EU-Türkei-Gipfel im kritischen Spiegel deutscher Presse: „Gipfel der Verlogenheit“
In der Flüchtlingskrise stellen die EU und die Türkei ihre Beziehungen auf eine neue Basis. Die beiden Partner vereinbarten bei einem Sondergipfel in Brüssel einen gemeinsamen Aktionsplan, um den Zustrom syrischer Flüchtlinge nach Europa einzudämmen.
DEUTSCHLANDFUNK: „Nach dem EU-Türkei-Gipfel hat Ministerpräsident Davutoglu betont, seine Regierung könne die Flüchtlingszahlen nur begrenzt beeinflussen. Er sei entschlossen, der EU zu helfen, könne aber keine harten Versprechungen machen, sagte der türkische Regierungschef nach den Beratungen in Brüssel.“
Die EU zahlt drei Milliarden Euro an das Kandidatenland. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte nach Abschluss des etwa vierstündigen Spitzentreffens am Sonntagabend, das Geld diene ausschließlich zur Flüchtlingshilfe, also zur Gesundheitsversorgung oder für Schulen.
Wie die Lastenteilung unter den 28 EU-Staaten geregelt wird, ist noch unklar. Wenn nach dem üblichen EU-Schlüssel verfahren wird, kommen auf Berlin etwa 500 Millionen Euro zu. „Die Türkei erwartet mit Recht, dass die EU sie entlastet“, sagte Merkel. Die Türkei habe bislang wenig internationale Unterstützung bekommen.
DIE WELT: „Merkel sollte nicht zu sehr auf die türkische Karte setzen. Sie muss jetzt die lethargischen Griechen bei der bisher desaströsen Sicherung von Außengrenzen und dem Aufbau von Flüchtlingszentren unter Druck setzen.
Sie muss sich persönlich viel stärker in die Syrien-Verhandlungen einschalten. Die Menschen in Deutschland haben zu Recht das Gefühl, dass unser Land mittlerweile zum Lastesel in Europa geworden ist. Die Bundeskanzlerin hat die Pflicht, etwas dagegen zu tun.“
Die Gespräche zum visafreien Reisen und die Beitrittsverhandlungen werden beschleunigt. Ankara sichert zu, heimische Küsten besser zu schützen und effektiver gegen Schlepper vorzugehen. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sprach von einem historischem Treffen. Das Land beherbergt nach Angaben aus Ankara allein rund 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge.
DIE WELT: „Erdogan hat nur ein echtes Ziel: Reisefreiheit in die EU für 78 Millionen Türken. Das dürften ihm die Europäer spätestens 2017 auf dem Silbertablett servieren. Und dann? Es bleiben Fragen: Ist die Türkei vollständig in der Lage, Flüchtlinge, die nur eine halbe Seemeile hinter sich bringen müssen, mit rechtsstaatlichen Mitteln aufzuhalten? Und wie reagiert die Türkei, wenn sich vier Millionen anstatt 2,5 Millionen Flüchtlinge im Land befinden?“
DIE ZEIT: „Fortsetzung der Unehrlichkeit – Aber werden die Mitgliedsstaaten noch frei entscheiden können, solange die Türkei jederzeit damit drohen kann, Flüchtlinge doch weiterreisen zu lassen? Dies ist das erste Risiko der neuen Partnerschaft: Die EU muss aufpassen, dass sie im Umgang mit der Türkei nicht erpressbar wird.“
Die EU überwindet mit den neuen Türkei-Pakt eigene Vorbehalte. Denn die Union bemängelt seit Jahren Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit und bei der Pressefreiheit in der Türkei. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sagte, Meinungsverschiedenheiten würden nicht unterdrückt: „Menschenrechte, Pressefreiheit – all dies ist wichtig und wird immer wieder zurückkommen.“
TELEPOLIS: „Merkel und Juncker hatten ursprünglich geplant, der Türkei 400.000 syrische Flüchtlinge abzunehmen. Einige Staaten des neuen Merkel-Freundeskreises sträubten sich jedoch. Die Niederlande wollen gar keine weiteren Migranten aufnehmen, Belgien äußerte nach dem Terroralarm der letzten Tage Sicherheitsbedenken. Auch Frankreich machte keine neuen Zusagen, Präsident Francois Hollande reiste sogar vor dem Ende des Gipfels nach Paris ab. Dennoch sprachen Merkel und Luxemburgs Premier Xavier Bettel, der derzeit den EU-Ratsvorsitz innehat, von einem Erfolg.“
Über Kritik an der Menschenrechtssituation in der Türkei wurde nach Angaben von Merkel beim Gipfel nur am Rande gesprochen. Sie betonte, die verstärkte Zusammenarbeit biete dafür künftig aber mehr Raum. „Wir haben gesagt, wenn wir strategische Partner sind, müssen wir die Themen, zu denen wir Fragen oder auch Anmerkungen oder Kritik haben, auch offen aussprechen.“
DIE ZEIT: „Über die neue Herzlichkeit im Umgang mit der Türkei reibt man sich dennoch die Augen. Erst vor zehn Tagen hatte die EU-Kommission einen überaus kritischen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei veröffentlicht, nun rollt ihr die Union den roten Teppich aus. Gleich zweimal im Jahr wollen sich die EU-Spitzen künftig mit der Regierung aus Ankara treffen.“
Türkische Staatsbürger können darauf hoffen, ab Oktober 2016 ohne Visum nach Europa reisen zu dürfen. Auch die lange Zeit quasi eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Kandidatenland werden vorangetrieben.
DIE ZEIT: „Am Grundproblem der EU in der Flüchtlingskrise hat sich nichts verändert: Solange viele Mitgliedsländer nicht bereit sind, Lasten zu teilen und Solidarität zu praktizieren, ist die EU angreifbar. Niemand hat das besser verstanden als die türkische Regierung.“
Noch im Dezember soll das Verhandlungskapitel 17 über Wirtschaft und Finanzen geöffnet werden. „Wir sind übereingekommen, dass der Beitrittsprozess wiederbelebt werden muss“, sagte Tusk. Die EU-Kommission bereitet für das kommende Frühjahr die Öffnung weiterer Verhandlungsbereiche vor.
BADISCHE ZEITUNG: „Als Gipfel der Verlogenheit könnte das Treffen des türkischen Premierministers Davutoglu mit den europäischen Regierungschefs in die Geschichte eingehen. Ratspräsident Donald Tusk sagte, es gehe nicht darum, den Schutz der europäischen Balkangrenze auf die Türkei abzuladen – in Wahrheit geht es um nichts anderes (…) Präsident Erdogan hat Davutoglu vorgeschickt, um seinen Landsleuten zu demonstrieren, dass er Kurden bombardieren, russische Flugzeuge vom Himmel holen und die Meinungsfreiheit unterdrücken kann, ohne Konsequenzen der EU fürchten zu müssen. Es sieht so aus, als ob diese Kalkulation zu hundert Prozent aufgeht.“
(dpa / rls)
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion