Schmerzen der Scuderia: Ferrari-«Dynamik nicht akzeptabel»
Mattia Binotto setzte sich auf einen roten Stuhl und rollte immer weiter nach hinten – bis der Teamchef des schwer kriselnden Formel-1-Rennstalls Ferrari mit dem Rücken zur Wand saß.
Vermutlich war sich der 50-Jährige der Symbolhaftigkeit gar nicht bewusst, als er dort hockte bei der Videokonferenz in einem winzigen Raum im Motorhome der Scuderia auf dem Hungaroring zwischen seinen beiden enttäuschten Fahrern Sebastian Vettel und Charles Leclerc. Beide waren zuvor beim Großen Preis von Ungarn vom überragenden Lewis Hamilton im Mercedes sogar überrundet worden – Höchststrafe. Sehr schmerzlich sei das „für uns und unsere Fans“, gab Binotto zu.
Die ersten drei Rennen sind aus Ferrari-Sicht überstanden, schlimmer noch als befürchtet. Grund zur Freude brachte der Neustart nicht. Die Marke aus Maranello, die sich im Winter noch so auf den 1000. Grand Prix ihrer so ruhmreichen Historie in der Motorsport-Königsklasse in diesem Jahr gefreut hatte, rätselte auch nach ihrem 994. WM-Lauf über den SF1000 und dessen Potenzial.
Vettel wurde Sechster – seine beste Saisonplatzierung. Leclerc mühte sich als Elfter ins Ziel – nicht mal ein Punkt. „Unsere Normalität ist nicht gut genug“, betonte Vettel auf seiner quälenden Abschiedstournee. Ein paar Tage Vettel’sche Lebensnormalität bei seiner Familie in der Schweizer Wahlheimat dürften ihm nun gut tun. Nach den drei Stresswochen ist am kommenden Wochenende rennfrei, ehe es zum Doppelpack nach Silverstone geht – zu den Heimrennen von Formel-1-Herrscher Hamilton.
Fast zwangsläufig wissen auch die beiden Ferrari-Piloten, dass sie diesen Hamilton auf dem Weg zum siebten WM-Triumph in der Corona-Notsaison nicht aufhalten werden. Auf die Frage, wie der 35-Jährige überhaupt noch davon abzuhalten sei, antworte Vettel: „Wenn Valtteri Weltmeister wird.“ Gemeint war Hamiltons Teamkollege Bottas, doch auch den hat der 86-malige Grand-Prix-Gewinner und 90-malige Polesetter nach dessen Auftaktsieg schon wieder im Griff.
„Das Auto und der Motor sind ein bisschen ein Biest, genau was wir brauchten. Es ist ein Auto, das Fahrer mögen.“ Worte von Toto Wolff, dem Mercedes-Teamchef zum immer noch schwarz lackierten Silberpfeil, von dessen Qualität der Ferrari meilenweit entfernt ist.
„Wir können die Lücke erst dann schließen, wenn wir verstanden haben, warum unser Auto so langsam ist“, kommentierte Binotto. Und dazu soll alles und jeder nach der Rückkehr in die Heimat offensichtlich auf den Prüfstand kommen. Binotto sagte: „Jeder wird seine Arbeit analysieren und den Mut haben müssen, den Kurs zu wechseln, wenn das notwendig ist, denn die aktuelle Dynamik ist nicht akzeptabel.“
Es gebe keine andere Lösung, „um diese Situation in den Griff zu kriegen“. Im Detail äußerte sich Binotto nicht dazu. „Rollen Köpfe?“, fragte aber bereits „La Gazzetta dello Sport“ und gab sich selbst die spekulative Antwort: „Ja, wenn es bedeutet, dass die verschiedenen Abteilungen besser funktionieren.“
Als Teamchef ist Binotto selbst maßgeblich verantwortlich für das, was der Rennstall bisher zeigte – von enttäuschenden Ergebnissen bis zu teaminternen Karambolagen und dem frühen Ausfall beider Wagen beim zweiten Rennen in Spielberg.
Seit Januar 2019 ist er Ferrari-Teamchf. Der Maschinenbau-Ingenieur löste damals den ehemaligen Zigaretten-Manager Maurizio Arrivabene ab und sollte die Scuderia zum ersten Fahrertitel seit 2007 (Kimi Räikkönen) führen. 2020 belegen Leclerc und Vettel aktuell die WM-Ränge 7 und 10. Im Team-Klassement ist Ferrari Fünfter und damit graues Mittelmaß: Ein Teamchef mit dem Rücken zur Wand. (dpa)
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