Steinmeier will „Herkunftssiegel für Informationen“ und gemeinsame EU-Medienplattform

Um Bürger und Demokratie vor „technologischem Totalitarismus“ zu schützen, bedarf es nach Ansicht des Bundespräsidenten dringend einer gemeinsamen europäischen Anstrengung. Gut fände er etwa ein „Herkunftssiegel für Informationen“ und eine gemeinsame europäische Medienplattform auf öffentlich-rechtlicher Basis.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 10. Juli 2024 vor den Diskutanten des Forums Bellevue „Digitale Öffentlichkeit – brauchen wir eine neue Aufklärung?“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 10. Juli 2024 vor den Diskutanten des Forums Bellevue zum Thema „Digitale Öffentlichkeit – brauchen wir eine neue Aufklärung?“.Foto: Bildschirmfoto/Bundespraesident.de
Von 10. Juli 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz (KI), vor Manipulation und Überwachung im Internet und vor „technologischem Totalitarismus“ gewarnt.

Aus Sicht Steinmeiers zeigen sich die Risiken bereits jetzt, insbesondere im „Aufstieg des radikalen Populismus in Europa“, in „russischen Desinformationskampagnen“ und beim „chinesischen Überwachungsstaat“. Deren Entwicklungen seien „aufs Engste verknüpft mit dem Wandel unserer Kommunikations-Ökosysteme“, sagte Steinmeier während seiner Begrüßungsrede zum dritten Teil einer Veranstaltungsreihe in seinem Dienstsitz im Berliner Tiergarten. Der Titel der Reihe: „Forum Bellevue zur Transformation der Gesellschaft“.

Gerade seit der Einführung von ChatGPT Ende des Jahres 2022 hätten sich „ganz neue Fragen für unsere politischen Öffentlichkeiten aufgetan“, gab Steinmeier zu bedenken.

Präsident besorgt: „Delegitimierung der Demokratie an sich“ drohe

Er sehe „Versuche, Meinungs- und Willensbildung, aber auch Wahlen in liberalen Demokratien zu stören und damit die Demokratie an sich zu diskreditieren und zu delegitimieren“, sagte Steinmeier. Verantwortlich für die Zersetzungsabsichten seien „autokratische Systeme“, die „mit dem Gift des Misstrauens“ arbeiteten. Konkrete Länder oder Organisationen erwähnte er an dieser Stelle nicht.

Vor rund 100 Zuhörern, die nach den Worten Steinmeiers die Politik, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft repräsentierten, verlangte der Bundespräsident verstärkte Anstrengungen auf internationaler Ebene:

Wir brauchen dringend gemeinsame europäische Antworten, um unsere Demokratien – und unsere Bürgerinnen und Bürger – zu schützen, ja um sie als selbstbestimmte Bürger, frei in der Entscheidung und politisch handlungsfähig, in ihr Recht zu setzen. Und um gegen die Technologie der Entmündigung die Handlungsmacht der Mündigen zu setzen.“

„Wie groß die Gefahr für unsere Demokratien durch Künstliche Intelligenz tatsächlich ist, haben Regierungen, Unternehmen und Gesellschaften selbst in der Hand“, mahnte Steinmeier und lobte den „AI Act der Europäischen Union“:

Ich bin überzeugt: ‚Made in Europe‘ kann künftig ein Qualitätssiegel sein – ein Weg jenseits von purem Datenkapitalismus und autokratischer Überwachung.“

„Ethische Leitlinien“ sollen Vertrauen stärken

Steinmeier forderte, „mit politischen Initiativen auf dem Gebiet der KI“ noch weiter voranzugehen. Nach seinem Dafürhalten müsse man „gemeinsam an einer positiven Zielvorstellung arbeiten, an ethischen Leitlinien für die Entwicklung und die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten von KI, um das Vertrauen weiter zu stärken“. „Das ist eine Generationenaufgabe“, so Steinmeier.

Überdies gehe es ihm insbesondere um Datenschutz, um die Transparenz von Algorithmen und um den Schutz der Privatsphäre, aber auch um eine „erweiterte Medienkompetenz“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 10. Juli 2024 vor den Diskutanten des Forums Bellevue „Digitale Öffentlichkeit – brauchen wir eine neue Aufklärung?“. In der ersten Reihe (v.l.):Moderatorin Helene Bubrowski, die Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa, Meredith Whittaker, Präsidentin der Stiftung des Messengerdienstes Signal.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 10. Juli 2024 vor den Diskutanten des Forums Bellevue „Digitale Öffentlichkeit – brauchen wir eine neue Aufklärung?“. In der ersten Reihe (v. l.): Moderatorin Helene Bubrowski, die Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa und Meredith Whittaker, die Präsidentin der Stiftung des Messengerdienstes Signal. Foto: Bildschirmfoto/Bundespraesident.de

Für Herkunftssiegel und europäische Medienplattform

Angesichts der Herausforderungen durch „Desinformation und Fake News“ schlug Steinmeier „so etwas wie ein Herkunftssiegel für Informationen“ vor. Auch „eine alternative Infrastruktur zu globalen Plattform-Unternehmen“ könne er sich vorstellen, um weniger abhängig von amerikanischen oder chinesischen Algorithmen zu sein. Ihm schwebe dabei „eine gemeinsame europäische Medienplattform“ vor. Diese sollte seiner Meinung nach öffentlich-rechtlich organisiert werden.

Deutschland stehe nun vor der Aufgabe, „das ökonomische Umfeld zu schaffen, um Innovationen von der Grundlagenforschung bis zur Marktreife zu führen – und politische Eliten und Verwaltung auf den jeweils neuesten Stand der technologischen Entwicklung zu bringen“. Hier sehe er noch Optimierungspotenzial, brachte Steinmeier zum Ausdruck.

Darüber hinaus erhoffe er sich hierzulande „Neugier, Forschung und Entwicklung, Beschleunigung in der Anwendung, Innovationsehrgeiz in Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen“.

Digitalisierung: „Segen für die einen, Fluch für andere, Alltag für alle“

Wie der vor zehn Jahren verstorbene Publizist Frank Schirrmacher hatte auch Steinmeier zu Beginn seiner Rede die Frage aufgeworfen, ob die Zeit des „technologischen Totalitarismus“ nicht schon begonnen habe. Zu befürchten sei, dass die Macht der digitalen Maschine „den Menschen in neuer, nie gekannter Weise“ entmündigen könne. Immerhin sammele und kommerzialisiere die aktuelle Kommunikationstechnik „unterhalb der Benutzeroberfläche […] persönliche Daten in unvorstellbaren Ausmaßen“. Entgegen den Interessen argloser Nutzer würden die Daten dann „für Konsum und Kontrolle, auch für Manipulation und Überwachung“ ausgebeutet.

„Segen für die einen, Fluch für andere, Alltag für alle“ – dieser Dreiklang kennzeichne für ihn die „Attraktivität des Digitalen“, das in immer mehr Lebensbereichen allgegenwärtig und unverzichtbar geworden sei, betonte Steinmeier. Wegen dieser grundsätzlichen Attraktivität der digitalen Welt aber schienen seiner Beobachtung nach viele Nutzer längst „unempfindlich“ geworden zu sein. „Digitale Enthusiasten“ würden sogar bereits „empfindlich auf die Frage nach Risiken reagieren“, zeigte sich der Bundespräsident besorgt.

Frank-Walter Steinmeiers Eröffnungsrede zum Forum Bellevue „Digitale Öffentlichkeit – brauchen wir eine neue Aufklärung?“ finden Sie im Wortlaut auf der Website des Bundespräsidialamtes.

Das Video der anschließenden Gesprächsrunde zum Thema „Digitale Öffentlichkeit – brauchen wir eine neue Aufklärung?“ soll ebenfalls in Kürze publiziert werden. Auf der Bühne diskutierten die philippinische Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa und Meredith Whittaker, die Präsidentin der Stiftung des Messengerdienstes Signal. Die Moderation hatte die Journalistin Helene Bubrowski übernommen.



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