Arznei-Lieferengpässe: Einziges Antibiotika-Werk in Westeuropa bleibt nun doch in Tirol ansässig

In Westeuropa gibt es noch ein einziges Antibiotika-produzierendes Werk. Vor einiger Zeit kursierte das Gerücht, der Pharmahersteller könnte seine Wirkstoffproduktion einstellen und nach Asien verlegen. Laut Firmenangaben kann der Produzent nun in Österreich bleiben.
Titelbild
Eine Mitarbeiterin in der pharmazeutischen Industrie bedient Tablettenblister- und Kartonierverpackungsmaschine.Foto: iStock
Von 19. Mai 2020

Das letzte in Westeuropa verbliebene Antibiotika-Werk mit mehr als 4.000 Mitarbeitern bleibt nun doch erhalten. Es befindet sich im österreichischen Tirol in den Ortschaften Kundl und Schaftenau. Der Schweizer Pharmariese Novartis-Sandoz hat hier seine weltweit größten Produktionsstandorte. Das Tiroler Werk allein deckt beim Penicillin in Tablettenform 75 Prozent der Weltproduktion ab.

Vor einiger Zeit kursierte das Gerücht, der Pharmahersteller könnte seine Wirkstoffproduktion einstellen und nach China verlegen. Dort betragen die Produktionskosten einen Bruchteil im Vergleich zur Produktion in Österreich.

Auf mehrfache Interviewanfragen des ORF zu den zukünftigen Plänen ging das Unternehmen nicht ein. Auf eine Anfrage damals hieß es unter anderem: „Konkrete Entscheidungen werden jeweils zu gegebener Zeit bekannt gegeben“.

Christoph Baumgärtel vom österreichischen Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen teilte jetzt mit, dass laut Firmenangaben der Produzent nun in Österreich bleiben könne, schreibt „meinbezirk.at“.

Verlagerung der Kapazitäten

Derzeit werden in China und Indien ein Großteil von Wirkstoffen und Arzneimitteln für die ganze Welt hergestellt. Die Pharmazieprofessorin Dr. Ulrike Holzgrabe von der Uni Würzburg drückte es Anfang März gegenüber dem ZDF-Magazin „Zoom“ so aus:

Die Chinesen brauchen gar keine Atombombe. Sie liefern einfach keine Antibiotika […], dann erledigt sich Europa von ganz allein“.

Auch seitens der Bundesregierung sind mittlerweile vermehrt Bedenken zur Versorgungssicherheit von Arzneimitteln und Wirkstoffen zu hören: „Wir sollten als Europäische Union nicht in diesem Umfang wirtschaftlich und in unseren Lieferketten abhängig sein von China“, äußerte vor geraumer Zeit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU).

Neben der Verlagerung von Produktionskapazitäten nach Asien und damit verbundene Produktions- und Lieferschwierigkeiten nach Europa haben auch „Hamsterkäufe“ die Situation in Deutschland verschärft, erklärte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

Dies hätte in direkter Folge zu einer Ungleichverteilung geführt, so die Bundesbehörde. Um dem entgegenzuwirken fordert sie bereits seit Ende März die pharmazeutischen Unternehmer und den pharmazeutischen Großhandel auf, Arzneimittel nicht über den normalen Bedarf hinaus auszuliefern.

Aufgrund der aktuellen Situation haben einzelne Kliniken zur Überbrückung von Lieferengpässen die Eigenherstellung von verschiedener Arzneistoffe (Clonidin, Midazolam, Fentanyl und Sufentanil) aufgenommen.

400 Engpassmeldungen für Humanarzneimittel

Insgesamt liegen der Arzneimittelbehörde noch rund 400 Lieferengpassmeldungen für Humanarzneimittel (ohne Impfstoffe) vor. Die Lieferketten bauen sich derzeit wieder auf. Auch die Ausgangsstoffe zur Arzneimittelherstellung aus Indien können grundsätzlich wieder exportiert werden. Dies hat die Lage in Deutschland etwas entspannt, teilt die Bundesbehörde mit.

Dazu beigetragen hat auch die sinkende Anzahl zu behandelnder COVID-19-Patienten. Hinzu kommt die Normalisierung der innereuropäischen Transportsituation. Dadurch kann der Großhandel wieder kontinuierlich beliefert werden, was die Versorgungslage der Apotheken verbessert hat.

Dennoch gibt es auch weiterhin versorgungsrelevante Lieferengpässe von Arzneimitteln, die man insbesondere für die Behandlung von COVID-19-Patienten benötigt. In den Kliniken nimmt der Operationsbetrieb wieder zu, damit wird auch der Arzneimittelverbrauch wieder ansteigen.

Valsartan-Rückruf aus chinesischer Produktion führte zu Versorgungskrise

Am Beispiel von Valsartan zeigte sich bereits Anfang Juli 2018, wie fatal es sich auswirken kann, wenn 50 Prozent eines Wirkstoffs auf dem Weltmarkt von nur einer Fabrik in China produziert wird.

Damals wurden europaweit alle valsartanhaltigen Arzneimittel zurückgerufen, deren Wirkstoff von dem chinesischen Hersteller Zhejiang Huahai Pharmaceutical produziert wurde. Hintergrund war eine produktionsbedingte Verunreinigung dieses Wirkstoffs mit N-Nitrosodimethylamin. Dieser Stoff ist von der Internationalen Agentur für Krebsforschung der WHO und der EU als wahrscheinlich krebserregend beim Menschen eingestuft.

Da zahlreiche namhafte Pharmahersteller ihren Wirkstoff von diesem Unternehmen bezogen, waren etliche Medikamente betroffen. In kurzer Zeit musste beispielsweise in Österreich die Hälfte aller Valsartan-Präparate vom Markt genommen werden. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar.

Nur sechs von 87 der wichtigsten Arzneimittel produziert Deutschland selbst

Derzeit werden in Deutschland von 50 pharmazeutischen Unternehmen 68 Arzneimittel mit versorgungsrelevanten Wirkstoffen (die unter besonderer behördlicher Überwachung stehen) in den Verkehr gebracht. Allerdings werden lediglich sechs von den beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aktuell gelisteten 87 Medikamenten mit erhöhtem Versorgungsrisiko in Deutschland produziert.

In ganz Europa gibt es 54 Pharmaunternehmen, die die Wirkstoffe für 68 versorgungsrelevante Arzneimittel herstellen. Insgesamt sind in Deutschland 103.000 Arzneimittel zugelassen.

Versorgungsrelevant bedeutet, das Arzneimittel ist verschreibungspflichtig und der Wirkstoff ist für die Gesamtbevölkerung von Bedeutung. Unter „besonderer behördlicher Überwachung“ meint, dass für den betreffenden Wirkstoff entweder nur ein Zulassungsinhaber oder nur ein endfreigebender Hersteller oder nur ein Wirkstoffhersteller verfügbar ist.

Auf die Frage, wo sich die meisten Hersteller von Wirkstoffen befinden, die als versorgungsrelevant und unter besonderer behördlicher Überwachung eingestuft sind, nannte die Bundesregierung Indien, China und Italien.

Bundesbehörde hat nun mehr Steuerungsmöglichkeiten

Das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medikamente änderten im Laufe der Corona-Pandemie den § 52b Abs. 3d im deutschen Arzneimittelgesetz. Seit März kann das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medikamente daher leichter Maßnahmen zur „Abwendung oder Abmilderung des Lieferengpasses“ ergreifen.

So kann angeordnet werden, dass pharmazeutische Unternehmer und Arzneimittelgroßhandlungen bestimmte Maßnahmen ergreifen, um eine angemessene und kontinuierliche Bereitstellung von Arzneimitteln sicherzustellen. Dazu gehört auch eine Begrenzung und Einteilung von Arzneimitteln für Kliniken, Arztpraxen und Apotheken.

Deutschland will Ratspräsidentschaft nutzen, um Produktion zurückzuholen

Gesundheitsminister Spahn kündigte kürzlich an, dass er die Produktion von Wirkstoffen in Europa zu einem Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zwei­ten Halbjahr machen will.

„Wir wollen neue Lieferketten aufbauen, wir brauchen mehr Trans­parenz über Lieferengpässe und mehr Qualitätskontrollen“, erklärte er. „Und wir wollen finanzielle Anreize setzen, um die Produktion wichtiger Wirkstoffe wieder nach Europa zu verlagern“, zitiert ihn das „Ärzteblatt“. Pharmaexperten schätzen, dass die Umsetzung mindestens noch zehn Jahre dauert.



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