Wasserstoffziele der EU erfordern neue Zeitrechnung: 35 Stunden pro Tag, 530 Tage pro Jahr

Wasserstoff soll maßgeblich zur Dekarbonisierung der Energieversorgung beitragen, nicht nur als Speicher für grünen Strom, sondern auch als Rohstoff der Chemieindustrie und als Kraftstoff. Für die von der EU angestrebte Menge müssten die Produktionsanlagen 35 Stunden am Tag laufen – oder rund um die Uhr an 530 Tagen im Jahr.
Wasserstoff gilt als Hoffnungsträger der Energiewende.
Die EU scheint sich bezüglich Wasserstoff als Hoffnungsträger der Energiewende verrechnet zu haben.Foto: peterschreiber.media/iStock, Zuschnitt: ts/Epoch Times
Von 1. August 2024

Am 8. Juli 2020 teilte die Europäische Kommission mit ihrem Papier EU Hydrogen Strategy ihre Pläne zur europäischen Wasserstoffstrategie mit. Bis 2030 solle die Erzeugung von zehn Millionen Tonnen „grünen“ Wasserstoffs mithilfe von Elektrolyseuren gelingen, die eine elektrische Leistungsaufnahme von mindestens 40 Gigawatt (GW) aufweisen sollen.

Mit Meldung vom 17. Juni 2024, also fast auf den Tag genau vier Jahre später, teilt der Europäische Rechnungshof mit: „[D]ie EU [werde] ihre für 2030 gesetzten Ziele für Erzeugung und Import von erneuerbarem Wasserstoff voraussichtlich nicht erreichen.“ Gleichzeitig mahnten die Prüfer an, „die EU-Ziele einem Realitätscheck zu unterziehen“ sowie weiter:

Man müsse sicherstellen, dass diese sich auch verwirklichen ließen und dass die strategischen Entscheidungen über das weitere Vorgehen die Wettbewerbsfähigkeit der Schlüsselindustrien nicht beeinträchtigten oder neue Abhängigkeiten schaffen.“

Politik scheitert an Physik

Die Argumente des Europäischen Rechnungshofs werden im Bereich von Politik und Wirtschaft sicher zutreffen. Allerdings: Die Erreichung der Ziele ist allein schon aus trivial-physikalischen Gründen ausgeschlossen, folgt man dem technischen „Zahlenwerk“ der EU-Kommission:

Zehn Millionen Tonnen Wasserstoff beinhalten eine Energie von 333 Terawattstunden (TWh). Wasserstoff wird mit elektrisch betriebenen Elektrolyseuren erzeugt. Bei wirtschaftlichem Betrieb haben diese einen Wirkungsgrad von 65 Prozent. Somit erfordert dies eine jährliche Energieaufnahme aus „grünem“ Strom von rund 510 TWh (333 TWh : 0,65 = 512 TWh) bei einer Leistungsaufnahme von 40 GW.

In der Physik ist Energie gleich Leistung mal Zeit und ergibt durch Umstellen: Zeit ist gleich Energie durch Leistung. Somit benötigten die Elektrolyseure zur Darstellung der gewünschten Wasserstoffmenge 12.800 Stunden (512 TWh : 40 GW = 12.800 h). Erfahrungsgemäß hat ein Standardjahr allerdings nur 8.760 Stunden. Die Elektrolyseure müssten somit Tag und Nacht an 35 Stunden pro 24-Stunden-Tag Wasserstoff produzieren.

Zur besseren Einschätzung: Die Bundesnetzagentur postuliert für das Jahr 2045, dass Elektrolyseure in Deutschland vielleicht mit 3.000 Volllaststunden pro Jahr betrieben werden könnten, was einer durchschnittlichen Betriebsdauer von etwa acht Stunden pro Tag entspräche. Die EU-Kommission selbst geht an anderer Stelle von jährlich 3.700 Stunden aus, das entspricht gut zehn Stunden täglich.

Auch wenn die Elektrolyseure zukünftig acht oder zehn Stunden am Tag laufen, müsste das EU-Wasserstoff-Jahr etwa 1.300 bis 1.600 Tage aufweisen.

Fehler oder falsche Betonung

Über den Grund dieser offensichtlichen Fehlangabe lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise hat die EU-Kommission vergessen, den Wirkungsgrad von Elektrolyseuren zu berücksichtigen. Ginge man indes von surrealen 100 Prozent Wirkungsgrad aus, müssten die Elektrolyseure immer noch 8.325 Volllaststunden (333 TWh : 40 GW = 8.325 h) pro Jahr fortlaufend in Betrieb sein. Sie müssten also 95 Prozent eines Jahres Tag und Nacht Wasserstoff erzeugen. Ein ebenfalls utopischer Wert. Eine andere Erklärung: Jemand hat sich „vertippt“. In beiden Fällen hat jedoch offenbar niemand den Fehler bemerkt und alle handeln danach.

Die dritte mögliche Erklärung: Bei „mindestens 40 GW“ Elektrolyseleistung liegt die Betonung auf mindestens. So heißt es in dem EU-Papier auch, dass die Industrie das „ehrgeizige Ziel“ von 80 GW verfolge. Unter realistischen Annahmen ist auch dies zu wenig. Bei 65 Prozent Wirkungsgrad und jährlich 3.000 Volllaststunden erfordert die Produktion der angestrebten Menge Wasserstoff eine Leistungsaufnahme der Elektrolyseure von 170 Gigawatt (512 TWh : 3.000 h = 170,67 GW) und damit „doppelt ehrgeizige“ Ziele. Daran könnten auch EU-weit gemittelte 3.700 Volllaststunden wenig ändern.

2050 sollen in der EU jährlich bis zu 125 Millionen Tonnen Wasserstoff erzeugt werden. Dafür müsste die Stromerzeugung der Erneuerbaren auf das 25-Fache steigen.

2050 sollen in der EU jährlich bis zu 125 Millionen Tonnen „grüner“ Wasserstoff erzeugt werden. Dafür müsste die Stromerzeugung der Erneuerbaren auf das 25-Fache steigen. Foto: Markus Löffler

Stromverbrauch für Wasserstoff bis 2050 vervielfachen

Auf Basis ihrer Zahlen verkündete die EU-Kommission auch, dass die Leistung der Elektrolyseure bis zum Jahr 2050 auf 500 GW steigen solle. Das ist 12,5-mal höher als 2030. Dann würde laut EU-Kommission ein Viertel des 2050 erzeugten erneuerbaren Stroms in „grünen“ Wasserstoff umgewandelt werden. Eine weitere Dreisatzrechnung führt zu folgendem Befund: Wenn 40 GW Elektrolyseleistung 333 TWh Wasserstoff aus 512 TWh Strom erzeugen können, dann ließen sich mit 500 GW Elektrolyseleistung 4.163 TWh Wasserstoff (125 Millionen Tonnen) aus 6.400 TWh Strom erzeugen. Dafür wären wiederum 12.800 Volllaststunden jährlich nötig.

Da dies zugleich 25 Prozent der gesamten grünen EU-Stromerzeugung sein soll, müsste diese im Jahr 2050 somit 25.600 TWh/a betragen. Zum Vergleich: Der Stromverbrauch aller 27 EU-Staaten lag im Jahr 2023 bei 2.441 TWh bei einer Stromerzeugung von 2.403 TWh. Mit knapp über 1.000 TWh entfiel weniger als die Hälfte davon auf die Erneuerbaren.

Um 2050 ausreichend grünen Strom für die Elektrolyse zur Verfügung zu haben, müsste sich die Stromerzeugung der Erneuerbaren bis dahin auf das 25-Fache steigern. Gleichzeitig erfordert die Physik, dass diese Strommenge auch verbraucht wird, egal ob sofort oder später. Somit müsste sich auch der Stromverbrauch von gut 2.400 auf weit über 25.000 TWh mehr als verzehnfachen. Die Elektrolyse allein kann diese Menge nicht verbrauchen.

Unabhängig davon fußen die politischen EU-Aktivitäten in Bezug auf Wasserstoff der mindestens letzten vier Jahre offenbar auf fehlerhaft ermittelten technischen Grunddaten. Das ist mehr als nur bedauerlich. Angesichts dieser Zahlen sollte die EU-Kommission ihre Wasserstoffstrategie vollständig überarbeiten; nicht nur im politisch-juristisch-wirtschaftlichen Dickicht, sondern insbesondere auch bei den deutlich überschaubareren technischen Grunddaten. Nur wenn diese belastbar sind, lässt sich der personal- und kostenintensive Rest sachgerecht aufpfropfen. Dabei sollte gleichzeitig noch das Thema Wasserstoffspeicher in belastbare Zahlen gefasst werden, denn der Wasserstoff muss ja zwischenzeitlich noch irgendwo aufbewahrt werden.

Über den Autor

Prof. Dr.-Ing. Markus J. Löffler promovierte an der TU Braunschweig als Energietechniker. Als Professor für elektrische Energiesysteme leitete er von 1996 bis zu seiner Pensionierung im März 2023 das Labor für Hochspannungs- und Hochleistungspulstechnik an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen. Löffler lehrte zeitweise zusätzlich an der Helmut-Schmidt-Universität (Hamburg) sowie an der Vilniaus Gedimino Technikos Universitetas (Vilnius, Litauen). Seit 2018 befasst er sich für das Westfälische Energieinstitut in Gelsenkirchen schwerpunktmäßig mit der rechnerischen Auswertung und Interpretation von Daten zur Energiewende.



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