Wer im Sozialstaat kassiert – Debatte um Nettosteuerzahler kehrt zurück

Die Haushaltskrise und die Bauernproteste fachen erneut Verteilungsdebatten in Deutschland an. Diese drehen sich um staatliche Transfers und Subventionen. Während die einen „Verteilungsgerechtigkeit“ anmahnen, wollen andere den „Nettosteuerzahler“ schützen.
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Euro banknotes and coins for tax purposes
Von 10. Januar 2024

Mit den Bauernprotesten und der Haushaltskrise ist auch die Debatte um sogenannte Nettosteuerzahler in die Öffentlichkeit zurückgekehrt. Gegner der Bauernproteste kritisieren, dass diese für eigennützige Zwecke das Land lahmlegten. Immerhin, so die Argumentation, würden sie lediglich für den Erhalt einer Steuervergünstigung und damit einer Subvention protestieren.

Die Gegenseite weist wiederum darauf hin, dass es meist Politiker und Beamte seien, die so argumentierten. Diese gehörten selbst zu jenen Bevölkerungsgruppen, die ihre Einkommen aus öffentlichen Haushalten bezögen – und damit aus Mitteln der Steuerzahler. Vor allem in den Reihen der Grünen seien in überdurchschnittlichem Maße Personen zu finden, die ihren Lebensstandard Beamtengehältern oder öffentlichen Aufträgen verdankten.

Nettosteuerzahler als schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe

Die nun wieder aufgeflammten Debatten sind nicht neu. Einerseits wird der „Schutz der Leistungseliten“ ins Treffen geführt. Diese sollen davor bewahrt werden, für ihre Produktivität dadurch bestraft zu werden, dass demokratische Mehrheiten willkürlich auf ihr Eigentum und ihr Vermögen zugreifen.

Extreme Stimmen aus diesem Lager fordern sogar, Nettosteuerzahler dadurch zu schützen, dass man Nettoleistungsempfängern das Wahlrecht entzieht. Als Nettosteuerzahler gelten Personen, die „insgesamt mehr Geld an den Staat zahlen, als sie über Leistungen von ihm erhalten“. Nicht zu dieser Gruppe gehört demnach ein breites Spektrum vom Bürgergeldempfänger über den Rentner bis zum Beamten.

Auf der anderen Seite scheint mancherorts ein Gemeinschaftsverständnis vorzuherrschen, das dem Staat mehr oder minder ein natürliches Recht zugesteht, auf das Vermögen seiner Bürger zuzugreifen. Einige X-Nutzer sehen ein solches auch hinter dem Vorwurf an die nun protestierenden Bauern, „Subventionen“ für sich erhalten zu wollen. Tatsächlich gehe es um Steuern, die erstattet würden.

Deutschland als Anwendungsfall der Cloward-Piven-Strategie?

Derweil herrscht Uneinigkeit darüber, wie hoch der Anteil der Nettosteuerzahler und jener der Empfänger von staatlichen Zuwendungen insgesamt sei. Einige Rechnungen gehen davon aus, dass etwa die Hälfte der Einwohner des Landes Geldmittel aus öffentlichen Haushalten erhält.

Andere, zum Teil einige Jahre ältere Artikel sprechen gar davon, dass es nur noch 15 Millionen „Nettosteuerzahler“ gebe, die 68 Millionen miternährten. Von den etwa 46 Millionen Erwerbstätigen im Land zahlen demnach 27 Millionen mehr Steuern und Abgaben, als sie staatliche Leistungen erhielten. Von diesen müsse man auch zwölf Millionen Menschen abziehen, da sie etwa als Beamte direkt oder indirekt vom Staat abhängig seien.

Zwischen diesen und weiteren Nettoleistungsempfängern wie Bürgergeldbeziehern oder Rentnern bestehe eine Art Interessengemeinschaft zur Aufrechterhaltung des Verteilungsapparates. Dies sei, so die Argumentation, der Anfang vom Zusammenbruch des sozialen Gefüges.

Einige sehen sogar eine politische und ideologische Strategie hinter einer stetigen Ausweitung staatlicher Transferpolitik. Zumindest in den USA haben die Soziologen und politischen Aktivisten Richard Cloward und Frances Fox Piven 1966 dies selbst zum Ausdruck gebracht. In einem Artikel aus dem Jahr erklärten sie, dass eine gezielte Ausweitung von Krisen, gepaart mit einer stetigen Ausweitung sozialstaatlicher Ansprüche, den „Zusammenbruch des Kapitalismus“ bewirken würde.

Die bestehende Wirtschaftsordnung und eine überbordende Verteilungsbürokratie würden die Krisen nicht mehr bewältigen können. Am Ende würde das bestehende System zusammenbrechen und könnte zu einem bedingungslosen Grundeinkommen führen. Der Staat würde dann die Wohlfahrt für seine Bürger garantieren und im Gegenzug die Kontrolle über deren Wohlverhalten ausüben.

Transferleistungen und Subventionen stehen keine unmittelbaren Gegenleistungen gegenüber

Trotz einer erheblichen Ausweitung staatlicher Transferleistungen ist Deutschland von einer solchen Situation noch weit entfernt. Zudem erscheint die Rechnung nach Einschätzung von Kritikern als unterkomplex.

Grundsätzlich sind schon Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen zum Teil unscharf. Transferzahlungen und Subventionen sind zwei verschiedene Arten von Zahlungen, die der Staat an private Haushalte und Unternehmen leistet.

Transferzahlungen sind Zahlungen des Staates an private Haushalte. Ihnen steht zum Zeitpunkt ihrer Erbringung keine ökonomische Gegenleistung gegenüber – oder zumindest keine, deren Mehrwert sich unmittelbar erschließt. Allerdings haben etwa Rentner zuvor Beiträge ihres Arbeitseinkommens in die gesetzliche Rentenversicherung einbezahlt, die seit der Zeit des Kaiserreichs besteht.

Auch Leistungen wie Bürgergeld oder Wohngeld gehen zum Teil an Personen, die ebenfalls zuvor Abgaben aus Arbeitseinkommen entrichtet hatten. Zum Teil erbringen sie Arbeitsleistungen – wie Aufstocker oder Geringverdiener. Außerdem fließt ein großer Teil der an sie bezahlten Leistungen umgehend in den Konsum zurück.

Subventionen wiederum sind Zuwendungen oder Vergünstigungen gegenüber Unternehmen mit dem Ziel, diese zu unterstützen oder zu fördern.

Abgrenzung in einigen Bereichen schwierig – und nicht permanent gültig

Was die Gehälter für Beamte anbelangt, ist zu erwähnen, dass zwar in diesem Fall Gehälter aus staatlichen Haushalten fließen, allerdings sind deren Empfänger auch einkommensteuerpflichtig. Und in einigen Fällen dienen ihre Leistungen auch der Sicherheit privaten Eigentums und privater Wirtschaftstätigkeit, so beispielsweise im Fall der Arbeit von Polizeibeamten.

Schwierigkeiten in der Abgrenzung zwischen Nettosteuerzahler und Nettoleistungsempfänger bieten auch manche privaten Einrichtungen mit Gemeinnützigkeitsstatus. Vor allem in der Kinderbetreuung oder im Schulwesen spielen diese eine nicht unbedeutende Rolle. Es stellt sich wie auch in anderen Bereichen hier die Frage, ob deren Leistungen leichter und für den Verbraucher günstiger zu haben wären, würde hier ausschließlich privatwirtschaftliches Engagement zum Tragen kommen.

Privatwirtschaftlich organisiert sind zudem auch unter anderem Forschungsinstitute oder Einrichtungen, die öffentliche Aufträge erhalten. Dazu kommt die Einbindung privater Unternehmen und Einrichtungen in öffentlich-private Partnerschaften. In vielen Fällen dürfte eine Nettorechnung bezüglich der Empfängereigenschaft staatlicher Leistungen schwer anzustellen sein.

So würde ein privater Bildungsdienstleister, der im Auftrag des Staates Integrationskurse anbietet, zu einem gewissen Teil von staatlichen Aufträgen abhängig sein. Je nachdem, welchen Stellenwert diese einnehmen, würde sich das Verhältnis zwischen Abführen von Steuern und Generieren von Einkünften aus Steuermitteln verändern.

DIW: Abseits der Sozialversicherung wären mehr als 80 Prozent „Nettosteuerzahler“

In Summe zeigen all diese Beispiele: Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Nettosteuerzahler und Nettosteuerempfänger ist nicht in jedem Fall möglich. Zudem kann sich das Verhältnis temporär oder auch je nach Lebensphase ändern.

Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erklärte gegenüber der „Tagesschau“, dass den gezahlten Steuern und Abgaben auch Leistungen gegenüberstünden, die von jedermann genutzt würden. Dazu gehörten Einrichtungen der Infrastruktur oder auch Polizei und Gerichte. Außerdem stellten viele Sozialabgaben Versicherungsleistungen dar, die auf dem freien Markt nicht im gleichen Umfang oder zum gleichen Preis zu erhalten seien.

Der Status vom Nettosteuerzahler und -empfänger verändere sich im Leben eines Menschen mehrfach. Neben etwa 22 Millionen Rentenempfängern gebe es auch 14,25 Millionen Minderjährige, die noch nicht erwerbstätig seien.

Tobias Hentze vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) weist zudem auf nicht progressive Steuern hin. Diese würden Bezieher geringerer Einkommen, die häufig Transfers erhielten, im Gegenzug prozentual stärker belasten. Ein Beispiel dafür sei die Umsatzsteuer. Einer Studie des IW aus dem Jahr 2020 zufolge sei etwa die Hälfte der deutschen Haushalte Nettosteuerzahler.

Das DIW kommt in einer eigenen Studie auf einen Anteil von 55 Prozent. Ohne Sozialversicherungsbeiträge und -leistungen wären es sogar mehr als 80 Prozent. Im EU-Schnitt hoch sei in Deutschland jedoch definitiv die Staatsquote.

Breite Solidarität mit den Bauern ist kein Ausdruck einer Verteilungsdebatte

Ob die Debatten um „Verteilungsgerechtigkeit“ oder um den genauen Anteil der Nettosteuerzahler am Ende nennenswerte Erkenntnisse oder Ergebnisse bringt, ist ungewiss. Vieles spricht dafür, dass diese am Kern des eigentlichen Problems vorbeigeht. Das sehen viele in staatlicher Selbstermächtigung.

Würde es beim Protest der Bauern nur um den Erhalt einer Steuervergünstigung gehen, wäre zum einen kaum mit einer so starken Mobilisierung zu rechnen. Zum anderen wäre die öffentliche Solidarität mit den Landwirten deutlich geringer.

Es scheint sowohl den protestierenden Bauern als auch jenen Teilen der Bevölkerung, die sie unterstützen, um etwas anderes zu gehen. Die vergangenen Jahre waren vorwiegend davon geprägt, dass politische Projekte Freiheit und Wohlstand von Bürgern einschränkten. Dies reichte von den Beschränkungen der Corona-Zeit über die immer höheren Belastungen im Zeichen von Klimaschutz und Nachhaltigkeit bis hin zur Teuerung infolge des Bruchs mit Energieversorger Russland.

Was ist das eigentliche Problem – die Finanzierungslast der „Transformation“ oder diese selbst?

Es war eine Entscheidung der Politik, Erwägungen des Gesundheitsschutzes in der Corona-Zeit zumindest phasenweise über Grund- und Freiheitsrechte der Bürger zu stellen. Ebenso ist die sogenannte Transformation unter dem Banner der „Nachhaltigkeit“ ein Projekt der Politik.

Diese sieht den Umstand, dass sich keine klare parlamentarische Mehrheit dagegen mobilisieren lässt, als Ausdruck eines Konsenses der Regierten. Gleiches gilt für den Ukraine-Krieg, dessen Wurzel in einem nicht verfassungskonformen Machtwechsel 2014 in Kiew liegt, der von westlichen Ländern entgegen allen Warnungen gebilligt wurde.

In einigen Fällen hat das Grundgesetz selbst der politischen Selbstermächtigung die Türen geöffnet. Immerhin beließ es der Politik ausreichend Optionen, sich selbst über Staatszielbestimmungen Macht zu verleihen und diese gegen Individualrechte der Bürger auszuspielen. Der Umweltschutz ist dafür ebenso ein Beispiel wie die „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums. Die Debatte um „Kinderrechte“ ist das nächste Kapitel.

Möglicherweise ist deshalb nicht die Frage nach dem Schutz von „Leistungseliten“ in Gestalt der „Nettosteuerzahler“ die entscheidende, wenn es um den Erhalt von Freiheit gegenüber einer übergriffigen Demokratie geht. Vielmehr scheint das Problem in der Frage nach der Zulässigkeit staatlicher Selbstermächtigung zum Zweck der Verwirklichung von „Ideen“ zu liegen.



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