlenen ein bis zwei Meter Mindestabstand verbreiten. Besonders in geschlossenen Räumen sei das Risiko groß. Dort reichten die bisher ergriffenen Maßnahmen wie der Mindestabstand und das Desinfizieren der Hände nicht aus.

„Händewaschen und Social Distancing sind angemessen, aber nach unserer Ansicht reichen sie nicht aus, um vor virusbelasteten Mikroatemtröpfchen zu schützen, die von infizierten Menschen ausgestoßen werden“, schreiben die Autoren in der im Fachmagazin „Clinical Infectious Diseases“ veröffentlichten Studie.

Übertragung durch Aerosole unterschätzt

Am Anfang der Virusverbreitung waren die Übertragungswege unklar. Nun gehen Forscher vermehrt davon aus, dass man die Übertragung durch Aerosole unterschätzt hat.

SARS-CoV-2 falle zwar nicht in die Kategorie von Erregern wie Masern oder Windpocken, die sehr lange in der Luft überdauern, allerdings habe man am Anfang der Epidemie die Übertragung durch Oberflächen wohl etwas überschätzt und „die Übertragung durch die Nähe zu Erkrankten, auch durch die gleiche Raumluft, etwas unterschätzt“, sagt Prof. Isabella Eckerle, Virologin der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Genf.

Allerdings ist dabei zu beachten, ob man sich auf engem Raum mit wenig Luftzirkulation oder im Freien aufhält. An der frischen Luft werden Tröpfchen wie Aerosole sehr schnell von der Luftbewegung zerstreut.

Aufgrund dieser Erkenntnisse appellieren die Forscher an die WHO, Maßnahmen in Innenräumen vernünftig anzupassen. Vorschläge dazu sind häufiges Lüften und hochwertige Luftfilter zu installieren. Vor allem in Klassenzimmern, Altersheimen oder Krankenzimmern sei dies sinnvoll.

UV-Lampen, die der Keimreduktion dienen, können in Räumlichkeiten mit Risikogruppen angedacht werden. Dazu zählen Altenheime oder Krankenzimmer von Patienten mit schweren Vorerkrankungen.  Ebenso schlagen Wissenschaftler vor, sich bei Einschränkungen hauptsächlich auf große Ansammlungen von Menschen in Innenräumen sowie öffentliche Verkehrsmittel zu konzentrieren.

Prof. Clemens Wendtner, Leiter der Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen an der München Klinik Schwabing, hält den Appell für nachvollziehbar. Er teilt die Ansicht der Autoren, dass mit dem Coronavirus belastete Aerosolpartikel in geschlossenen Räumen zur Gefahr für Menschen werden können.

WHO hält an bisherigen Empfehlungen fest

Die WHO reagiert bisher zurückhaltend auf den Appell der Wissenschaftler. Man sei zwar aufgeschlossen gegenüber neuen Datenlagen in diesem Feld, müsse aber sehr behutsam vorgehen, bevor man Schlüsse ziehe, antwortete die WHO-Expertin Prof. Benedetta Allegranzi auf einer Pressekonferenz am Dienstagabend in Genf. Die bisherige Position der WHO lautet, dass eine Coronavirus-Infektion durch Aerosole unter „speziellen Umständen“ und an bestimmten Orten möglich sei.

Eine weitere Wissenschaftlerin der WHO, Prof. Soumya Swaminathan, sagt, dass die WHO täglich im Durchschnitt 500 Veröffentlichungen unterschiedlicher Qualität in Bezug auf die aktuelle Pandemie beobachte.

Prof. Wendtner bedauert, dass es „noch keine generelle Warnung der WHO zur Gefahr durch eine Aerosol-basierte SARS-CoV-2-Infektion gibt“. Ausnahmen seien bisher nur die Richtlinien bei Aerosol-generierenden medizinischen Prozeduren wie etwa Lungenspiegelungen.

„Die WHO hat auch erst mit Verzögerung die Gefahr einer COVID-19-Infektion durch asymptomatische Patienten gesehen. Angesichts immer noch steigender globaler Infektionszahlen bei gleichzeitiger Umsetzung von Lockerungsmaßnahmen in manchen Ländern, wäre ein Aufruf der WHO zum Schutz vor SARS-CoV-2-haltigen Aerosolen wünschenswert und aus wissenschaftlicher Sicht dringend geboten“, sagt er in einem Statement in „Science Media Center“.



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