Der Impfstoff, der sich im Körper vermehrt: Selbstverstärkende RNA
Zu Beginn der Corona-Pandemie war bei vielen die Sorge groß, dass nicht schnell genug ausreichend Impfstoffe hergestellt und verteilt werden könnten. Eine Innovation im Bereich der genbasierten Impfstoffe soll die Bereitstellung neuer Impfstoffe bald deutlich beschleunigen. Das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen Arcturus Therapeutics und das australische Unternehmen CSL haben eine neue Art von mRNA-Impfstoff entwickelt, der Ende November in Japan seine weltweit erste Zulassung erhalten hat.
Das Präparat mit der Bezeichnung ARCT-154 basiert auf der neuartigen Technologie der sogenannten selbstverstärkenden (self-amplifying) mRNA oder kurz saRNA. Durch den Einsatz eines bestimmten viralen Proteins wird die Impfstoff-RNA in den menschlichen Zielzellen mehrfach kopiert. Das erlaubt es, geringere Mengen an RNA für die Injektionen einzusetzen.
Herkömmliche und selbstverstärkende RNA gegen COVID-19 rufen vergleichbare Immunreaktionen hervor
In einer klinischen Studie zur Immunogenität und Verträglichkeit, die gerade im angesehenen Fachmagazin „The Lancet“ veröffentlicht wurde, haben die Autoren den neuen Impfstoff ARCT-154 mit dem mRNA-Impfstoff Comirnaty der Firma BioNTech verglichen. Dabei habe sich gezeigt, dass eine Boosterimpfung mit dem neuen saRNA-Impfstoff trotz geringerer Dosierung mehr neutralisierenden Antikörper gegen SARS-CoV-2 hervorruft.
Bei den bisher zugelassenen mRNA-Impfstoffen werden genetische Baupläne in Körperzellen eingeschleust, die Anweisungen zur Produktion des Spike-Proteins enthalten. Molekulare Maschinen, die Ribosomen, produzieren dann die Proteine, solange die entsprechende mRNA vorhanden ist. Auf diese Weise gebildete Spike-Proteine können in Geimpften eine Immunreaktion stimulieren, die zur Bildung spezifischer Antikörper oder zur Aktivierung spezifischer T-Zellen führt.
Der neue saRNA-Impfstoff ARCT-154 der Firma Arcturus enthält neben den Anweisungen für Corona-Spike-Proteine auch die Anweisungen für solche viralen Proteine, die in der Lage sind, die Impfstoff-mRNA zu kopieren und dadurch die darin enthaltenen genetischen Informationen selbstständig zu vermehren. Dadurch entsteht in der Zelle neue mRNA, die als Bauanleitungen dienen und dadurch die Menge von produzierten Proteinen deutlich erhöhen kann.
Selbstverstärkende RNA basiert auf viralem Vorbild
Unter normalen Umständen wird mRNA in menschlichen Zellen nicht kopiert, da wir nicht über die dafür notwendigen Enzyme verfügen. Allerdings besitzen manche Viren bestimmte Proteine, die mRNA als Vorlage erkennen und sie dann vervielfältigen können.
Die Entwicklung der saRNA ARCT-154 basiert auf dem venezolanischen Pferdeenzephalitis-Virus, das bei Pferden und in seltenen Fällen auch bei Menschen tödliche Erkrankungen hervorrufen kann. Beim saRNA-Impfstoff wurden jedoch laut Hersteller alle genetischen Elemente entfernt, die für den normalen Lebenszyklus und somit für die Gefährlichkeit dieses Virus wichtig sind. Vom ursprünglichen Enzephalitis-Virus enthält ARCT-154 demnach nur noch die genetischen Informationen für eine sogenannte RNA-Replikase, ein Protein, welches RNA kopieren kann. Zusätzlich wurden die genetischen Informationen für das Spike-Protein von SARS-CoV-2 in diese saRNA eingebaut.
Die saRNA wird genauso wie die bisherigen mRNA-Impfstoffe in Lipidnanopartikel verpackt, bevor sie injiziert wird. Wenn diese saRNA in das Innere einer menschlichen Zelle gelangt, wird die genetische Information für die Replikase und das Spike-Protein abgelesen. Sobald die Replikase in der Zelle hergestellt wurde, beginnt sie damit, die saRNA zu kopieren. Im nächsten Schritt entstehen dann neue mRNA-Moleküle, die von der Zelle als Bauanleitungen für neue Spike-Proteine genutzt werden, wie man es von den bisher verwendeten mRNA-Impfstoffen kennt.
Geringere Produktionskosten, aber vergleichbare Nebenwirkungen
Da sich dieser neuartige Impfstoff in den Geimpften vermehrt, können pro Impfdosis weniger RNA-Moleküle eingesetzt werden. Im Rahmen der Vergleichsstudie, die in „The Lancet“ publiziert wurde, erhielten 817 Personen mindestens fünf Monate nach ihrer dritten Impfung mit dem mRNA-Impfstoff von BioNTech eine vierte Impfung. Dabei wurde etwa die Hälfte der Probanden mit 30 μg des konventionellen mRNA-Impfstoffs von BioNTech oder mit 5 μg des neuen saRNA-Impfstoffs von Arcturus geimpft. Vier Wochen nach dieser Auffrischungsimpfung wurden bei Probanden aus der saRNA-Gruppe bis zu 40 Prozent höhere Konzentrationen an neutralisierenden Antikörpern im Serum festgestellt.
Durch den Einsatz von saRNA wird bis zu zehnmal weniger Impfstoff pro Dosis benötigt. Dadurch könnten nicht nur Produktionskosten gesenkt werden, es wäre auch möglich, den Impfstoff in Zukunft noch sehr viel schneller bereitzustellen.
Die Hoffnung, dass die geringere Dosierung des saRNA-Impfstoffs auch mit weniger Nebenwirkungen einhergehen würde, konnten die Autoren der „Lancet“-Studie jedoch nicht bestätigen. Beim direkten Vergleich der Nebenwirkungen zeigte der neue saRNA-Impfstoff keine Vorteile gegenüber dem bisherigen mRNA-Impfstoff von BioNTech.
Nach den Angaben von Arcturus Therapeutics wurde in einer Phase-3-Studie keine erhöhte Inzidenz von unerwünschten Ereignissen in der saRNA-Gruppe im Vergleich zu einer Placebo-Gruppe festgestellt. Demnach wurden auch keine Fälle von Myokarditis oder Perikarditis gemeldet. Allerdings räumen die Verantwortlichen ein, dass die Studiengröße nicht ausreiche, um sehr seltene Nebenwirkungen zuverlässig zu beobachten.
Trotz Zulassung noch viele offene Fragen
Bisher wurden wenig klinische Daten zur Wirksamkeit von ARCT-154 veröffentlicht. Arcturus gibt die relative Wirksamkeit seines saRNA-Impfstoffs gegen Infektionen mit 55 Prozent und die Schutzwirkung gegen einen schweren Krankheitsverlauf mit 95 Prozent an.
Ob aber eine stärkere Aktivierung von T-Zellen und Antikörper-produzierenden B-Zellen erwartet werden darf, die im Vergleich zu den bisherigen COVID-19-Impfstoffen einen dauerhaften Schutz liefert, bleibt abzuwarten.
Die Vervielfältigung der saRNA in der Zelle führt zu Zwischenprodukten, die in gesunden Zellen normalerweise nicht vorkommen. Dadurch werden möglicherweise bestimmte Immun-Signalwege aktiviert, die auch durch virale Infektionen induziert werden können. Das könnte zu höheren Stimulationen von gewünschten Immunantworten und damit einer verbesserten Immunität führen.
Allerdings verfügt das Immunsystem auch über Abwehrsysteme, die auf derartige RNA-Zwischenprodukte reagieren, indem sie zum Beispiel die Synthese neuer Proteine herunterregulieren. Auch die virale Replikase, die zur Vermehrung der RNA benötigt wird, könnte eine Immunantwort hervorrufen. Ob dann ein wiederholter Einsatz der gleichen saRNA überhaupt wirksam sein kann, ist derzeit ebenfalls völlig ungeklärt.
Ebenso sind die Fragen, wie lange die saRNA nach einer Impfung in den Zellen verbleibt und welche Mengen an mRNA oder Protein über welchen Zeitraum tatsächlich gebildet werden, ebenfalls nicht geklärt. Die Angaben zur Stabilität der bereits verwendeten mRNA-Impfstoffe und den gebildeten Spike-Proteinen haben sich inzwischen in vielen Fällen als falsch erwiesen. Durch den zusätzlichen Vermehrungsschritt der saRNA in den Zellen der Geimpften erscheint eine Prognose noch schwieriger.
Wird die selbstverstärkende RNA die zukünftige Plattform für Impfstoffe?
In der weltweit ersten Zulassung eines saRNA-Impfstoffs sehen einige Wissenschaftler einen bedeutenden Schritt nach vorn. Nathaniel Wang, Geschäftsführer eines Unternehmens, das sich auf die Entwicklung von saRNA-Impfstoffen spezialisiert hat, erwartet laut eigenen Angaben, dass diese neue Plattform herkömmliche RNA-basierte therapeutische Ansätze zunehmend ersetzen werde, da sie ein vielseitigeres Potenzial habe.
Für Roberta Duncan, Leiterin des RNA-Programms bei CSL, ist die Zulassung dieser Plattform ein großer Erfolg, da saRNA die Produktion von viel mehr Protein und stärkeren zellulären Immunreaktionen auslösen könne als eine entsprechende Menge mRNA.
Drew Weissman, der gerade für seinen Beitrag bei der Entwicklung von mRNA-Impfstoffen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, sieht in der selbstverstärkenden mRNA-Technologie das Potenzial für eine dauerhafte Impfstoffoption. So verwundert es nicht, dass neben BioNTech oder AstraZeneca auch noch viele andere Biotechnologieunternehmen intensiv an der Entwicklung von saRNA-Produkten arbeiten.
Obwohl angesichts einer offiziell für beendet erklärten Pandemie keine Grundlage für beschleunigte Verfahren bei der Arzneimittelzulassung mehr gelten sollten, wird eine Entscheidung über die Marktzulassung für ARCT-154 in Europa bereits für das kommende Jahr erwartet.
Während für die Entwicklung und Zulassung neuer Impfstoffe in der Vergangenheit oft zehn Jahre und mehr veranschlagt werden mussten, sind die Prozesse während der Corona-Pandemie offenbar dauerhaft beschleunigt worden. Ob die offenen Fragen über Wirksamkeit und mögliche Risiken der neuen Impfstofftechnologie vor einer möglicherweise weltweiten Marktzulassung geklärt werden, bleibt abzuwarten.
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