Türkei will in ein EM-Semifinale: Heimspielatmosphäre und Erdoğan-Besuch sollen helfen
In Heimspielatmosphäre wird am Samstag, 6. Juli, das vierte und letzte Viertelfinalspiel der EURO 2024 zwischen der Türkei und den Niederlanden in Berlin über die Bühne gehen. Die Bundeshauptstadt ist die Stadt mit der weltweit größten türkischen Diasporagemeinde. Der weit überwiegende Teil der Besucher im 74.000 Zuschauer fassenden Berliner Olympiastadion wird entsprechend im Lager der türkischen Mannschaft stehen.
Türkei sieht Sperre von Demiral als Ausdruck von Voreingenommenheit
Das Spiel hat an zunehmender Brisanz gewonnen durch die Sperre des zweifachen Torschützen vom Achtelfinale, Merih Demiral. Die UEFA hat ihn wegen seines „Wolfsgruß“-Jubels für zwei Spiele gesperrt. Dies war als „unangemessenes Verhalten“ gewertet worden. In der Türkei und in der türkischen Diaspora hat diese Entscheidung für böses Blut gesorgt.
Europäische Politiker und offenbar auch die UEFA sahen in der Geste eine Provokation und eine Referenz an die ultranationalistische türkische „Idealistenbewegung“. Die türkische Regierung und der türkische Fußballverband sehen den Wolfsgruß hingegen als rein kulturelle und historische Geste des Patriotismus. Auch Demiral selbst bestritt, eine „verdeckte Botschaft“ damit zum Ausdruck gebracht zu haben.
Der türkische Verband hat in einer Erklärung sein Bedauern über die Entscheidung zum Ausdruck gebracht. Er betrachtet die Entscheidung als Ausdruck der Voreingenommenheit und sieht eine Verbindung zur Renaissance rassistischer Bestrebungen in vielen Staaten der EU:
Regarding the Decision by UEFA about Turkish National Footballer Merih Demiral https://t.co/LhauxdhkJl pic.twitter.com/tyH9WzIs4B
— Turkish MFA (@MFATurkiye) July 5, 2024
Wolfsgrüße von tausenden Fans erwartet
Im türkischen Lager wirft man der UEFA auch vor dem Hintergrund anderer aktueller Ereignisse am Rande der Fußball-EM ein Messen mit zweierlei Maß vor. Zum einen wurde gegen den Engländer Jude Bellingham nach einer obszönen Geste im Achtelfinale gegen die Slowakei nur eine Bewährungsstrafe verhängt.
Zum anderen gibt es offenbar keine Reaktion des europäischen Fußballverbandes auf das Verhalten österreichischer Fans am Rande des Achtelfinales gegen die Türkei. Einige davon hatten im Stadion die in rassistischer Weise verballhornte Version des Discohits „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino intoniert. Fanklubs hatten sich in weiterer Folge von dem Auftritt distanziert.
Der Appell der Gewerkschaft der Polizei (GdP) an türkische Fans zum Verzicht auf den Wolfsgruß im Vorfeld des Viertelfinalspiels könnte vor diesem Hintergrund wirkungslos bleiben. Fanverbände und Nutzer sozialer Netzwerke hatten angekündigt, jetzt erst recht von der umstrittenen Geste Gebrauch zu machen.
Der GdP-Bundesvorsitzende Jochen Kopelke sprach im Kontext des K.-o.-Runden-Spiels von einem „Hochrisikospiel“. Dies stelle „unsere Kolleginnen und Kollegen vor besondere polizeiliche Herausforderungen“.
Erdoğan kurzfristig zum Besuch des Türkei-Spiels angemeldet
In Solidarität zu Demiral und zur Unterstützung der türkischen Elf hat sich kurzfristig sogar Präsident Recep Tayyip Erdoğan dazu entschlossen, zum Viertelfinale nach Berlin anzureisen.
Zuvor hatten die Türkei und Deutschland wechselseitig ihre Botschafter einbestellt.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte den Wolfsgruß als „Symbol türkischer Rechtsextremisten“ bezeichnet, der „keinen Platz in unseren Stadien“ habe. Es sei „komplett inakzeptabel“, so Faeser weiter, „die EM als Plattform für Rassismus zu benutzen“.
Erdoğan selbst hatte sich nicht direkt zu der Kontroverse geäußert. Mehrere seiner Minister und Sprecher der regierenden AKP hatten Faesers Aussagen hingegen scharf kritisiert. In sozialen Medien machen Hashtags wie #BeFairUEFA und #UEFAMafia die Runde. Türkische Nutzer sprechen Europäern unter Verweis auf deren Geschichte die Legitimation ab, Türken über Rassismus zu belehren.
You are a son of a bitch UEFA. The one who exploited Africa for years, committed genocide many times even within itself, You are a community that massacred Jews and Bosnians. Don’t try to lecture us on racism. We will teach you to respect your master again #BeFairUEFA #UefaMafia
— Mustafa Güven (@Musty61ts) July 6, 2024
TGD geht auf Distanz zu Wolfsgruß-Geste
Die der oppositionellen CHP nahestehende „Türkische Gemeinde in Deutschland“ (TGD) hat unterdessen die Geste von Demiral verurteilt. Die Vereinigung wies darauf hin, dass sich die Szenen am Jahrestag des Massakers türkischer Ultranationalisten an alevitischen Besuchern einer Autorenlesung im „Madimak“-Hotel in Sivas im Jahr 1933 abgespielt hätten. Zudem sei der Zeitpunkt angesichts von Ausschreitungen gegen syrische Flüchtlinge in der Türkei unangebracht.
Es hat leider keine fünf Minuten gedauert, bis ein türkischer Spieler die Freude über den hart erkämpften 2:1-Sieg mit dem rechtsextremen Wolfsgruß komplett zerstört hat. Und das am Jahrestag der Anschläge von Sivas und während Ausschreitungen gegen Geflüchtete in der Türkei.
— Türkische Gemeinde in Deutschland e.V. (TGD) (@tgd_att) July 3, 2024
Was den Erdoğan-Besuch anbelangt, mahnt der Verband jedoch zur Gelassenheit. Wenn dieser „medial wieder die ganz große Bühne bekommt, dann hilft uns das in Deutschland überhaupt nicht weiter“. Er sei, so die TGD auf X, „ein Staatsoberhaupt, das zum Spiel kommt, so wie alle anderen“.
Sportlich wird es für die Türkei, die zuletzt 2008 ein EM-Halbfinale erreicht hatte, nicht einfacher. Neben Demiral muss Trainer Vincenzo Montella auch Orkun Kökçü und İsmail Yüksek aufgrund von Sperren gegen die favorisierten Niederländer ersetzen. Voraussichtlich wird Spielmacher Arda Güler stärker in eine zentrale Position rücken, während Hakan Çalhanoğlu das Mittelfeld verstärken könnte. Als möglicher Ersatz für Demiral könnte Samet Akaydin aufgeboten werden.
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