In der Ukraine steht ein weiteres politisches Erdbeben bevor
Bei der Parlamentswahl am Sonntag steht der Ukraine ein weiteres politisches Erdbeben bevor. Schon bei der Präsidentenwahl im April hat die Bevölkerung die alte politische Kaste abserviert und den Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj mit haushoher Mehrheit ins Präsidentenamt gewählt. Nun wird auch bei der Parlamentswahl kaum ein Stein auf dem anderen bleiben. Die alten Parteien haben sich zum Teil noch hektisch umbenannt, aber den größten Stimmenanteil dürfte Selenskyjs neu gegründete Partei Diener des Volkes verbuchen.
Den Parteinamen Diener des Volkes hat Selenskyj aus seinem früheren Leben mitgebracht – so hieß eine jener Unterhaltungssendungen, denen er seine landesweite Beliebtheit verdankt. Selenskyj, obwohl bereits seit Mai als Staatschef im Amt, setzt weiter darauf, sich vom Establishment abzusetzen. Er will nicht, dass in seiner Partei Kandidaten zum Zuge kommen, die bislang oder früher einmal im Parlament saßen. Stattdessen erging eine allgemeine Einladung an die 45 Millionen Einwohner des Landes, sich für die Listenplätze zu bewerben.
Die letzten Umfragen sagen der Partei Diener des Volkes einen Stimmenanteil von 42 bis 52 Prozent voraus. Vielleicht reicht es also nicht für die absolute Mehrheit, aber in jedem Falle dürfte Selenskyjs Partei den Anker der künftigen Regierungskoalition abgeben. Und danach kommt lange nichts: An zweiter Stelle in der Wählergunst liegt mit bis zu 14 Prozent eine Russland-freundliche Partei mit dem Namen Oppositionsplattform – Für Leben. Von den 20 Parteien, die an den Start gehen, wird nur ein kleiner Teil den Sprung über die Fünf-Prozent schaffen.
Selenskyjs Partei schwimmt ganz in seinem Fahrwasser. „Die höchste Priorität liegt darauf, das Land von Korruption, Ausplünderung, Bestechung und Scheinheiligen zu befreien“, heißt es auf der Homepage der Diener des Volkes. Der Großteil der Bevölkerung teilt die Ansicht, dass es unter Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko nicht gelungen ist, die Korruption einzudämmen und im Konflikt mit den pro-russischen Separatisten einen Sieg davonzutragen, die seit 2014 Teile des Staatsgebietes im Osten der Ukraine unter ihrer Kontrolle haben.
Nur neun Prozent bezeugten in einer Meinungsumfrage Vertrauen in die Regierung. Die weit verbreitete Unzufriedenheit werde dazu führen, dass „absolut neue Leute“ ins Parlament gewählt werden, sagt Irina Bekeschkina von der Democratic Initiatives Foundation voraus. Dies sei einerseits „genau der Neubeginn, auf den die Wähler hoffen“. Andererseits sei es aber „gefährlich“, denn den Neueinsteigern fehlten „die erforderlichen Fähigkeiten für politische Ämter“.
Das scheint die Wähler wenig zu kümmern. 63 Prozent sagten in einer Umfrage, die künftigen Parlamentarier sollten „eine neue Generation von Politikern“ bilden. Nur 24 Prozent der Befragten hielten es für wichtig, dass die Abgeordneten über Partei- und Regierungserfahrung verfügen. Oleksandr Suschko von der International Renaissance Foundation geht davon aus, dass „bis zu 75 Prozent“ der künftigen Parlamentarier Neulinge sein werden.
Von den 424 Mandaten werden 225 über Parteilisten vergeben, der Rest der Volksvertreter zieht per Direktwahl ins Parlament in Kiew ein. Poroschenkos Partei, die sich in Europäische Solidarität umbenannt hat, liegt in der Wählergunst bei bis zu neun Prozent, die Partei der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko bei lediglich sieben Prozent.
Chancen auf einen Einzug ins Parlament hat auch die neu gegründete Partei Golos von Rockstar Swjatoslaw Wakartschuk. Die pro-westliche Partei hat ebenfalls fast nur Newcomer aufgestellt – und bereitet sie mit Seminaren zu Budgetplanungen und Gesetzesinitiativen auf ihre neue Arbeit vor. Umfragen sagen Golos vier bis neun Prozent der Stimmen voraus.
Angesichts des erwarteten generellen Umbruchs hält Suschko es für möglich, dass im künftigen Parlament ein gewisses „Chaos“ ausbricht. Dann würde es „weder Reformen, noch qualitativ hochwertige Politik“ geben – und das Parlament brächte sich selbst in Verruf. In letzter Konsequenz befürchtet Suschko in diesem Fall, dass die Bevölkerung der Ukraine „völlig die Hoffnung verliert“. (afp)
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