Türkei droht Syrien mit weiterem Militäreinsatz und fordert NATO-Hilfe an

Die weitere Zuspitzung der Lage in Idlib droht nun auch Folgen für Europa zu entfalten. Die Türkei soll in Anbetracht des Migrationsdrucks aus der Region ihre Sicherheitskräfte zur Zurückhaltung aufgefordert haben, sollten Flüchtlinge versuchen, in die EU zu gelangen.
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Türkische Polizisten bewachen die Straße zur russischen Botschaft in Ankara am 28. Februar 2020.Foto: ADEM ALTAN/AFP über Getty Images
Von 28. Februar 2020

Die anhaltende Eskalation in der syrischen Provinz Idlib droht nicht mehr nur das Astana-Format infrage zu stellen. Auch das Abkommen zwischen der EU und der Türkei über den Umgang mit Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak aus dem Jahr 2016 steht vor dem Aus.

Am Donnerstag (27.2.) starben mindestens 33 türkische Soldaten und Dutzende weitere wurden verletzt, als Truppen der Regierung in Damaskus einen Militärkonvoi in der nordwestsyrischen Provinz Idlib bombardierten. Die verwundeten Soldaten wurden, wie der dortige Gouverneur Rahmi Doğan bestätigte, zur Behandlung in Krankenhäuser in der türkischen Grenzprovinz Hatay gebracht. Die Zeitung „Hürriyet“ berichtete.

Idlib gilt seit September 2018 als Deeskalationszone

Im September 2018 hatten die Türkei und die Russische Föderation als Parteien des 2017 gebildeten Astana-Formats vereinbart, Idlib zu einer Deeskalationszone zu erklären. Die Provinz war erst Rückzugsort protürkischer und islamistischer Rebellengruppen, nachdem es der syrischen Armee und deren Verbündeten gelungen war, zuvor im Laufe des Krieges verlorene Städte von diesen zurückzuerobern.

In der Deeskalationszone sollten der Vereinbarung zufolge jedwede aggressive Akte unterbleiben. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich neben verbliebenen Rebellengruppen, sofern Ankara diese nicht in seine als solche bezeichnete „Antiterror-Offensive“ gegen die Kurdenmiliz YPG im Norden des Landes integrierte, derzeit auch vier Millionen Zivilisten dort befinden. Unter ihnen sind auch hunderttausende Binnenflüchtlinge, die im Laufe der Jahre seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts im Jahr 2011 in die Provinz geflohen waren.

Dennoch haben Regierungstruppen und die seit 2015 an deren Seite agierende russische Luftwaffe auch nach Inkrafttreten des Abkommens über die Deeskalationszone mehrfach Angriffe gegen Positionen der Rebellen in Idlib geflogen. Dabei soll es mehr als 1300 zivile Todesopfer gegeben haben.

Wechselseitige Vorwürfe von „Kriegsverbrechen“ – und immer mehr Flüchtlinge an der Grenze

Russische Quellen und solche der Regierung in Damaskus hatten schon in der Zeit der Schlacht um Aleppo im Jahr 2016 erklärt, zivile Opfer würden von Rebellen in Kauf genommen, weil diese militärisch legitime Ziele in unmittelbarer Nähe ziviler Ziele positionierten und Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbrauchten. Die Türkei und westliche Länder hingegen beschuldigten die Führung unter Staatschef Baschar al-Assad und deren Verbündete, humanitäres Völkerrecht in ihrer Kriegsführung außer Acht zu lassen und keine ausreichenden Vorkehrungen zum Schutz von Zivilisten zu treffen.

Infolge der wieder aufgeflammten Kampfhandlungen in der Provinz Idlib haben bereits mehr als 1,7 Millionen Syrer Zuflucht nahe der türkischen Grenze gesucht. Seit Ausbruch des Krieges im Jahr 2011 hat die Türkei bereits etwa 3,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak aufgenommen und ist damit zum weltgrößten Zufluchtsort für Schutzsuchende geworden.

In Teilen der türkischen Bevölkerung ist im Laufe der Jahre die ursprünglich hohe Bereitschaft zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge abgeebbt. Die Regierung in Ankara hatte zu Beginn des bewaffneten Konflikts im Nachbarland im Zuge des „Arabischen Frühlings“ noch erwartet, dass es zeitnah gelingen werde, die Regierung in Syrien zu stürzen und die Flüchtlinge wieder zurückzuführen. Diese Erwartung erfüllte sich nicht. Stattdessen stieg die Zahl der Schutzsuchenden stetig an und ihr Aufenthalt in der Türkei verfestigte sich.

EU soll Verpflichtungen aus Flüchtlingsdeal nicht erfüllt haben

Die nunmehr drohenden weiteren Fluchtbewegungen in Richtung Türkei haben nun dazu geführt, dass die Regierung in Ankara seine Politik gegenüber Europa modifiziert. Bereits mehrfach hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den vergangenen Monaten gewarnt, er werde die Grenzen in Richtung EU öffnen, sollte die Lage in Idlib den Migrationsdruck auf sein Land eskalieren lassen und Brüssel seinen finanziellen Verpflichtungen aus dem Flüchtlingsdeal von 2016 nicht nachkommen.

Das der Regierung in Ankara nahestehende deutsch-türkische Nachrichtenportal „nex24“ schrieb bereits am Donnerstagabend, die Türkei habe de facto ihre Grenzen in Richtung EU wieder geöffnet. Wie auch Reuters zitiert, soll die Regierung in Ankara Polizei, Küstenwache und Grenzschützer angewiesen haben, sich zurückzuhalten, sollten Flüchtlinge den Versuch unternehmen, sich von türkischem Boden aus über den Land- oder Seeweg weiter in Richtung EU zu bewegen.

Die Nachrichtenagentur Anadolu zitierte bereits gestern den Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP, Ömer Celik, mit den Worten:

Unsere Flüchtlingspolitik ist dieselbe, aber hier haben wir eine Situation. Wir können die Flüchtlinge nicht mehr halten.“

Türkei erklärt, an Abkommen festhalten zu wollen

Nex24 zitiert den türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoğlu, der erklärte, dass die EU weder ihre finanziellen noch ihre sonstigen Zusagen eingehalten habe, die Teil des „Flüchtlings-Deals“ vom März 2016 gewesen seien. Von insgesamt zugesagten sechs Milliarden Euro zur Verbesserung der Lebensbedingungen für Flüchtlinge in der Türkei seien demnach bis Juni 2019 erst 2,22 Mrd. Euro ausgezahlt worden.

Die EU bestritt in der Vergangenheit wiederholt Darstellungen, sie habe ihre finanziellen Verpflichtungen gegenüber Ankara nicht erfüllt. Cavusoğlu spricht jedoch auch von Nebenabreden wie der Erweiterung der Zollunion oder eines neuen Kapitels der EU-Beitrittsverhandlungen – die ebenfalls nicht eingehalten worden wären. „Schon allein aus den Gründen […] hätten wir unsere Grenzen öffnen können“, erklärte der Minister. Dennoch wolle die Türkei an dem Abkommen festhalten.

Allerdings hat die Türkei nun auch eine Anrufung des Nordatlantikrates ins Spiel gebracht. Am heutigen Freitag wird das NATO-Gremium zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen. Die Türkei habe um das Treffen der 29 NATO-Botschafter nach Artikel 4 der NATO-Verträge gebeten, teilte das Militärbündnis in Brüssel mit. Jedes Mitglied kann eine solche Dringlichkeitssitzung beantragen, wenn es seine „territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit“ gefährdet sieht.

Ankara will die NATO einschalten

Angesichts der militärischen Eskalation in Syrien forderte die Türkei internationalen Beistand. Die Weltgemeinschaft müsse „handeln, um Zivilisten zu schützen“ und eine Flugverbotszone in Idlib einrichten, schrieb der Kommunikationschef der türkischen Präsidentschaft, Fahrettin Altun, im Kurzbotschaftendienst Twitter. Altun zufolge würden „Millionen Zivilisten“ in Nordwestsyrien bereits „seit Monaten“ bombardiert.

Die syrischen Regierungstruppen griffen Schulen und Krankenhäuser „systematisch“ an. Es handele sich um einen „Völkermord“ und „demografische und ethnische Säuberung“. Die Regierung des syrischen Staatschefs Baschar al-Assad ziehe seit Jahren Nutzen aus dem „internationalen Schweigen zu ihren Verbrechen“.

Die Türkei reagierte ihrerseits mit Vergeltungsangriffen, bei denen am Freitag 16 syrische Soldaten getötet wurden, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte. NATO-Chef Jens Stoltenberg rief zur Deeskalation auf. In einem Telefonat mit dem türkischen Außenminister verurteilte er jedoch auch die „willkürlichen“ Luftangriffe der syrischen Armee und ihrer Verbündeten.

Ultimatum an Regierung in Damaskus

Der türkische Präsident Erdoğan hat wiederholt mit einem weiteren Militäreinsatz gedroht, sollte sich die syrische Armee nicht aus der Deeskalationszone zurückziehen. Ein entsprechendes Ultimatum in Richtung syrische Regierung soll Ende Februar auslaufen. Gleichzeitig verhandelt die Regierung in Ankara weiter mit Russland.

Im Norden des Landes führt die Türkei bereits seit dem Vorjahr eine Militäroperation, die das Ziel verfolgt, die Kurdenmiliz YPG auf Distanz zur türkischen Grenze zu halten. Die Miliz gilt als syrischer Arm der terroristischen „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK), die seit Mitte der 1980er Jahre einen Krieg gegen die türkische Regierung, ihre Sicherheitskräfte und gegen Zivilisten führt, die die Kooperation mit ihr verweigern.

Bereits damals hatte die türkische Regierung eine mögliche Anrufung der NATO ins Spiel gebracht. Dass die NATO jedoch zugunsten der Türkei militärisch in Syrien eingreifen würde, erschien bereits damals als unwahrscheinlich.

Immerhin geht einem solchen Beschluss regelmäßig ein Konsultationsprozess voraus, im Zuge dessen andere Mitglieder auch Einwände vorbringen könnten. So könnte die erforderliche Einstimmigkeit in der NATO etwa daran scheitern, dass Mitgliedstaaten der Türkei eine Mitschuld an der Eskalation geben, weil diese sich nicht an Mahnung anderer Staaten zur Zurückhaltung gehalten habe. Im Fall der Astana-Vereinbarung ist zudem damit zu rechnen, dass einige Regierungen von NATO-Mitgliedsländern auch argumentieren werden, die Türkei habe einen Alleingang vollzogen, indem sie ohne Abstimmung mit der NATO in ein eigenes Streitbeilegungsformat mit Russland und dem Iran eingetreten sei.

Bündnisfall gilt als unwahrscheinlich

Doch selbst wenn es eine einstimmige Feststellung zum NATO-Bündnisfall gäbe, bliebe es dennoch jedem NATO-Mitglied selbst überlassen, zu bestimmen, in welcher Weise man seiner Beistandsverpflichtung beikommen wolle. Dies könnte theoretisch auch durch eine bloße Parlamentsresolution oder die Lieferung von Sanitätsequipment geschehen. Eine unbedingte Pflicht zur Teilnahme an militärischen Kampfhandlungen besteht nicht.

Zudem sind die Anforderungen an ein Vorliegen des Bündnisfalls bis dato sehr hoch gehalten. Er wurde bislang nur einmal in der Geschichte ausgerufen, nämlich als Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001. Auch dieser Beschluss hatte damals eher symbolischen Charakter.

Die „Operation Enduring Freedom“ gegen Al-Kaida und die Taliban in Afghanistan, die als Teil des „Kriegs gegen den Terror“ von den USA und ihren Verbündeten schon einen Tag zuvor in Angriff genommen wurde, stützte sich nicht auf das NATO-Statut, sondern auf die Resolution 1368 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.
(Mit Material von AFP)



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