Nach 9/11-Albtraum: Wie Vergebung das Leben eines einstigen Helden rettete
Lyndon Harris trat im April 2001 seinen Traumjob an, als er zum Priester der St. Paul’s Chapel an der Wall Street ernannt wurde. Doch nur wenige Monate später veränderten tragische Ereignisse sein Leben für immer. Harris verlor sein Zuhause und seine Frau und war gesundheitlich angeschlagen – er litt an posttraumatischem Stress, Depressionen und Lungenschäden. Er hatte allen Grund, mit der Welt zu hadern, und das tat er auch. Was ihn schließlich rettete, war etwas Unerwartetes.
Vom Helden zum Opfer
Nur drei Blocks vom World Trade Center entfernt wurde Lyndon Zeuge der Tragödie des 11. September. Vor seinen Augen stürzten die Türme ein und in den Tagen danach sah er das menschliche Leid aus nächster Nähe: Nachbarn und Fremde ohne Obdach und Familien auf der verzweifelten Suche nach vermissten Angehörigen.
Angesichts der enormen Not der Menschen organisierte Lyndon eine Gruppe von Freiwilligen, die eine provisorische Essensausgabe einrichteten. Später half er, diese humanitären Bemühungen am Ground Zero auszuweiten, indem er seine Kirche, die St. Paul’s Chapel, öffnete, um den Ersthelfern und Arbeitern Unterstützung zu bieten: Essen, Massagen, chiropraktische Behandlung und seelsorgerische Beratung. Die Kirche bot auch Schlafplätze an und verteilte Teddybären.
„Meine Mutter hat mir immer beigebracht: Wenn jemand in Not ist, hilft man ihm. Und wenn man kann, gibt man ihm etwas zu essen“, erinnert sich Lyndon.
Doch seine Kirchenleitung hatte andere Pläne. Sie verlagerte ihren Schwerpunkt von der humanitären Hilfe auf den Erhalt des Kirchengebäudes. Lyndon war damit nicht einverstanden, jedoch vergeblich.
Er war wütend, fühlte sich betrogen und trat schließlich zurück. „Bald brach mein Leben zusammen“, sagt er. Kurz darauf verlor er sein Haus und seine Ehe ging in die Brüche. Sein Körper und Geist waren krank, er litt an Depressionen und posttraumatischem Stress.
Sein Groll hielt ein Jahrzehnt an – er lebte auf seinem eigenen „Ground Zero“.
„Nelson Mandela hat es sehr gut ausgedrückt: ‚Nicht zu vergeben ist wie Gift zu trinken und zu hoffen, dass deine Feinde daran sterben‘“, sagt Lyndon. „Ich habe dieses Gift getrunken, und manchmal hat es wirklich gut geschmeckt. Aber jedes Mal, wenn ich einen Schluck trank, starb ein Teil von mir“, meint er. „Aber“, fährt er fort, „das ist nicht das Ende der Geschichte. Mein Leben nahm eine Wendung, als ich Vergebung in mein Herz ließ.
Zusammenhang zwischen Groll und Suizidrisiko
Loren Toussaint, Professor für Psychologie am Luther College und führender Experte im Bereich der Vergebungsforschung, berichtete der Epoch Times von einer Studie, die er mit 1.423 Amerikanern durchgeführt hatte.
Die Ergebnisse zeigten, dass Selbstvergebung, die Vergebung anderer und das Empfinden, dass Gott einem vergibt, stark mit besserer geistiger und körperlicher Gesundheit, höherer Lebenszufriedenheit und gesteigertem Glücksgefühl verbunden sind.
Im Gegensatz dazu hat die Unfähigkeit zu vergeben deutlich negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, die sich in Grübeleien und depressiven Symptomen manifestieren können.
Grübeln versetzt den Körper immer wieder in einen Stresszustand, wodurch kontinuierlich das Stresshormon Cortisol freigesetzt wird, erklärt Everett Worthington, emeritierter Professor an der Virginia Commonwealth University und Autor von über 30 Büchern zum Thema Vergebung.
Stress wird mit einem erhöhten Risiko für schwere Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs in Verbindung gebracht.
Studien haben gezeigt, dass Stress die Genexpression verändern, Entzündungsfaktoren aktivieren und das Tumorwachstum und die Metastasierung fördern kann. In einer Studie, die im Journal of Health Psychology veröffentlicht wurde, fand Toussaint heraus, dass die Fähigkeit zu vergeben, Stress im Laufe des Lebens deutlich abpuffert, psychischen Erkrankungen vorbeugt und die körperliche Gesundheit verbessert.
Darüber hinaus sind der Groll und das Nicht-Vergeben-Können stark mit einem erhöhten Selbstmordrisiko verbunden. „Wenn man voller Wut und Hass ist, hat man oft auch weniger Lust, zu leben“, sagt Michael Barry, Pfarrer und ehemaliger Leiter der Seelsorge an den Cancer Treatment Centers of America.
Vergebung als Schlüssel zum Glück
Lyndon erkannte, dass er erst aus der Rolle des Opfers heraustreten und Vergebung annehmen musste, um wieder gesund werden zu können.
Papst Franziskus hat das Jahr 2016 zum Jubiläumsjahr erklärt – ein besonderes Jahr, in dem Vergebung und Barmherzigkeit im Mittelpunkt stehen. In diesem Jahr pilgerte Lyndon nach Santiago de Compostela.
Eine Tradition auf dem Jakobsweg ist es, einen Stein mit sich zu tragen und ihn am Ende der langen Reise von den Klippen von Finisterre ins Meer zu werfen, um „die Lasten loszulassen, die man mit sich trägt“.
Bei jedem Schritt dachte Lyndon über sein Leben nach, über vergangene Fehler und seine Unfähigkeit, zu vergeben – und ließ alles los. Am Ende der Reise warfen Lyndon und seine Freundin Maria, die ihn auf der Pilgerreise begleitete, ihre Steine über die Klippen. Und „wir haben Absichtserklärungen für unsere Zukunft abgegeben“, sagt er. In diesem Moment machte er ihr einen Heiratsantrag – und sie sagt „Ja“.
Lyndon und seine heutige Frau Maria erreichten die Kathedrale von Santiago de Compostela und beendeten ihre Pilgerreise. „Ich bin ein neuer Mensch mit einer neuen Mission. Viele Herausforderungen und Schmerzen sind mir erspart geblieben. Ich bin sehr gesegnet“, sagt Lyndon.
Seine geistige und körperliche Gesundheit sei auf einem Allzeithoch, ohne Spuren von Lungenschäden und ohne jegliches Gefühl von Groll. Er ist glücklich mit der Frau seiner Träume verheiratet und arbeitet als Motivationsredner, um die Vorteile der Vergebung zu verbreiten.
„Wir alle erleben Tragödien, aber wir müssen kreative Wege finden, darauf zu reagieren, damit wir glückliche, widerstandsfähige, einfallsreiche und lebensbejahende Menschen sein können. Und Vergebung ist der absolute Schlüssel dazu – ohne Zweifel“, sagt Lyndon, „die Studien sind unbestreitbar“.
Das Wesen der Vergebung
„Vergebung bedeutet nicht, zu vergessen“, meint Barry, der auch Bücher über Vergebung geschrieben hat. Eine schmerzhafte Erinnerung besteht aus zwei Teilen: dem Schmerz und der Erinnerung. Wie eine Narbe am Körper, erklärt Barry, „wenn man jemandem vergibt, verschwindet der Schmerz, aber die Erinnerung bleibt“.
Vergebung sei auch mehr als das Aussprechen von Worten. Barry erzählte von einer 19-jährigen Frau, die aufgrund eines traumatischen Erlebnisses seit mehr als sechs Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater hatte.
Sie schimpfte wütend und war offensichtlich immer noch verletzt. Als Barry sie fragte, ob sie jemals daran gedacht habe, ihrem Vater zu verzeihen, antwortete sie: „Ich habe ihm schon vor langer Zeit verziehen“. Barry vermutete jedoch, dass dies nicht wirklich der Fall war.
Vergebung passiert „wirklich in deinem Herzen“, erklärt er. Worthington ergänzte, dass es wichtig sei, zu verstehen, dass „Vergebung in mir selbst stattfindet“. Es ist eine persönliche Erfahrung und etwas, das man für sich selbst tut, nicht für andere.
Vergebung und Versöhnung müssen nicht unbedingt „Hand in Hand gehen“. Man kann jemandem vergeben, ohne diese Person jemals wiederzusehen oder mit ihr zu interagieren“, erklärt er.
Schritt für Schritt zur Vergebung
Worthington empfiehlt einen strukturierten Ansatz für Vergebung und hat deshalb sein eigenes Vergebungsmodell namens REACH entwickelt, das in mehr als 20 kontrollierten wissenschaftlichen Studien positive Ergebnisse gezeigt hat.
REACH (Recall, Empathize, Altruistic, Commit, Hold on) steht für: „Erinnere“ dich an den Schmerz. „Empathisiere“ mit der Person, die dich verletzt hat. Gib ein „selbstloses“, unverdientes Geschenk der Vergebung. „Verpflichte“ dich zur Vergebung, die du emotional erlebst, und halte „an dieser Vergebung fest, auch wenn manchmal Zweifel aufkommen sollten“, erklärt Worthington.
Dieses Modell lässt sich sowohl auf große Ereignisse als auch auf kleine Ärgernisse anwenden.
Wenn dich zum Beispiel jemand im Verkehr schneidet, fängst du an, den Schmerz oder den Ärger zu erkennen, der in dir aufsteigt. Du erkennst deinen Ärger und entscheidest, dass es sich nicht lohnt, wütend zu bleiben.
Als Nächstes versuchst du, dich in den anderen Fahrer hineinzuversetzen und überlegst, dass er es vielleicht eilig hatte oder abgelenkt war. Dann gibst du ein selbstloses Geschenk der Vergebung, indem du die Situation loslässt.
Wenn dir das schwerfällt, kannst du an Zeiten denken, in denen dir Fehler vergeben wurden. Du verpflichtest dich, die Situation loszulassen und erinnerst dich später daran, dass du dich entschieden hast, diesem kleinen Vorfall nicht so viel Raum zu geben, dass er deinen Tag ruiniert.
Luskin empfahl, mit kleinen Dingen zu beginnen und mit Menschen, die einem nahestehen, wie zum Beispiel dem Lebenspartner. Konzentriere dich auf die Menschen, die dir wichtig sind, und übe. Setz dich zwei Minuten lang hin und überlege, was du zu jemandem sagen würdest.
„Experimentiere damit“, sagt er. Das Wichtigste sei die Absicht, zu vergeben. „Vergebung ist der letzte Schritt auf dem Weg zur Heilung“, sagt Luskin. Obwohl Vergebung lehrbar und wertvoll sei, seien spezifische Methoden nur unterstützend. Luskin zitierte Viktor Frankl, einen Holocaust-Überlebenden, dessen berühmtes Zitat lautet: „Wenn jemand weiß ‚Warum‘ er lebt, erträgt er fast jedes ‚Wie‘“.
„Sei geduldig“, sagt Toussaint. Er fügte hinzu, dass man beruhigende Erfahrungen in den Prozess der Vergebung einbauen könne, um Achtsamkeit zu fördern. Er empfiehlt Gebete, Meditation, tiefes Atmen, friedliche Visionen oder Zeit in der Natur zu verbringen. Diese Praktiken helfen, sich zu entspannen und andere Lösungen für Probleme in Betracht zu ziehen.
Lyndon empfahl, sich in Dankbarkeit zu üben, da dies „das Gegenmittel für das Unvermögen der Vergebung“ sei.
Sich selbst verzeihen
Barry wies darauf hin, dass Selbstvergebung einen ähnlichen Ansatz erfordere. Zuerst müsse eine bewusste Entscheidung zur Vergebung getroffen werden. Dann müsse man die begangene Schuld akzeptieren. Anschließend zeige man Reue, indem man bereit sei, vergangene Taten oder Verhaltensweisen zu korrigieren. Im dritten Schritt, den er das Erlangen von Weisheit nennt, frage man sich: „Was kann ich aus meinem Fehler lernen?“
Lyndon schlägt vor, sich einen Spielplatz vorzustellen. Stell dir ein kleines Kind vor, das an den Kletterstangen hängt. Viele von uns leben ihr Leben wie dieses Kind, sagt Lyndon, gefangen in der Mitte, unfähig vorwärtszugehen oder loszulassen.
„Weißt du, wie du vorankommst?“, sagt Lyndon, „du musst nach der Zukunft greifen. Du musst nach der nächsten Leitersprosse greifen und gleichzeitig die hinter dir loslassen“.
Dieser Artikel ersetzt keine medizinische Beratung. Bei Gesundheitsfragen wenden Sie sich bitte an Ihren Arzt oder Apotheker.
Zuerst erschienen auf theepochtimes.com unter dem Titel „An Unlikely Cure for a 9/11 Hero: How Forgiveness Improves Mental and Physical Health“. (deutsche Bearbeitung kr)
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