Wie sicher sind die Kernkraftwerke in Deutschland?

Was bedeutet ein Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke technisch? Welche Risiken bestehen? Das fragten wir Uwe Stoll, den technisch-wissenschaftlichen Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit.
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Kernkraftwerk in Neckarwestheim, Baden-Württemberg. Symbolbild.Foto: THOMAS KIENZLE/AFP via Getty Images
Von 1. Oktober 2022

Die aktuelle Energiekrise und die dadurch verstärkten Risiken für die Stromversorgung in Deutschland entfachen die Diskussion neu, wie es mit den verbliebenen drei Kernkraftwerken weitergehen soll.

Im Interview mit Uwe Stoll, dem technisch-wissenschaftlichen Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, sprachen wir über den technischen Zustand der KKWs in Deutschland, was ein Weiterbetrieb technisch bedeuten würde und welche Risiken bestehen. Die Fragen stellte Erik Rusch.

Herr Stoll, der Verband Kerntechnik Deutschland erklärte kürzlich, dass ohne eine rasche Bestellung von neuem Brennstoff ein Weiterbetrieb der drei KKWs auf nur noch wenige Wochen beschränkt wäre. Wie sehen Sie das?

Die drei noch betriebenen Reaktorblöcke werden zum 31.12.2022 nach unserem Kenntnisstand bereits im Streckbetrieb sein (Neckarwestheim II und Emsland) oder diesen gerade beginnen (Isar 2). Wie lange genau ein Weiterbetrieb im Einzelnen möglich wäre, müsste bei den Betreibern erfragt werden.

Für Isar 2 hat das der TÜV Süd in einem Gutachten beschrieben. Ein Streckbetrieb ist aber grundsätzlich nur für maximal 100 Tage möglich. Für einen weiteren Betrieb sind neue Brennelemente nötig, die erst beschafft werden müssten.

Die Brennelementhersteller geben eine Lieferzeit von sechs bis zwölf Monaten an. Ein Kernkraftwerk im Streckbetrieb produziert Strom. Dieser Strom wird zum größten Teil ins Netz eingespeist und ein kleiner Teil zur Eigenversorgung verwendet. Ein Kernkraftwerk im Normalbetrieb ist also selbst autark. Risiken und Schwierigkeiten sehe ich keine.

Können Sie unseren Lesern das Problem der Konzentration von Borsäure schildern? Bei einer geplanten Stilllegung und einem möglichen Weiterbetrieb (mit Hochfahren der Reaktoren) spielt dieser Stoff eine wichtige Rolle.

Wenn ein Reaktorkern [zwecks Stilllegung] heruntergefahren wird, gibt man Borsäure in das Kühlwasser hinzu. Die Borsäure dient dazu, freie Neutronen einzufangen, welche die Kernspaltung auslösen. Das ist also eine Sicherheitsmaßnahme, um den Reaktorkern sicher abgeschaltet zu halten.

Will man einen Reaktorkern, der sich am Ende seines Betriebszyklus bereits im Streckbetrieb befand, nun wieder anfahren, muss die Borsäure im Kern auf nahezu null reduziert werden. Das erreicht man systemtechnisch durch Verdünnen. Für den Verdünnungsprozess muss man deutlich mehr als eine Woche einplanen, da dafür eine große Menge (circa 2.000 t) destilliertes Wasser benötigt wird. Die Kapazitäten für die Herstellung und Lagerung von destilliertem Wasser sind im KKW allerdings begrenzt, wodurch sich die lange Hochfahrzeit von einer Woche ergibt.

Ein konkretes sicherheitstechnisches Problem sehe ich nicht, aber ich möchte betonen, dass wir in Deutschland mit einer solchen Art des Wiederhochfahrens keine Erfahrungen haben. In der Kernenergie versucht man Situationen zu vermeiden, mit denen man keine Erfahrung hat.

Was bedeutet es – technisch gesehen – Kernkraftwerke in Notreserve zu halten? Wie lange braucht man, um sie so hochzufahren, dass sie wieder die maximale Stromkapazität produzieren können? 

Unter dem Begriff „Notreserve“ versteht das Bundeswirtschaftsministerium, dass die genannten Anlagen keinen Strom produzieren und drucklos im kalten Zustand bereitstehen, um auf Weisung wieder die Stromproduktion aufzunehmen.

Um ein KKW aus diesem Zustand wieder zur maximalen Stromproduktion zu bringen, muss man deutlich mehr als eine Woche einplanen. Ein wiederholtes An- und Abfahren ist laut Wirtschaftsministerium nicht vorgesehen. Beliebig oft An- und Abfahren kann man ein Kernkraftwerk, das sich bereits im Streckbetrieb befindet und dementsprechend wenig spaltbares Uran im Reaktorkern hat, nicht.

Ist der Weiterbetrieb der noch aktiven drei KKWs aus technischer Sicht ohne Sicherheitsbedenken möglich? 

Ein Streckbetrieb wäre aus meiner Sicht technisch ohne Sicherheitsbedenken machbar. Wollte man die drei Reaktoren tatsächlich über mehrere Jahre weiter betreiben, wären in jedem Fall die üblichen sogenannten wiederkehrenden Prüfungen durchzuführen. Zudem müssten nach dem deutschen Atomgesetz vorgesehene sogenannte „Periodische Sicherheitsüberprüfungen“ nachgeholt werden.

Denkbar wäre zudem, die drei Ende 2021 heruntergefahrenen Reaktorblöcke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C wieder anzufahren – vorausgesetzt, die bislang durchgeführten Stilllegungsarbeiten lassen das zu. Das wäre natürlich genau zu prüfen.

Außerdem müssten für den Weiterbetrieb dieser Anlagen auch Brennelemente beschafft werden. Bei den vorher stillgelegten Anlagen sind die Stilllegungsarbeiten schon so weit fortgeschritten, dass eine erneute Inbetriebnahme ausgeschlossen ist.

Minister Habeck hatte kürzlich darauf verwiesen, dass das KKW Emsland einen gewissen Beitrag zur Netzstabilität leisten könne. Aber dieser Beitrag sei – aus seiner Sicht – gemessen an den beiden süddeutschen Kraftwerken zu gering. Einen Reservebetrieb schloss er daher aus. Ergibt dies aus ihrer Sicht Sinn?

Die Netzbetreiber empfehlen, alle Möglichkeiten zur Erhöhung der Stromerzeugung auszunutzen.

Mit den schwerwiegenden Reaktorunfällen in Fukushima und Tschernobyl wurden 2011 die schwerwiegenden politischen Entscheidungen zum beschleunigten Atomausstieg begründet. Wie wahrscheinlich sind ähnliche Szenarien in deutschen Kernkraftwerken? 

Nach den Unfallereignissen in Fukushima wurden alle damals in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke in der EU, darunter auch die deutschen, dem sogenannten EU-Stresstest unterzogen [zusätzlich zu der Sicherheitsüberprüfung durch die Reaktor-Sicherheitskommission].

Ein Szenario wie in Tschernobyl ist aufgrund der völlig unterschiedlichen Reaktortypen in den zurzeit in Deutschland betriebenen Kernkraftwerken auszuschließen. Ein Unfall als auslösendes Ereignis wie in Fukushima ist in Deutschland nicht zu erwarten, zudem sind die deutschen Reaktoren hinsichtlich der Redundanz der Notstromversorgung sowie der Beherrschung eines hypothetischen Unfallereignisses robuster ausgelegt als die in Fukushima Daiichi havarierten.

Wie viele relevante Sicherheitsvorfälle gab es mit deutschen KKWs und welche Schwere hatten sie?

Eine Übersicht aller meldepflichtigen Ereignisse in deutschen Kernkraftwerken findet sich auf dieser Seite. Der überwiegende Teil dieser Ereignisse wird allerdings auf der International Nuclear and Radiological Event Scale (INES) der Stufe 0 (ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung) zugeordnet. [Die Reaktorunfälle in Fukushima und Tschernobyl wurden mit Stufe 7 bewertet, der höchsten INES-Stufe.]

Nach welchem Zeitraum müssen neue Brennelemente ausgewechselt werden und wie oft kann man sie nutzen, bis sie endgültig in einem Endlager landen?

Ein Betriebszyklus dauert in der Regel circa zwölf Monate. In den zwischen den Betriebszyklen stattfindenden jährlichen Revisionen wird ein Teil der Brennelemente ausgetauscht. Ein Brennelement wird in der Regel nach vier bis fünf Zyklen endgültig ausgetauscht.

Das Interview führte Erik Rusch.

Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gGmbH ist seit 1977 Deutschlands zentrale Fachorganisation auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit. Die gemeinnützige Gesellschaft gehört zu 46 Prozent der Bundesrepublik Deutschland und zu 46 Prozent den Technischen Überwachungsvereinen (TÜV). Jeweils 4 Prozent der Anteile halten die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Bayern. Sie finanziert sich im Wesentlichen durch öffentlich geförderte Forschungsprojekte und Gutachten. Hauptauftraggeber beziehungsweise -mittelgeber sind verschiedene Bundesministerien und Landesbehörden, die Europäische Kommission und nukleare Aufsichtsbehörden verschiedener Länder.

Der Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung der EPOCH TIMES, Ausgabe 64, vom 1. Oktober 2022.



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