Zwischen Ampel und AfD: Die CDU auf der Suche nach einer neuen Identität
Steht die Union kaum zehn Tage nach ihrem „kleinen Parteitag“ schon wieder vor einer neuen Richtungsdebatte? Bundesweit stellen CDU und CSU gemeinsam mit 27,3 Prozent bei der „Sonntagsfrage“ derzeit noch immer die stärkste Kraft: Rund acht Prozentpunkte Vorsprung vor der AfD (19,4 Prozent) stehen noch zu Buche. INSA und Kantar sehen die „Alternative“ sogar bei 20 Prozent.
Eine Ansage von CDU-Chef Friedrich Merz aus dem Jahr 2018, die Wählerschaft der AfD halbieren zu wollen, ist damit nicht aufgegangen: Seit Wochen legt die blaue Partei bei Umfragen beinahe im Wochentakt zu, und am 25. Juni setzte sich ein AfD-Mann im thüringischen Landkreis Sonneberg erstmals gegen die Phalanx sämtlicher älterer Parteien durch.
Merz: Politik der Bundesregierung schuld an AfD-Aufschwung
Merz hatte bereits zwei Tage vorher eingeräumt, die einst angestrebte Halbierung der AfD doch nicht schaffen zu können. Die Verantwortung dafür lud Merz laut „Welt.de“ auf „die Politik der Bundesregierung“ ab. Gleichwohl aber sieht er in deren Parteien den möglichen Kooperationspartner von morgen. Auf keinen Fall würde sich die Union unter Merz mit der AfD zu einem konservativen Bündnis zusammenschließen: Merz‘ „Brandmauer“ steht. Kein CDU-Landesverband weit und breit, der es wagen würde, an dem Dogma zu kratzen.
Selbst Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) macht da keine Ausnahme, auch wenn die AfD ihm als mittlerweile stärkste Landespartei im Nacken sitzt: Das „Institut Wahlkreisprognose“ maß am 12. Juni 32,5 Prozent für die „Alternative“ in Sachsen, Tendenz leicht steigend. Beim derzeitigen Stand der Dinge würde Kretschmers CDU (30,0 Prozent) wohl kaum um ein erneutes Dreierbündnis mit SPD (10,0) und Grünen (7,0) herumkommen. Wenn nicht sogar noch die Linke (9,0) oder die FDP (5,0) mit ins Boot müsste.
Söder: Klares Nein zu Grün
Während Merz sich laut „Bild.de“ erst kürzlich vor die Grünen stellte, nachdem der Fraktionskollege Klaus-Peter Willsch sie als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnet hatte, lehnt CSU-Chef Markus Söder die Grünen als Partner strikt ab. In Bayern würde zur Landtagswahl am 8. Oktober 2023 auch die Fortsetzung des Bündnisses mit den „Freien Wählern“ als Alternative zur „Alternative“ genügen: Freie-Wähler-Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger hatte auf einer Großdemo in Erding zuletzt mit AfD-nahen, antigrünen Positionen viel Beifall erhalten, während Söders inhaltlich ähnlich kritische Rede in Pfiffen unterzugehen drohte.
Aiwanger sieht übrigens kein Muss für eine Brandmauer gegen die AfD: „Sie funktioniert schlichtweg nicht, weil die CDU kein konservatives Profil mehr hat“, sagte er Mitte Juni im Interview mit der „Bild am Sonntag“.
Schwarz & Grün schon in sechs Bundesländern
In der Tat hat die CDU in den übrigen Bundesländern längst kein grundsätzliches Problem mit den Grünen mehr: In Baden-Württemberg, Hessen, Schleswig-Holstein, Sachsen und Brandenburg herrschen schon heute entsprechende Zweier- oder Dreierbündnisse. Auch im bevölkerungsstärksten Bundesland Nordrhein-Westfalen regiert mit Ministerpräsident Hendrik Wüst ein CDU-Mann an der Spitze einer schwarz-grünen Koalition. Wüst schließt nach einem Bericht der Coburger „Neuen Presse“ eine eigene Kanzlerkandidatur nicht aus, positioniert sich bislang aber Merz-treu. Klar ist derzeit nur eines: Wer außerhalb Bayerns auf keinen Fall mehr Grüne in Regierungsverantwortung haben will, kann sein Wahlkreuz nicht guten Gewissens bei der Union setzen.
Und wenn es bundesweit für die CDU mit den Grünen 2025 vielleicht gar nicht reichen sollte? Noch stehen die Grünen bundesweit stabil bei Werten zwischen 13 und 16 Prozent. Die Linken fallen wegen eines noch immer bestehenden, laut MDR aber umstrittenen Unvereinbarkeitsbeschlusses der Union von vorneherein aus der Rechnung – unabhängig davon, ob sie einen Wiedereinzug schaffen oder nicht.
Die FDP ist aus Unionssicht zwar nicht tabu, könnte aber angesichts von aktuellen Umfragewerten knapp unter sieben Prozent im Wahljahr ebenfalls aus dem Rennen sein. Dann bliebe wohl wieder nur die SPD. Entweder als erneuter „GroKo“-Partner wie in den Merkeljahren oder als Mehrheitsbeschaffer in einer schwarz-rot-grünen „Kenia-Koalition“.
NRW-Innenminister Reul: „Klugschwätzer in der Politik“
Doch mit der Kanzlerpartei haben so manche CDU-Leute ihre Probleme. Herbert Reul beispielsweise, der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, ließ erst vor wenigen Tagen seinem Ärger über Bundesinnenministerin Nancy Faesers (SPD) Ideen zur Clankriminalitätsbekämpfung freien Lauf: „Diese Klugschwätzer in der Politik richten das größte Unheil an, weil die Menschen einfach das nicht mehr hören können“, schimpfte Reul.
Faeser habe bislang keinen „einzigen Vorschlag“ zur Besserung der Lage gemacht, geschweige denn irgendetwas realisiert. Er selbst wolle aber kein „Handlanger“ für „Wahlkampfkonzepte“ Faesers sein und habe „keine Lust auf Show“ (Video ab ca. 5:30 Min. beim WDR).
Migrationsprobleme unbewältigt
Überhaupt offenbart der Umgang mit Clankriminellen oder mit dem ungebremsten Flüchtlingsandrang ein weiteres Dilemma der Union: Es war die CDU unter Kanzlerin Angela Merkel, die die Grenzen 2015 für jedermann geöffnet hatte. Von Anfang an mitgetragen von Spitzenpolitikern der CDU, ihrer Bundestagsfraktion und vom damaligen Regierungspartner SPD.
Nun allein Sozialdemokraten oder Grüne für die aktuellen Zustände in Deutschland zu kritisieren, erscheint vielen Beobachtern wohlfeil. Und an der Basis stöhnen auch CDU-Landräte und Kommunalpolitiker schon lange ob der kaum noch unterzubringenden und zu finanzierenden Menschenmassen.
Erst vor wenigen Tagen konnte sich sogar Friedrich Merz persönlich das Klatschen nicht verkneifen (Video auf „YouTube“), als die unionsaffine Olympiasiegerin und Polizistin Claudia Pechstein beim CDU-Grundsatzkonvent unter anderem die Abschiebung von 300.000 Personen ohne Bleiberecht und das Ende der „Gendersternchen“ anregte – beides AfD-Positionen.
Zwischen Baum und Borke
Auch wenn nun vor allem von Angehörigen der Ampelparteien eine Debatte darüber entbrannt ist, ob Pechstein ihre Meinung überhaupt öffentlich in Uniform hätte kundtun dürfen: Die Union tut sich offenbar schwer mit ihrem Kurs zwischen Ampel und AfD.
Grüne ja, aber bitte nicht in Bayern; weg vom „hohen moralischen Ross“ der Grünen und ihrem „völlig verkorkste[n] Gebäudeenergiegesetz“, aber bloß nicht weg vom „Klimaneutralitätsziel“ 2045 und schon gar nicht von den Grünen als Option 2025, wie die „Süddeutsche“ schon im Mai herausgearbeitet hatte.
Auf der anderen Seite will sich die CDU unter Merz als konservative Partei erneuern, aber bitte nicht zu laut und auf gar keinen Fall so konsequent und klar wie die verhasste AfD. Nach einem Artikel in der „Welt“ besteht Merz‘ Strategie nun darin, der AfD einen „klaren Kurs mit Maß und Mitte“ entgegenzuhalten.
AfD im Aufwind
Die „Alternative für Deutschland“ braucht auf solche Schattierungen keine Rücksicht zu nehmen: Ihre Forderungen nach einer anderen Migrations- und Verteidigungspolitik, gegen die Aufgabe souveräner Rechte zu Gunsten der EU, nach einem Aus für die Energiewende, für ein Zurück zur Atomkraft, für ein Ende der „Deindustrialisierung“ und für die Stärkung des Mittelstands gehören seit Gründung der Partei zu jenen Überzeugungen, denen Bundessprecherin Alice Weidel erst vor Kurzem im Bundestag wieder breiten Raum verlieh (Video auf „Bundestag.de“). Weidel kündigte zudem in einem Interview mit RTL/ntv an, bei der nächsten Wahl erstmals einen eigenen Kanzlerkandidaten stellen zu wollen.
„Layla“: Günther demonstriert Volksnähe
Zu welchen Anstrengungen manche Christdemokraten zurzeit bereit sind, um nicht weiter auf der Stelle zu treten, bewies Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther jüngst auf der Kieler Woche: Volksnah performte er auf der Bühne des „Bayernzelts“ den Partysong „Layla“, jenen umstrittenen Sommerhit, von dem Günther laut „Bild.de“ noch im Sommer 2022 gesagt hatte, ihn nicht auf seiner eigenen Party spielen zu wollen (Video auf „Twitter“).
Nach einem aktuellen Artikel der „Neopresse“ stellte sich Günther auch schützend vor Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) – wegen der despektierlichen Wortwahl, die manche CDU-Angehörige diesem gegenüber verwendeten: „Grundsätzlich sollten wir gegenseitige unsachliche Anschuldigungen tunlichst vermeiden“, so Günther.
Wie lange hält die Brandmauer noch?
So weit der Blick in den Bund und die Länder. Je tiefer es aber gerade in den östlichen Regionen Deutschlands in die Ebenen der Kreis- und Kommunalpolitik geht, könnte die christdemokratische „Brandmauer“ gegen die AfD eines Tages nicht mehr zu halten sein. Mit Michael Brychcy, dem Präsidenten des Thüringer Gemeinde- und Städtebunds, hatte sich ein Christdemokrat bereits für Gespräche mit der AfD auf kommunaler Ebene ausgesprochen.
Und hatte nicht sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) vor Kurzem eine mehr auf Interessenausgleich und Verständigung ausgerichtete Streitkultur angemahnt? Mehr „Geduld und Verständnis […] für denjenigen“ gefordert, „der eine andere Meinung vertritt“?
Viel zu tun gibt es also für die Union bis zum Mai 2024. Bis dahin nämlich will die CDU ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet haben, rechtzeitig vor der EU-Wahl. Die Federführung über den Prozess liegt bei CDU-Parteivize Carsten Linnemann.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion