Joachim Löw als Galionsfigur in großer Gehaltsdebatte
Ob Joachim Löw oder Hans-Joachim Watzke jemals Werke von Albert Camus gelesen haben, ist nicht bekannt. Vom französischen Philosophen – ein Hobby-Torwart – ist aus den 1950er Jahren der Satz überliefert: „Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball.“
Nach dem eindringlichen Appell und den tiefsinnigen Worten des Bundestrainers zur Coronavirus-Pandemie ist klar, dass der Profi-Fußball gerade viel von Löw über Moral und Verpflichtungen lernen kann. Aber womöglich auch von Borussia Dortmunds Geschäftsführer Watzke.
Mit ihren Überlegungen zu einem Gehaltsverzicht haben Löw und DFB-Direktor Oliver Bierhoff ein Signal an die plötzlich ängstliche Glitzerbranche gegeben. Die Nationalspieler versprachen zudem per kollektiver Videobotschaft eine Spende von 2,5 Millionen Euro für Leidtragende der sich weiter rasant ausbreitenden Infektionswelle, die auch ihren Sport derzeit zum Erliegen bringt.
Wenig später berichtete der „Kicker“, dass Watzke auf ein Drittel seines Gehalts verzichten wolle, so lange die Bundesliga pausiert. Ein fehlendes Verantwortungsgefühl und kühler Kapitalismus waren dem 60 Jahre alten BVB-Chef zuvor vorgehalten worden, nachdem er in ersten Reaktionen auf die Corona-Krise pauschale Solidarität für durch die Zwangspause in ökonomische Schieflage geratene Vereine abgelehnt hatte.
Löw war bei seinem ersten öffentlichen Auftritt moralischer Antipode zu Watzke. „Denn der Mensch denkt immer, dass er alles weiß und alles kann und das Tempo, das wir so die letzten Jahre vorgegeben haben, war nicht mehr zu toppen. Macht, Gier, Profit, noch bessere Resultate, Rekorde standen im Vordergrund“, postulierte der ebenfalls 60-jährige Löw.
Am 19. März teilte Borussia Mönchengladbach als erster deutscher Fußball-Proficlub mit, dass seine Spieler auf Teile ihres Gehalts verzichten werden. „Der Trainerstab hat sich dem angeschlossen, genau wie unsere Direktoren und Geschäftsführer“, sagte Sportchef Max Eberl. Nach Informationen der „Rheinischen Post“ soll deutlich mehr als eine Million Euro pro Monat gespart und somit das Einkommen anderer Angestellter des Clubs gesichert werden. „Ich bin sehr stolz auf die Jungs“, sagte Eberl. Andere Clubs werden diesem Beispiel sicher folgen.
Es mag Zufall gewesen sein, dass Löw sich nur wenige Stunden vor der TV-Ansprache der Bundeskanzlerin ans (Fußball)-Volk richtete. Mit Angela Merkel verbindet ihn seit Jahren ein Vertrauensverhältnis. Des Öfteren war er schon im Bundeskanzleramt und bekam dort zum Essen auf besonderen Wunsch Cordon bleu mit Pommes frites. Wie Merkel („Es ist ernst.“) brachte auch Löw am Mittwoch die Dinge auf den Punkt: „Die Welt hat irgendwie ein kollektives Burn-out erlebt.“
In fast 14 Jahren als Bundestrainer hat Löw viele schwere Situationen erlebt. Der Suizid von Nationaltorwart Robert Enke 2009, die Nacht in den Katakomben des Stade de France nach den Anschlägen von Paris 2015. Kraftvolle wie wegweisende Worte fand er dann, wenn er nicht auf seine genuine Aufgabe als Bundestrainer fokussiert war. In der Erdogan-Affäre 2018 um Mesut Özil und Ilkay Gündogan gelang ihm – schon im WM-Tunnel – das auch nicht.
Im Gegensatz zu Watzke und den anderen Club-Chefs ist Löw in einer einfacheren Position. Er steht als (sehr) prominenter Mensch in der Verantwortung, nicht aber als Führungskraft eines Unternehmens mit Millionen-Umsatz und vielen Mitarbeitern, die deutlich weniger verdienen als die Spieler und bei einem Konkurs schlecht dran wären. Löw kann als Freigeist von Freiburg gesellschaftliche Anstöße geben – und ist damit möglicherweise erfolgreicher und derzeit wichtiger denn als Bundestrainer.
Aus dem Rentenstand meldete sich Bayern Münchens Triple-Trainer Jupp Heynckes zu Wort. „Deshalb rufe ich auch die Spieler dazu auf, sich ebenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht solidarisch und partnerschaftlich zu zeigen. Sie müssen wissen, dass sie und ihre Berater nicht mehr bestimmen, wie viel Geld sie verdienen, wenn das jetzige System zerbricht. Verträge in diesen Größenordnungen gibt es dann nicht mehr“, schrieb der 74-Jährige in einem Gastbeitrag des „Kicker“ und redete den Profis ins Gewissen.
„Dieser Tage telefonierte ich mit einem Freund, er ist 95 Jahre alt und zutiefst besorgt. Er hat den Zweiten Weltkrieg und – wie ich – die Nachkriegszeit erlebt, den Hunger, die Nöte, den Wiederaufbau und das damalige Gemeinschaftswerk. Eine solche Solidarität brauchen wir jetzt wieder“, forderte Heynckes.
Wie leicht die ganze Branche in Schieflage geraten kann, hatte schon die Pressekonferenz von Liga-Boss Christian Seifert zuvor demonstriert. So nachdenklich und förmlich weich hatte man den Top-Manager noch nie gesehen. Insolvenzen, Kurzarbeit – ja, Kollaps. Diese Worte waren für den Profi-Fußball fremde Vokabeln.
Als Erster hatte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder der Glitzerwelt des Profi-Fußballs ins Gewissen geredet. Der CSU-Politiker sagte, er fände es in Ordnung, wenn viele derjenigen Spieler, „die ganz große Gehälter bekommen“, ihren Arbeitgebern gegenüber nun etwas zurückhaltender wären.
Die Clubs sind aber auf den Goodwill der Spieler angewiesen. „Einseitige Gehaltskürzungen sind nicht möglich“, sagte Arbeitsrechtler Lennard Martin Lürwer der Deutschen Presse-Agentur. Auch Gehaltsstundungen oder die Durchsetzung von Kurzarbeit gehen nur über eine „individuelle Vereinbarung mit dem Spieler“.
Camus musste wegen einer Tuberkulose-Erkrankung das Fußballspielen aufgeben. „Ich begriff sofort, dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet. Das war eine Lektion fürs Leben“, schrieb der Literaturnobelpreisträger. Auch Löw und Watzke würden diese Ansicht derzeit sicher teilen. (dpa)
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