WM-Trikots als „absoluter Ladenhüter“: Zeigt Deutschland zu viel oder zu wenig „Haltung“?
Am Sonntag (20.11.) beginnt die 22. FIFA-WM in Katar. Die Fußball-Nationalmannschaft von Deutschland wird am kommenden Mittwoch mit ihrem Vorrundenspiel gegen Japan in das Turnier einsteigen. Der Verkauf von Fanartikeln verläuft bislang allerdings schleppend.
Vor allem Deutschland-Trikots – beim „Sommermärchen“ 2006 oder im Weltmeisterjahr 2014 noch Renner – hängen wie Blei in den Regalen. Auch schwarz-rot-goldene Fahnen an Autofenstern oder an Balkons sind kaum im Straßenbild präsent.
Gegenüber der „Bild“-Zeitung äußert der Sprecher des Handelsverbands Bayern (HBE), Bernd Ohlmann, das DFB-Trikot sei „ein absoluter Ladenhüter“. Sporthändler Hans Forster aus München erklärt, er habe von 100 Trikots im Lager erst zwei verkauft. Vor der EURO 2020 im Vorjahr seien es immerhin noch 20 bis 30 gewesen.
Erste FIFA-WM in der kalten Jahreszeit
Ein wesentlicher Faktor für die Flaute dürfte zweifellos die ungewohnte zeitliche Lage der diesjährigen FIFA-WM im Kalender sein. Bis dato haben sämtliche Fußball-Weltmeisterschaften in der Zeit zwischen Ende Mai und Mitte Juli stattgefunden – den Sommermonaten auf der nördlichen Halbkugel.
Die hohen Tagestemperaturen in Katar haben es diesmal jedoch erforderlich gemacht, das Turnier in die kalte Jahreszeit zu verlegen. Die Option, im Trikot auf Fanmeilen zu gehen, fällt dadurch weg. Viele Gaststättenbetreiber halten sich zudem auch an Boykottaufrufe aus Politik, Medien und Fangruppen, was weniger Public-Viewing-Möglichkeiten in Kneipen bedeutet.
Bereits im Umfeld der Vergabe im Jahr 2010 äußerten Fußballinteressierte Bedenken hinsichtlich der Vergabe des Turniers an das Golfemirat. Bestechungsgerüchte machten bereits im Zusammenhang mit dem Zuschlag an Katar die Runde.
Zeigt Deutschland zu viel oder zu wenig „Haltung“?
Derzeit überschlagen sich neben traditionellen Medien auch Sportseiten mit Negativberichterstattung über das Veranstalterland. Sie erklären das Boykottieren der FIFA-WM zu einem moralischen Imperativ, wenn man seine Solidarität mit Gastarbeitern in Katar oder der LGBTQ-Community zeigen wolle.
Ob, wie etwa die „Münstersche Zeitung“ schreibt, tatsächlich die Kritik am Veranstalterland Katar der Hauptgrund für die fehlende WM-Begeisterung ist, bleibt dennoch fraglich. In sozialen Medien klingt teilweise auch eine Erklärung an, die in eine deutlich andere Richtung weist.
Dort diagnostizieren Nutzer eher eine zunehmende Entfremdung zwischen Teilen der Bevölkerung und dem DFB-Team, die sich bereits seit Mitte der 2010er-Jahre aufgebaut habe. Damals fand das Rebranding der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in „Die Mannschaft“ statt. Die Resonanz unter den Fans war so negativ, dass der DFB im Vorjahr entschied, diese Selbstbezeichnung fallen zu lassen.
Außerdem argwöhnen manche, dass diese Entfremdung nicht durch zu wenig, sondern zu viel „Haltung“ des Teams in gesellschaftspolitischen Dingen bedingt ist. So meint ein Nutzer über die Verkaufsflaute bei Deutschland-Trikots:
Das wundert mich überhaupt nicht, bei diesem Verhalten der ‚Mannschaft‘ und des DFB. Da kann sich doch keiner mehr mit identifizieren, wenn Sport in den Hintergrund gerät und Politik und Ideologie in den Vordergrund rücken.“
Nach der FIFA-WM 2014 kam die Politisierung
Tatsächlich klagten Fachhändler bereits seit der EURO 2016 über einen zunehmenden Rückgang der Nachfrage nach Fanartikeln. Zwar ließ sich der Rückgang des Trikot-Absatzes von drei Millionen auf eine Million von der FIFA-WM 2014 zur EURO 2016 noch mit der Ausnahmesituation des WM-Titels erklären.
Bei der WM 2018 und der EURO 2020 war die Nachfrage jedoch ebenfalls eingetrübt. Im Umfeld beider Turniere war jedoch ein enormes Maß an Politisierung des Fußballs und der Turniere selbst zu beobachten.
Neben der politisch motivierten Kampagne gegen WM-Gastgeber Russland erlebte Deutschland auch DFB-interne Debatten, die Fans von der Nationalmannschaft entfernten. Eine davon war jene um den 92-fachen Teamspieler Mesut Özil, der dem Fußballverband vorwarf, ihn unter Bekenntniszwang zu setzen und nicht gegen Rassismus zu verteidigen. Özil erklärte damals, nicht mehr für die Nationalmannschaft zur Verfügung zu stehen.
Fußball in Deutschland als Botschafter woker Werte?
Während der EURO 2020 sorgten wiederum Übergriffigkeiten gegen die Gastmannschaft aus Ungarn für Kontroversen. Die UEFA musste einschreiten, um eine gezielte Provokation gegen das Gastland in Form einer Stadionbeleuchtung in Regenbogenfarben zu unterbinden. Darüber hinaus kam es zu Störungen während der ungarischen Hymne.
Noch in der Zeit des „Sommermärchens“ 2006 war der unpolitische, unbefangene Umgang weiter Teile der Bevölkerung mit Schwarz-Rot-Gold linken Kreisen ein Ärgernis. Mittlerweile stehen der DFB und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft für woke Werte. Das Niederknien als Zeichen an die „Black Lives Matter“-Bewegung ist ebenso eine Selbstverständlichkeit wie die Solidarisierung mit der LGBTQ-Community. Ein Feindbild ist der deutsche Fußball für progressive Kräfte damit längst nicht mehr.
Möglicherweise hat der Fußball in Deutschland mit seiner zunehmenden politischen Positionierung zu viele Menschen vor den Kopf gestoßen. Eine Begeisterung wie in der Zeit von 2006 und 2014 scheint derzeit jedenfalls auch abseits des Katar-Faktors in weite Ferne gerückt.
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