Neues Dokument aufgetaucht: Beide Seiten im April 2022 zu „tiefgreifenden Zugeständnissen“ bereit
Wäre ein Waffenstillstand in der Ukraine bereits im Frühjahr 2022 möglich gewesen? Falls ja: Warum hat es damals nicht geklappt? Spielten der britische Ex-Premier Boris Johnson und die USA dabei eine unrühmliche Rolle? Diese Fragen beschäftigen Analysten seit beinahe zwei Jahren.
Am 1. März 2024 veröffentlichte das amerikanische „Wall Street Journal“ (WSJ) einen Artikel, in dem von einem neuen Leak eines Vertragsentwurfs die Rede ist. Der Entwurf soll von ukrainischen und russischen Unterhändlern im April 2022 verfasst worden sein, um Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin zur Einstellung der Kampfhandlungen zu bewegen. Die „Berliner Zeitung“ griff das Thema am 6. März auf.
Nur das jüngste einiger Leaks
Ob es sich bei dem Vertragsentwurf, der dem WSJ laut „Berliner Zeitung“ vorliegt, um ein Originaldokument aus den Istanbuler Verhandlungen handelt, bleibt unklar: Nach einem Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 16. Januar 2024 hatten bereits früher mehrere Quellen behauptet, Einsicht in ein Entwurfspapier des „Friedensplans“ vom April 2022 erlangt zu haben. Diese älteren Leaks hätten sich aber schon im Seitenumfang und in der Zahl der enthaltenen Vertragspunkte (10, 15 oder 18?) unterschieden. Womöglich habe es sich aber auch um verschiedene Textversionen gehandelt, die im Laufe von Gesprächen angepasst worden sein könnten.
Über das angebliche jüngst aufgetauchte Dokument hatte das WSJ (Bezahlschranke) laut „Berliner Zeitung“ berichtet, dass es vom 15. April 2022 stamme und 17 Seiten umfasse. Aus ihm gehe hervor, dass „die Verhandlungsführer sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite“ bereit gewesen seien, „tiefgreifende Zugeständnisse“ zu machen.
Zu einem ähnlichen Schluss waren bereits der ehemalige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg, der Ex-NATO-General a. D. Harald Kujat und Ex-Kanzler Gerhard Schröder gekommen. Auch die BSW-Politikerin Sahra Wagenknecht argumentiert laut ZDF immer wieder damit. Sie alle vermuten die Interessen der USA als treibende Kraft, dass die Verhandlungen eingestellt wurden.
Das „Wall Street Journal“, so die „Berliner Zeitung“, begründe speziell die russische Gesprächsbereitschaft vom April 2022 damit, dass der Kreml zu diesem Zeitpunkt nicht mit der Entschlossenheit des ukrainischen Widerstands gerechnet habe. Heute, so das WSJ laut „Berliner Zeitung“, könnte Russland „angesichts der militärischen Lage“ womöglich „wesentlich strengere Forderungen erheben“ als damals. Das hänge auch davon ab, ob „die militärische Unterstützung des Westens“ nachlasse „und Russland erhebliche Gebietsgewinne“ erziele.
Baerbock: Putin will keinen Frieden, sondern „Eroberungen“
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte am 24. Februar 2024 in Odessa während eines Interviews mit dem ZDF anlässlich des zweiten Jahrestags des Kriegsbeginns gesagt, dass der russische Präsident „derzeit keinen Frieden“ wolle. Dabei könne Putin den Krieg „morgen beenden, die Panzer zurückziehen“. Diese Option habe er bereits gehabt, als es „ganz zu Beginn Verhandlungen gegeben“ habe, räumte Baerbock ein. Damals sei die Ukraine für eben jenen Fall „zu Kompromissen bereit“ gewesen, in dem „Putin seine Truppen zurückzieht“. Doch dann sei es ganz anders gekommen: „Butscha, schlimmste Vergewaltigung, Menschen auf offener Straße erschossen!“, sagte Baerbock. Die „weitere militärische Unterstützung“ der Ukraine befreie dagegen Menschen, rette Leben und sei für sie deshalb „der einzige Weg, zum Frieden zu kommen“.
Außerdem, so die Chefin des Auswärtigen Amtes, habe Putin auch gesagt: „Ich will keinen Frieden, ich will, dass die Ukraine aufgibt“. Das habe sie noch am Tag zuvor vom russischen Botschafter im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vernommen.
Ebenfalls am 24. Februar erschien in der „Bild“ ein Gastbeitrag von Baerbock, in dem sie ihren Standpunkt bekräftigte: „Wer behauptet, dass Waffenlieferungen den Krieg verlängern, spielt Putin in die Hände“. Zudem sei es „eine Lüge zu sagen, dass der Westen die Ukraine von Verhandlungen“ abhalte. Nach Informationen des Nachrichtenportals „N-TV“ hatte die deutsche Außenministerin allerdings tags zuvor vor dem UN-Sicherheitsrat „Forderungen nach Verhandlungen mit dem Kremlchef eine Absage“ erteilt. Die Begründung: Putin strebe weder Verhandlungen noch Frieden, sondern „Eroberungen“ an.
Putin: Offen für Gespräche – USA am Zug
In einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson hatte Putin am 6. Februar 2024 seinen Standpunkt allerdings anders dargestellt: Er sei jederzeit zu Gesprächen bereit. Die Kommunikationskanäle zwischen Moskau und Washington seien offen. „Der Krieg könnte innerhalb weniger Wochen vorbei sein“, sagte Putin. Zuvor aber sei es an den USA, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen.
Anders als in westlichen Medien kolportiert, habe er auch „absolut“ kein Interesse an einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs auf andere Länder.
Funkstille dauert an
Der frühere NATO-General a. D. Harald Kujat ist nach wie vor davon überzeugt, dass der „Westen“ die Ukraine im April 2022 daran gehindert hatte, einen Vertrag zu unterschreiben, der den Krieg schnell hätte beenden können. „Russland hatte sogar seine Streitkräfte als Zeichen des guten Willens aus dem Raum Kiew abgezogen“, erklärte Kujat Mitte Februar 2024 im Epoch-Times-Interview. Zudem habe es, so Kujat, immer wieder Versuche gegeben, zum Verhandlungstisch zurückzukehren.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selinskyj hatte nach Angaben des ZDF allerdings bereits Anfang Oktober 2022 ein Dekret erlassen, das direkte Verhandlungen mit Wladimir Putin verbietet. Nur „zu Gesprächen mit Russland“ sei man bereit. Auf dem diplomatischen Parkett aber scheint das nicht auszureichen.
Eckpunkte des aktuellen WSJ-Leaks
Somit bleibt der dem WSJ vorliegende Vertragsentwurf vom 15. April 2022 womöglich das aktuellste Dokument, das über die damalige Verhandlungsbereitschaft der Ukraine und Russlands Auskunft geben könnte. Nach Informationen der „Berliner Zeitung“ bestätigt das Papier weitgehend jene Verhandlungsgegenstände, die bereits zuvor so oder so ähnlich kolportiert worden waren.
Demnach sollte eine „neutrale“ Ukraine zwar der EU beitreten dürfen, nicht aber der NATO oder einem anderen Militärbündnis. Ausländische Waffen in der Ukraine wären auf Wunsch Russlands ebenfalls zum Tabu geworden. Das ukrainische Militär hätte nach den Vorstellungen Russlands bestimmte Grenzen bei Personal, Ausstattung und Reichweite nicht überschreiten und der Westen hätte keine Waffen oder sonstige Unterstützung zum Wiederaufbau der ukrainischen Streitkräfte beisteuern dürfen.
Als Friedensgarant für eine neutrale Nachkriegsukraine sei Deutschland nicht mehr in dem Dokument aufgeführt worden – anders als noch im „Istanbuler Kommuniqué“ vom 29. März 2022 angedacht. Für diese Aufgabe hätten sich Kiew und Moskau nur noch auf die USA, Großbritannien, China, Frankreich und Russland einigen sollen. Diese Friedensmächte hätten auf Bestreben Moskaus auch „internationale Verträge und Vereinbarungen kündigen“ sollen, „die mit der dauerhaften Neutralität der Ukraine unvereinbar“ seien. Die russische Seite hätte zudem am liebsten auch die Ukraine, Belarus und die Türkei in der Runde der Garantie-Mächte gesehen.
Moskau habe zudem weiter auf seinem Einfluss in der Krimregion bestanden. Eine Lösung für die bereits 2014 von Russland besetzten ostukrainischen Territorien hätten Putin und Selenskyj gesondert aushandeln sollen – abseits des Vertrages.
Viele offene Fragen
Ob all das je so weit gekommen wäre, bleibt ungeklärt, denn manche Streitfragen seien in dem Papier von Mitte April 2022 weiterhin nicht bereinigt gewesen. Das habe etwa die Frage betroffen, ob die Friedensmächte im Fall eines Angriffs auf die Ukraine ihr Vorgehen einstimmig beschließen müssten, was für Russland ein Vetorecht bedeutet hätte. Die ukrainische Seite habe umgekehrt nicht auf das Recht verzichten wollen, etwaige Kriegsverbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshofs zu bringen. Auch zur gegenseitigen Aufhebung aller Sanktionen habe die Ukraine sich nicht durchringen können.
Ob die Unterhändler in den kommenden Monaten zu weiteren Ergebnissen gelangt seien, bleibt ebenfalls unklar. Laut „Berliner Zeitung“ hätten sich beide Seiten noch bis Juni 2022 per Videoschaltung ausgetauscht, die Verhandlungen aber schließlich abgebrochen. Ein Zustand, der zumindest offiziell bis heute anhält.
Rolle Johnsons ungeklärt
Auch die Rolle des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson ist laut „Berliner Zeitung“ nach wie vor ungeklärt: Hatte Johnson der Ukraine zum Abbruch geraten, um die Kriegsmaschinerie im Interesse des Westens, insbesondere der USA, weiter am Laufen zu halten? Oder war er lediglich überzeugt, dass die Vertragsentwürfe nicht funktionieren würden, weil sie über die Friedensmächte-Klausel auch andere Staaten betreffen würden, die gar nicht mitverhandelt hatten? Weil das Inkrafttreten womöglich erst noch von verschiedenen Parlamenten hätte ratifiziert werden müssen? Und weil das Warten auf den Frieden sich deshalb noch zu lange hinziehen würde? Diese Fragen warf jedenfalls Klaus Bachmann bereits Mitte Januar 2024 in seiner Analyse zum „Johnson-Narrativ“ in der „Berliner Zeitung“ auf, ohne das aktuelle WSJ-Leak gekannt zu haben.
Bachmann ging nicht davon aus, dass ein Waffenstillstand oder gar ein Friedensvertrag im April 2022 kurz vor dem Abschluss gestanden hatte. Was für ihn vor sieben Wochen galt, dürfte auch heute noch gelten:
Dafür, dass Boris Johnson Anfang April 2022 in Kiew etwas verhindert hat, gibt es bisher keine klaren Beweise – für das Gegenteil allerdings auch nicht. Eine wie immer geartete Friedenslösung kann es aber nicht gewesen sein. Das, was in der Öffentlichkeit dazu kursiert, war nicht mehr als ein Entwurf für einen Waffenstillstand, den damals aber keine Seite unterschreiben wollte.“
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