Wissenschaftler mahnen: Kita-System droht der Zusammenbruch

Es fehlt an Geld, Personal und Platz, schreiben mehr als 300 Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Organisationen. Sie alle fordern die Politik zum schnellen Handeln auf und warnen vor schweren Folgen. Überfüllte Gruppen sorgen für Stress und Erschöpfung bei Personal und Kindern.
Zu Verbesserung der Qualität in Kitas wurden mehrere Handlungsfelder festgelegt, jedoch müssen anderen Bereiche Abstriche machen. (Archivbild)
Oft zu wenig Platz, zu wenig Personal ohnehin: Nun fordern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Organisationen die Regierung zum schnellen Handeln auf, damit das Kita-System nicht kollabiert.Foto: Monika Skolimowska/dpa
Von 5. September 2024

Mehr als 300 Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Organisationen prangern in einem offenen Brief die Überlastung vieler Kindertagesstätten in Deutschland an. Das Schreiben, über das die „Zeit“ berichtet, wendet sich an die Parteispitzen der Bundesregierung und soll am Donnerstag veröffentlicht werden.

Psychische Auffälligkeiten haben zugenommen

Die Wissenschaftler warnen vor den negativen Auswirkungen von Stressbelastung in den ersten Lebensjahren vieler Kinder in Deutschland und einer Gefährdung des Kindeswohls, schreiben Agenturen. Aufgrund von Personalmangel und überfüllten Gruppen zeigten bereits Ein- und Zweijährige Zeichen von Erschöpfung und Unwohlsein. In dem offenen Brief heißt es: „Die Folgen für Kinder, Eltern, Fachkräfte und die gesamte Gesellschaft sind jetzt schon durch eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten sowie eine wachsende Bildungslücke – insbesondere bei von Armut betroffenen oder bedrohten Kindern – fast irreparabel.“

Der aktuelle Kita-Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes unterstreiche die „alarmierende Situation“ in den Kitas. Er zeige „sehr deutlich“, dass sich die Rahmenbedingungen zwischen 2021 und 2023 in den meisten Einrichtungen „drastisch verschlechtert“ hätten. 68 Prozent der Befragten könnten mit dem tatsächlichen Personalschlüssel nicht angemessen auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. Insbesondere Kitas in benachteiligten Sozialräumen gaben an, dass sie besonders davon betroffen sind. Es reichten weder Personal noch die Ausstattung (räumlich wie materiell) aus, um auf die Bedürfnisse der Kinder reagieren zu können.

An einer im vergangenen Jahr gestarteten Umfrage des Paritätischen Gesamtverbandes hatten sich 1.760 Kindertageseinrichtungen aus ganz Deutschland beteiligt. Fast die Hälfte, so heißt es in dem Brief weiter, gab an, dass auch die bereitgestellten Gelder nicht ausreichten, um den Mädchen und Jungen eine ausgewogene Ernährung zu sichern. „Das sind eindeutig wenig bedürfnisorientierte und entwicklungsförderliche Tendenzen“, betonen die Verfasser.

Es fehlt an Unterstützung bei der kindlichen Sprachentwicklung

Auch weitere Zahlen zeigen die prekäre Situation. So ist fast jede zweite der beteiligten Einrichtungen (45 Prozent) zu klein. In den Räumen haben die Kinder kaum die Möglichkeit, ihren Bewegungsdrang auszuleben. Mangelnder Lärmschutz werden in 59 Prozent, fehlender Hitzeschutz in 56 Prozent angegeben.

In 32 Prozent der Kitas benötigt mehr als ein Drittel der Kinder eine besondere Unterstützung beim Lernen der deutschen Sprache. Bei der vorhergehenden Umfrage im Jahr 2021 waren es 25 Prozent. Vor zwei Jahren gaben bereits 52 Prozent der Einrichtungen an, dass der Förder- bzw. Unterstützungsbedarf bei der kindlichen Sprachentwicklung mit dem zur Verfügung stehenden Personal nicht zu bewältigen ist. Zwei Jahre später hat sich dieser Wert auf 69 Prozent erhöht.

In 35 Prozent der Kindertagesstätten sprechen die Mädchen und Jungen drei bis fünf Sprachen. Sechs oder mehr Sprachen werden in 43 Prozent gesprochen – Deutsch ist jeweils noch hinzuzählen.

Für die Verfasser des Brandbriefes sind das „eindeutig wenig bedürfnisorientierte und entwicklungsförderliche Tendenzen“. Die aktuelle Situation widerspreche grundlegend den Grundbedürfnissen und Rechten von Kindern. Sie benötigten stabile Bezugspersonen und verlässliche Strukturen, in denen auf ihre Belange eingegangen werde.

Einen Zusammenbruch des Systems verhindern

Um den „drohenden Zusammenbruch des Systems abzuwenden“, fordern die Verfasser umgehend erhebliche Investitionen und mittelfristig eine kontinuierliche Erhöhung der Ressourcen, sonst drohe ein Kollaps. Die bildungsökonomische Forschung der vergangenen Jahre habe gezeigt, dass vor allem frühkindliche
Bildungsangebote langfristig wirksam seien, da Kinder davon über ihr gesamtes Leben profitieren.

Eine gute Versorgung und Betreuung habe schließlich auch positive Auswirkungen auf die Volkswirtschaft. So komme jeder investierte Euro durch zum Beispiel höhere Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen drei- bis vierfach in die Gesellschaft zurück. Die Effekte zeigten sich besonders bei Kindern aus bildungsbenachteiligten Familien, „in denen nicht die Sprache der Mehrheitsbevölkerung gesprochen wird“. Bildungs- und Betreuungsangebote müssten allerdings „qualitativ hochwertig“ sein. Nur so könnten kognitive und sozial-emotionale Defizite ausgeglichen werden.

Ein stärkeres finanzielles Engagement des Bundes sei daher unabdingbar. Die mehr als 300 Unterzeichner fordern daher mehr Geld und das im Koalitionsvertrag vereinbarte Qualitätsentwicklungsgesetz „mit einer kontinuierlichen finanziellen Förderung des Bundes und einheitlichen Qualitätsstandards jetzt auf den Weg zu bringen“. Das „Kita-Qualitätsgesetz“ war erst im August 2024 verabschiedet worden. Demnach unterstützt der Bund die Länder in den kommenden beiden Jahren mit insgesamt vier Milliarden Euro, um die Qualität in der Kindertagesbetreuung „weiter zu verbessern“.

Bis 2030 sind bis zu 90.000 Stellen unbesetzt

Auch solle das Bundesfamilienministerium ihre „Gesamtstrategie Fachkräfte in Kitas und Ganztag“ um kurzfristige Maßnahmen ergänzen sowie mit einem Sondervermögen finanziell ausreichend ausstatten.

In dem Papier heißt es beispielsweise, dass bis zum Jahr 2030 allein in westdeutschen Kindertageseinrichtungen zwischen 50.000 und 90.000 Stellen nicht besetzt werden können, weil Fachpersonal fehlt. Der Koalitionsvertrag sehe vor, dass Bund und Länder ein Konzept zur Fachkräftesicherung entwickeln. Das Ministerium habe Empfehlungen erarbeitet, mit denen Fachkräfte für das „Berufsfeld gewonnen und in diesem gehalten werden können“.

Mehr Personal, mehr Platz, mehr Material und auch künftig eine Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Forschern zur Begleitung und Analyse von Qualitätsprozessen runden den Forderungskatalog ab. „Deutschland wird nicht nur an Wohlstand, sondern auch an Zusammenhalt verlieren, wenn wir nicht alle Kinder so fördern, dass sie einen guten Platz in der Gesellschaft bekommen“, heißt es abschließend.

Initiiert haben den offenen Brief Rahel Dreyer, Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin, und Michael Schulte-Markwort, Kinder- und Jugendpsychiater an der Medical School in Hamburg. Unter den Unterzeichnern sind namhafte Entwicklungspsychologen, Kindheitspädagogen, Bildungsforscher und Mediziner.

(Mit Material von Agenturen)

 



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