Lauterbach kontra AfD: „Vielfalt“ statt „Dexit“?
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) ist dafür bekannt, dass er auf seinem X-Kanal gern auch mal seine Meinung zu Themen postet, die nicht in sein Ressort fallen. Am 23. Januar etwa bezog er sich auf einen Vorschlag der AfD-Bundessprecherin Alice Weidel zu einem möglichen Austritt Deutschlands aus der EU, dem sogenannten „Dexit“.
Lauterbach präsentierte einen X-Eintrag der Userin (?) „@SimsalaMaya“, die unter Gebrauch der Hashtags „#AfDsindFaschisten“ und „AfDzerstoertDeutschland“ einen älteren Werbespot der Supermarktkette EDEKA verbreitet hatte. Zu sehen sind Kunden, die durch einen nahezu völlig ausgeräumten Laden spazieren. „Kaffee nicht, kein Tee, keine Schokolade“, erklärt ein Angestellter einem Rentnerpaar. Der Tenor des Spots: Ohne das ausländische Warenangebot wären die Regale in den EDEKA-Filialen unbestückt. Deshalb setze EDEKA ein Zeichen „Für Vielfalt“.
Der Kommentar des Gesundheitsministers:
Klares Bekenntnis #EDEKA zur Vielfalt. Nur mit deutschen Produkten wäre der Laden weitgehend leer. Ohne ausländische Arbeitskräfte könnte man wahrscheinlich selbst die deutschen Produkte nicht herstellen. Käme noch Weigels [sic] EU Austritt dazu könnten wir uns auf Armut einstellen“
Drei Aussagen unter der Lupe
Die älteren unserer Leser mögen beim Lauterbach-Tweet vielleicht zunächst an den früheren Bundesfinanzminister Theo Weigel (CSU) gedacht haben – geschenkt. Doch die drei Kernaussagen werfen mindestens drei ernsthafte Fragen auf:
- Hat Alice Weidel oder die AfD je öffentlich gefordert, dass Deutschland generell auf ausländische Arbeitnehmer verzichten sollte?
- Hat Weidel tatsächlich einen „EU Austritt“ gefordert?
- Wieso soll die deutsche Volkswirtschaft eigentlich nicht in der Lage sein, für den Großteil der Dinge des täglichen Bedarfs im eigenen Land zu sorgen?
Speziell bei den ersten beiden Fragen sollte ein Quellenblick ins offizielle AfD-Grundsatzprogramm (PDF) zeigen, ob Lauterbach recht hat. Weil Papier bekanntlich geduldig ist, darf angesichts der häufigen Diskrepanz zwischen Programmatik und tatsächlichem Handeln politischer Akteure durchaus bezweifelt werden, ob sich die AfD tatsächlich an ihr Programm halten würde, wenn sie wirklich in politischer Verantwortung stehen sollte.
Ausländer im deutschen Arbeitsmarkt
Zu Frage 1. Ein Blick in Kapitel 6 des AfD-Parteiprogramms („Familien und Kinder“) belegt, dass die Partei offenbar nicht viel gegen ausländische Arbeitnehmer einzuwenden hat: Sie beklagt unter anderem eine „mangelnde Orientierung der Zuwanderung am Bedarf des Arbeitsmarktes“ in Deutschland. „Insbesondere muslimische Migranten in Deutschland“ würden „nur ein unterdurchschnittliches Bildungs- und Beschäftigungsniveau erreichen“, bedauert die AfD.
In Kapitel 7 („Kultur, Sprache und Identität“) heißt es weiter, dass „viele Muslime […] rechtstreu sowie integriert [leben] und […] akzeptierte und geschätzte Mitglieder unserer Gesellschaft“ seien. Das alles klingt nicht gerade nach dem Wunsch, (muslimische) Zuwanderer, die in Deutschland friedlich und produktiv tätig sind, auszuweisen, wie es Lauterbach zu suggerieren scheint.
Auch in Kapitel 9 des Parteiprogramms, das sich explizit mit „Einwanderung, Integration und Asyl“ beschäftigt, mag das AfD-Bekenntnis zur „Mehrzahl der rechtstreuen, integrierten ausländischen Mitbürger als auch der rechtstreuen Asylbewerber“ manchen Leser überraschen. Die AfD stellt sich hier zudem gegen die „ungerechten Pauschalverdächtigungen“ gerade gegenüber der genannten Gruppe.
„Irreguläre Migranten“ abschieben
Kein Wort davon also, nicht deutsche Arbeitnehmer grundsätzlich abschieben zu wollen. Für eine Remigration kommen nach den Worten des AfD-Parteiprogramms lediglich „irreguläre Migranten“ infrage, die „keinen Flüchtlingsschutz beanspruchen“ könnten. Was im Übrigen im Einklang mit Artikel 16a (2) des Grundgesetzes steht.
Etwas später heißt es noch einmal: „Für den Arbeitsmarkt qualifizierte Einwanderer mit hoher Integrationsbereitschaft sind uns willkommen“, denn Deutschland stehe in „Konkurrenz um die Gewinnung wirklich qualifizierter Zuwanderer“. Diese Menschen würden allerdings „Staaten mit geringer Steuerlast“ bevorzugen.
AfD will EU-Reform oder Dexit-Referendum
Zu Frage 2. Alice Weidel hatte nach Angaben der „Welt“ in einem Gespräch mit der britischen Zeitung „Financial Times“ (Bezahlschranke) für den Fall einer AfD in Regierungsverantwortung keineswegs angekündigt, sogleich einen Dexit durchzuführen, sondern „eine Reform der EU an[zu]streben“, um unter anderem die „Macht der EU-Kommission“ zu beschneiden. Nur im Fall des Scheiterns könnte ein möglicher Dexit zur Debatte stehen. Dann aber soll nach Aussage Weidels nicht die AfD, sondern der Souverän entscheiden:
Wenn eine solche Reform [der EU] nicht möglich sein sollte, wenn wir die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten nicht wieder herstellen können, dann sollten die Bürger entscheiden, genau wie in Großbritannien […]. Dann hätten wir ein ‚Dexit‘-Referendum.“
Weidels Aussage ist alles andere als überraschend: Schon seit Jahren setzt sich die Partei gegen die Vision der Ampelkoalition zur Wehr, Europa von einem Staatenbund „zu einem föderalen europäischen Bundesstaat“ umzuwandeln und die „Wirtschafts- und Währungsunion“ noch weiter zu „stärken und vertiefen“. All das in „einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes“, wie es im aktuellen Koalitionsvertrag heißt.
AfD hofft auf Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten in Europa
Im AfD-Parteiprogramm wird dagegen gefordert, „die EU zurückzuführen zu einer Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner, lose verbundener Einzelstaaten in ihrem ursprünglichen Sinne“. Das Ziel sei „ein souveränes Deutschland, das die Freiheit und Sicherheit seiner Bürger garantiert, ihren Wohlstand fördert und seinen Beitrag zu einem friedlichen und prosperierenden Europa leistet“, wie es in Kapitel 2 des AfD-Programms heißt. Und weiter:
Sollten sich unsere grundlegenden Reformansätze im bestehenden System der EU nicht verwirklichen lassen, streben wir einen Austritt Deutschlands oder eine demokratische Auflösung der Europäischen Union und die Neugründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an“.
Experten: Dexit würde Millionen Arbeitsplätze kosten
Diese Aussicht assoziiert Karl Lauterbach mit „Armut“. Und er ist nicht allein: Zahlreiche Wirtschaftsfachleute und auch Politiker quer durch die Parteien teilen seinen Standpunkt. So glaubt laut „Welt“ etwa die Wirtschaftsstaatssekretärin Franziska Brantner (Grüne), dass eine „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ nach AfD-Vorstellungen „die Grundfesten unseres Wohlstands“ gefährden würde.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck setzt die AfD-Pläne nach Angaben des „Handelsblatts“ mit einer Verabschiedung aus dem „Binnenmarkt“ gleich. Für Prof. Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), wäre ein Dexit „das Ende des deutschen Wirtschaftsmodells“: „Millionen gute Arbeitsplätze in Deutschland“ insbesondere in Exportbranchen würden zerstört.
Die EU-Spitzenkandidatin der SPD, Katarina Barley, erklärte auf X, dass ein Dexit „Putin, Xi und Trump“ in die Hände spielen würde. Zudem koste der Brexit jedes Jahr 160 Milliarden Euro. Dass die „britische Wirtschaft“ nach einem Artikel des „Handelsblatts“ vom September 2023 inzwischen „besser da [steht] als die Volkswirtschaften Deutschlands und Frankreichs“, erwähnte Barley nicht. Dabei hatte sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert, „dass Großbritannien längerfristig stärker wachsen werde als Deutschland, Frankreich und Italien“. Dennoch, so das „Handelsblatt“ in seinem aktuellen Dexit-Artikel, wolle „eine Mehrheit der Briten gern wieder zurück in die EU“.
Die Abhängigkeit Deutschlands
Angesichts dieser und weiterer ähnlich lautender Expertisen zu den Segnungen der EU stellt sich Frage Nummer 3 umso dringlicher: Warum die deutsche Volkswirtschaft trotzdem nicht mehr in der Lage sein soll, selbst für gefüllte Supermarktregale zu sorgen. Kaffee, Tee und Kakao wurden ja schon vor den beiden Weltkriegen importiert, und internationaler Handel ist schließlich auch keine Erfindung des 20. Jahrhunderts.
Nach Informationen des Onlineportals „HNA“ konnte der Bedarf an Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Zucker, Fleisch, Milch und Getreide in Deutschland im Jahr 2021 mehr als gedeckt werden. Dagegen stammten „nur rund 20 Prozent unseres Obstbedarfs aus heimischer Produktion“. Insgesamt habe der „Selbstversorgungsgrad mit Lebensmitteln 2020/21“ laut Bundesinformationszentrum Landwirtschaft „hierzulande bei lediglich 81 Prozent gelegen“.
Könnte die zumindest 19-prozentige Abhängigkeitslücke von Importen vielleicht auch mit den immer stärkeren Verflechtungen und Regulierungen auf den internationalen Wirtschafts-, Energie- und Finanzmärkten zu tun haben, die die deutschen Regierungen in den vergangenen Globalisierungsjahrzehnten mitgetragen hat?
Immerhin funktionierte die alte, dem AfD-Ideal eher entsprechende „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) auch vor ihrer Umwandlung zur EG und später zur EU gerade für die Bundesrepublik Deutschland relativ gut, obwohl es bis 1999 nicht einmal einen Euro gab: Ein Blick auf die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der BRD zeigt, dass es auch vor 1999, ja sogar vor der Schaffung des europäischen Binnenmarktes im Jahr 1992 deutliche Wachstumssteigerungen gegeben hatte – ganz zu schweigen vom „Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre mit seinen zum Teil zweistelligen BIP-Wachstumsraten.
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