RKI: Reproduktionszahl R ist „unscharfe Kennziffer“ für Einschätzung und Maßnahmen in der Corona-Krise
Die Reproduktionszahl – kurz R – beschreibt, wie viele Menschen ein Infizierter während seiner eigenen Erkrankung ansteckt. Sie ist damit eine wichtige Kenngröße, um die Dynamik einer Pandemie einzuschätzen. Liegt die Zahl dauerhaft über eins, breitet sich eine Krankheit in der Bevölkerung aus. Je weiter sich die Zahl von eins entfernt, desto schneller und heftiger verläuft der Trend.
In der deutschen Berichterstattung über die Corona-Krise nimmt die durch das Robert-Koch-Institut (RKI) ermittelte Zahl viel Raum ein, in den Debatten um Lockerungen der Beschränkungen gilt sie als Gradmesser. Das RKI selbst weist indes schon seit Wochen immer wieder darauf hin, die Bedeutung des Wertes und vor allem geringe zwischenzeitliche Schwankungen nicht überzubewerten.
Grober Durchschnittswert mit Zeitverzug
Tatsächlich handelt es sich bei der Reproduktionszahl um einen bundesweiten Durchschnittswert, der nach einem genau festgelegten Verfahren vom RKI laufend neu berechnet wird. Vereinfacht wird dabei die Zahl der gemeldeten Corona-Ansteckungsfälle aus zwei aufeinanderfolgenden Viertageszeiträumen miteinander verglichen, um zu sehen, wie sich die Infektionsdynamik entwickelt. Dabei gibt es allerdings statistische Unschärfen und einen Zeitverzug.
So nutzt das RKI ohnehin nur Meldedaten, die älter als drei Tage sind, damit verzögerte Übermittlungen etwa über die Wochenenden die Berechnung nicht verzerren. Darüber hinaus ist ein Zeitverzug bei der Weitermeldung von Corona-Infektionen von mehreren Tagen durch die örtlichen Gesundheitsämter nicht unüblich. Dazu kommt, dass die Erkrankung erst einmal ausbrechen und festgestellt werden muss. Faktisch bildet die aktuelle Reproduktionszahl damit stets „die Infektionsrate von vor etwa eineinhalb Wochen ab“, wie RKI-Vizepräsident Lars Schaade am Dienstag (12. Mai) erläuterte.
Kurzfristige Schwankung oder Trend?
Ferner verbergen sich hinter dem R-Wert örtlich unterschiedliche Entwicklungen. Vor allem bei insgesamt nur noch relativ geringen Neuinfektionszahlen können bereits örtliche Ausbruchsgeschehen die Zahl kurzfristig recht stark beeinflussen. Das RKI schätzt die Reproduktionszahl aktuell auf 1,07, nachdem diese vor dem Wochenende unter 1,0 lag. Für diesen Anstieg könne laut RKI die jüngst festgestellte Häufung von Corona-Fällen in Schlachthöfen mitverantwortlich sein. Über die Dynamik außerhalb der unmittelbar betroffenen Bereiche oder Regionen sagt dies aber nicht viel aus.
Experten betrachten deshalb weniger die täglichen Schwankungen in einem vergleichsweise engen Streuungsbereich. Sie interessieren sich eher für den Trend über mehrere Tage und Wochen hinweg. Das RKI will künftig zusätzlich einen „geglätteten R-Wert“ ausweisen, der die kurzfristigen Ausschläge ignoriert. Darüber hinaus erfolgt die Beobachtung zunehmend regionaler – etwa auf der Landkreisebene.
Welche Faktoren ebenfalls entscheidend sind
Bei der Beurteilung der Dramatik einer Pandemie spielen weiterhin noch ganz andere Faktoren oder Kennziffern eine Rolle, die nichts mit der Infektionsrate eines Erregers an sich zu tun haben. Wie gefährlich die Lage ist, wird in der Gesamtbetrachtung maßgeblich davon bestimmt, wie stark das Infektionsgeschehen die Bevölkerung betrifft und ob es die Kapazitäten des Gesundheitssystems sprengt.
Gleichfalls zentral ist deshalb die Zahl der aktuell auftretenden Neuerkrankungen. Auch bei einem ansonsten gleichbleibendem R-Wert spielt es einem großen Unterschied, ob täglich 50.000 weitere Ansteckungen hinzukommen oder lediglich hundert. Die Dynamik der gesamten Lage wäre nach wenigen Wochen vollkommen verschieden.
Mitentscheidend ist in diesem Zusammenhang laut RKI außerdem auch die Frage, welche Ressourcen zur Eindämmung und zur Behandlung zur Verfügung stehen. Solange die Kapazitäten von Gesundheitsämtern und Krankenhäusern ausreichen, um Infektionsketten zu verfolgen und Erkrankte zu versorgen, bleibt das Geschehen beherrschbar. Reichen die Kapazitäten nicht mehr aus, gerät eine Pandemie außer Kontrolle. Die viel zitierte Reproduktionszahl sei eben nur „ein Parameter“, resümierte RKI-Vizepräsident Schaade. (afp/ts/sua)
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