„Europa zurückerobern“: Sebastian Kurz entdeckt das Potenzial der Evangelikalen
„Wir sind ein Team von leidenschaftlichen Nachfolgern Gottes, die aus unterschiedlichen Hintergründen kommen aber eines gemeinsam haben – wir sind alle radikal verändert durch die Liebe von Jesus“: So stellt sich das Team von „Awakening Europe“ auf seiner Webseite vor.
Hinter der Veranstaltung „Awakening Austria“, die vom 13.-16. Juni mit 10 000 Teilnehmern in einer ausverkauften Wiener Stadthalle über die Bühne ging, steht das Netzwerk der GODfest Ministeries Inc., das vom australischen Prediger Ben Fitzgerald gegründet wurde. Der ehemals drogenabhängige Australier, der es nach eigener Aussage durch den christlichen Glauben geschafft hatte, seine Sucht zu überwinden, hatte sich 2002 der Bethel-Gemeinschaft angeschlossen. Diese gehört zu den bekanntesten Vereinigungen innerhalb der Pfingstbewegung, einer evangelikalen Richtung, die den Charismatikern zuzuordnen ist.
Mit dem in Colorado ansässigen Evangelisten, Bibelschullehrer und Buchautor John Bevere war auch einer der prominentesten evangelikalen Prediger der USA in Wien als Redner eingeladen. Seine Predigten und die seiner Ehefrau Lisa werden seit Jahr und Tag unter anderem durch den Fernsehsender „God TV“ via Satellit in alle Welt übertragen.
„Wir leben, um genau diese Liebe und Kraft von Jesus in jede Nation zu bringen, in die Gott uns ruft und unsere Leben zu Verfügung zu stellen, um zu sehen, wie Gott die Geschichte zum Besseren verändert“, schildert das Awakening-Team weiter seine Mission.
ÖVP-Abgeordnete hinter Kurz‘ Gastauftritt?
Mega-Events wie jenes jüngst in Wien werden jedoch nicht nur von bekennenden Evangelikalen, Freikirchlern und Charismatikern organisiert, die allesamt auf ihre Weise einem bibeltreuen Protestantismus zuzuordnen sind. Auch bekannte katholische Netzwerker haben mitgeholfen, die Veranstaltung über die Bühne zu bringen. Unter ihnen befinden sich der Leiter des Augsburger Gebetshauses, Johannes Hartl, und die ÖVP-Nationalratsabgeordnete Gudrun Kugler, die mit dem ehemaligen Opus-Dei-Pressesprecher Martin Kugler verheiratet ist.
Ob sie es war, die den Auftritt des Kanzlerkandidaten ihrer Partei, Sebastian Kurz, am Sonntag (16.6.) bei der Veranstaltung auf den Weg gebracht hat, ist nicht geklärt: Was man aber zeitnah wusste, ist, dass die Anwesenheit des vor wenigen Wochen vom Parlament abgewählten Kanzlers ein gewaltiges Echo in traditionellen und sozialen Medien der Alpenrepublik gefunden hat.
Ein YouTube-Video dokumentiert, wie die Teilnehmer der Veranstaltung mit erhobenen Armen für den Ex-Kanzler beten und Prediger Fitzgerald ausführt:
Vater, wir danken dir so sehr für diesen Mann. Für die Weisheit, die du ihm gegeben hast. Für das Herz.“
Weiter hieß es in der Predigt:
Wir beten und wir danken dir, dass Gerechtigkeit in einer Nation eine Nation aufrichtet. Dass Sünde für alle furchtbar ist. Wir beten, dass du ihm gerechte Führung, riesige Weisheit und viel Schutz gibst.“
ÖVP entfremdete sich seit 1980ern zunehmend von konservativen Katholiken
Dass ein – wenn auch im Moment nicht amtierender – Bundeskanzler oder überhaupt ein Mitglied der österreichischen Regierung bei einer Veranstaltung dieser Art auftritt, stellt eine erhebliche Zäsur in der österreichischen Politik insgesamt und auch für die bürgerlich-konservative ÖVP selbst dar.
Die Partei, die nach 1945 die Nachfolge der 1891 noch in der Habsburgermonarchie gegründeten Christlich-Sozialen Partei angetreten hatte, galt auch in der Zweiten Republik noch über Jahrzehnte hinweg als katholische Milieupartei. Ähnlich wie die deutsche CDU in der Ära von Generalsekretär Heiner Geißler und Familienministerin Rita Süßmuth durchlief auch die ÖVP in Österreich einen inhaltlichen Wandlungsprozess.
Im Vertrauen darauf, dass die streng religiösen Stammwähler keine akzeptable Wahlalternative vorfinden würden – die FPÖ war bis in die 1990er Jahre hinein antiklerikal und kirchenfern –, versuchte man „progressive“ Katholiken zu binden und gab traditionelle konservative Positionen vor allem im kulturellen und gesellschaftlichen Fragen preis. Dass das katholische Milieu in Österreich zu jener Zeit einen tiefgreifenden Erosionsprozess durchlief, schien der ÖVP Recht zu geben, auch wenn die Partei bei Wahlen kontinuierlich an Stimmen verlor.
Gehörten 1951 noch 89 Prozent der Österreicher der Katholischen Kirche an und waren es 1981 immerhin noch 84,3 Prozent, ist dieser Anteil mittlerweile auf 57 Prozent gesunken. Dabei ist zu berücksichtigen, dass gerade in Kleinstädten und auf dem Land die Zugehörigkeit zur Kirche einen passiven Charakter angenommen hat und viele nominelle Katholiken zwar in der Kirche geblieben waren, um deren Dienste für Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen in Anspruch zu nehmen – tatsächlich aber zentrale Inhalte des katholischen Glaubens nicht mehr teilen.
Konservatives Christentum als Buhmann
Dieser beispiellose Säkularisierungsprozess, begleitet von zunehmenden „fortschrittlichen“ Strukturreformen in der Kirche selbst, hatte zur Folge, dass man vor allem in der ÖVP versuchte, jedwede sichtbare Nähe zu konservativen Kräften im Katholizismus zu vermeiden. Diese organisierten sich allenfalls noch im vorpolitischen Raum in Schüler- oder Studentenverbänden des Mittelschülerkartellverbandes (MKV) oder Cartellverbandes (CV), in monarchistischen Vereinigungen wie der „Jungen Europäischen Studenteninitiative“ (JES) oder rund um Medienprojekte wie kath.net, das 1999 begonnen hat, eine konservative mediale Gegenöffentlichkeit aufzubauen.
Auf parteipolitischer Ebene blieben hingegen Projekte wie die „Christliche Wählergemeinschaft“, die „Christlich-Soziale Allianz“ von Karl Habsburg, „Die Christen“ oder die „Reformkonservativen“ (REKOS) des früheren FPÖ-Politikers Ewald Stadler erfolglos.
Auch weil in Österreich neben dem Katholizismus kaum eine christliche Religionsgemeinschaft eine Rolle spielte – allenfalls FPÖ-Chef HC Strache zeigte sich 2008 im Wahlkampf demonstrativ mit einer serbisch-orthodoxen „Brojanica“-Gebetskette, die ihm serbische Einwanderer geschenkt hatten -, erschien es de facto als undenkbar, dass österreichische Spitzenpolitiker, auch solche der ÖVP, bei Veranstaltungen wie „Awakening“ auftreten.
Gerade für ÖVP-Politiker wäre davon auszugehen gewesen, dass die Kosten eines solchen Besuches den Nutzen deutlich überstiegen hätten. Neben dem zu erwartenden „Fundamentalismus“-Vorwurf vonseiten linksliberaler Leitmedien hätte man auch gerade unter konservativen Katholiken mit Widerständen zu kämpfen gehabt, für die evangelikale Gemeinschaften einst als „Sekten“ galten. Auch die „fortschrittlich“ dominierte institutionalisierte Theologie reagiert auf die Aufwertung der Charismatiker durch die Politik verschnupft.
ORF sieht „Evangelikale auf dem Vormarsch“
Mittlerweile sieht aber auch der öffentlich-rechtliche ORF Evangelikale in Österreich „auf dem Vormarsch“. Die Erosion des katholischen Milieus und die zunehmende Marginalisierung konservativer und traditioneller Katholiken in Österreichs Kirche scheint im Gegenzug zu steigendem Interesse an Freikirchen geführt zu haben.
Den Gemeinden des 2013 gesetzlich anerkannten Dachverbandes „Freikirchen in Österreich“ sollen 20 000 Personen angehören – die Zahl der Gottesdienstbesucher soll doppelt so hoch sein. Dazu kommen Vereinigungen wie die Internationale Vereinigung Christlicher Geschäftsleute (IVCG) oder nicht organisierte Gruppen und Zusammenhänge mit Sitz in anderen Staaten, meist den USA – wie Bethel, wo Ben Fitzgerald es als Ziel formulierte, „Europa zurückzuholen“.
Mittlerweile begleiten evangelikale Initiativen wie die „KISI-Kids“, deren Schwerpunkt der Gesang ist, auch Veranstaltungen wie das Gebetsfrühstück im österreichischen Parlament, das seit 2016 von Abgeordneten aller Fraktionen besucht wird.
Ob auch in Österreich bald brasilianische Verhältnisse herrschen und der Bedeutungsverlust der Katholischen Kirche durch evangelikale Gruppen egalisiert wird, die auch politisch an Einfluss gewinnen, ist noch ungewiss. Die Segnung des Sebastian Kurz bei „Awakening Austria“ könnte aber durchaus etwas Symbolträchtiges haben.
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