Namibias DDR-Kinder: Fremdsein im eigenen Land

Für die Kinder aus Namibia war es eine Riesenchance. Eine sozialistische Ausbildung in Ostdeutschland. Damit sollten sie zur Elite eines freien Namibias werden. Doch die Weltgeschichte machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.
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Die 45-jährige Namibierin lacht, wenn sie sich an ihre ersten Wochen in Bellin erinnert: «Am Anfang haben wir Zahnpasta gegessen, weil sie so lecker war.Foto: iStock
Epoch Times9. August 2018

In Namibia wird Andrew Imalwa als Deutscher betrachtet, doch für die Deutschen ist er ein Namibier. Die Frage nach seiner Identität verfolgt ihn seit Jahrzehnten. Die Weltgeschichte hat seine Kindheit durchgeschüttelt. Andrew wurde als kleiner Junge von den namibischen Freiheitskämpfern ausgewählt, um bei den sozialistischen Verbündeten in der DDR ausgebildet zu werden. Als er sich in der neuen Welt zurecht gefunden hatte, wurde diese wieder auf den Kopf gestellt: Deutschland wurde wiedervereinigt.

Der 38-Jährige wurde als namibischer Flüchtling in einem Lager in Sambia geboren. Dort begann sein Weg nach Ostdeutschland. „Es war so“, sagt er auf Deutsch. „Wir wurden einfach ausgewählt, du, du und du – die Kinder kamen dann mit.“ Er war zwei Jahre alt; seine Mutter war gestorben, sein Vater unbekannt. Er verstand nicht, was mit ihm geschah. So erging es auch rund 400 weiteren namibischen Kindern, die nach und nach aus dem südlichen Afrika in das Kinderheim Bellin in Mecklenburg-Vorpommern oder eine Schule in Sachsen-Anhalt geschickt wurden. Sie sollten mit deutscher Disziplin und einer sozialistischen Ausbildung zur Elite eines freien Namibias herangezogen werden.

Am 18. Dezember 1979, einem kalten Wintertag, kamen die ersten 80 Kinder in Bellin an, wie die Expertin Uta Rüchel in einem Forschungsbericht für den Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern berichtet. Rüchel zitiert eine damalige Mitarbeiterin des Kinderheims: „Erstmal wurden alle untersucht und geimpft. Ach, das war ein Theater. Man hielt sie so schwer auseinander. Ich meine, die waren eben alle gleich schwarz.“ Menschen anderer Hautfarbe waren in der DDR damals noch sehr selten.Lucia Engombe war offiziell Kind Nummer 95. So stand es auch eingenäht auf ihren Socken und Handtüchern; alle Kinder hatten die gleiche Kleidung bekommen. Die 45-jährige Namibierin lacht, wenn sie sich an ihre ersten Wochen in Bellin erinnert: „Am Anfang haben wir Zahnpasta gegessen, weil sie so lecker war.“ Die Kinder steckten sich sogar Schnee in den Mund, weil sie dachten, es müsse Zucker sein.

Die Erziehung im abgeschotteten Schloss Bellin war streng: Im Vordergrund standen Disziplin, Ordnung und Sauberkeit, auch Marschierübungen gehörten zum Programm. «Jeden Morgen nach dem Aufstehen mussten wir zum Appell antreten», erinnert sich Imalwa. Trotzdem erinnert er sich gerne an die Zeit. Richtig gegen den Strich ging ihm allerdings der Mittagsschlaf. «Man musste sich hinlegen und schlafen, aber ich wollte lieber spielen und was erleben.»Die älteren Kinder wurden in Staßfurt in der sogenannten „Schule der Freundschaft“ unterrichtet. Sie wuchsen auf wie deutsche Kinder. Dabei war immer klar, dass sie einst als neue Elite in die alte Heimat zurückkehren sollten und sich dort wieder in einer Kultur zurechtfinden müssten, die ihnen fremd ist.

Mit dem Jahr 1989 ging dann plötzlich alles zu Ende: Während sich Millionen Deutsche über die Wiedervereinigung freuten, war dies für die namibischen DDR-Kinder der Moment, in dem ihre heile Welt zerbrach. Zudem kam in Namibia die Swapo an die Macht, das Land wurde unabhängig vom Joch der weißen südafrikanischen Minderheitsregierung. Die Kinder in Bellin und Staßfurt waren nur noch eine Fußnote der Geschichte. Sie wurden im August 1990 in die ihnen fremde Heimat ausgeflogen. «Ich dachte: Ach, ein bisschen rumreisen. Dann kommen wir wieder zurück und dann geht es weiter», so Imalwa.

Dass es nicht weiterging, realisierte der Zehnjährige erst im Auffanglager in Windhuk. „Man hat zugesehen, wie jeder von seiner Familie abgeholt wurde.“ Ihn holte niemand ab. Nach zwei Wochen kam dann sein Onkel. Die Rückkehr war schwierig, denn er beherrschte die Sprache seiner Familie – Oshivambo – kaum. Er verhielt sich anders und schien nicht hineinzupassen. Die versprochene Zukunft als sozialistische Elite hatte sich für die Kinder in Luft aufgelöst, Namibia wurde von den Helden des Befreiungskampfes aufgebaut.

Auch für Engombe war die Rückkehr ein Schock. „Ich war tief enttäuscht“, sagt sie. In Namibia vermisste sie den deutschen Luxus – Strom, fließendes Wasser oder Makkaroni: „Das war wie ein Kulturschock für mich, ich dachte doch Namibia sei ein reiches Land.“ Heute arbeitet sie als Journalistin für das deutsche Programm des öffentlich-rechtlichen Radiosenders NBC. In ihrer Biografie „Kind Nr. 95“ beschreibt sie, wie viele Kinder in der fremden Heimat keinen Halt fanden. Sie waren weder Deutsche, noch Namibier.

Viele hielten an deutschen Sitten fest, verlangten nach Besteck und vermissten Weihnachtsbäume. Imalwa seufzt, er würde gerne einmal nach Deutschland zurückkehren. Wenn er noch mal nach Bellin führe, würde er in dem 1912 erbauten herrschaftlichen Gutshaus heute ein Hotel vorfinden. Aber Imalwa würde vor allem gerne wieder Schnee sehen. Den vermisst er am meisten. „Schlittschuhlaufen, einen Schneemann bauen und Weihnachten», sagt Imalwa. «Das sind gute Erinnerungen.“ (dpa)



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