Wer erbt Merkels Krone?
Kurz vor der Bundestagswahl steht alles offen, Politiker reden daher von einer „Richtungswahl“. Die Karten der deutschen Politik werden völlig neu gemischt – manche rechnen sogar damit, dass die Regierungsbildung mehrere Monate dauern wird. „Es ist wie bei ‚Game of Thrones‘“, sagt Constantin Wurthmann von der Uni Düsseldorf. „Keiner weiß etwas.“
Nach Angela Merkels Abschied von der politischen Bühne beschäftigen nicht nur Deutschland zwei grundlegende Fragen, sondern ganz Europa, gar die ganze Welt. Wer erbt Merkels Krone? Und welche politische Richtung schlägt das Land ein?
Merkels Erbe
Das internationale Nachrichtenmagazin „Monocle“ rät in einem Artikel seinen Lesern, kurz inne zu halten und zu überlegen, wie die Welt aussah, als Angela Merkel 2005 an die Macht kam.
Das war die Zeit, bevor die Finanzkrise die Welt erschüttert hat, vor dem Brexit, vor der Trump-Ära, vor Black Lives Matter, vor der Pandemie. Es war eine Zeit, in der Zuhören, Kompromisse und Kompetenz in Mode waren. „Und es war ein Umfeld, in dem eine nüchterne, vernünftige Führungspersönlichkeit wie Angela Merkel, die stolz darauf ist, die Ordnung aufrechtzuerhalten, gedeihen konnte.“
Sie hielt mit ihrer diplomatischen Art Europa zusammen, sagt Katarina Barley. Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlamentes hätte sich jedoch mehr Durchsetzungsvermögen von Merkel gewünscht, vor allem in der Verteidigung der europäischen Werte. „Für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Das hat sie nicht genug getan“, so Barley.
In der heutigen Zeit reicht womöglich ihre diplomatische Art jedoch nicht mehr aus. Es wird erwartet, dass Politiker „einen festen Standpunkt vertreten“. Merkels Prämisse war Stabilität und Einigung – und das immer „in einem europäischen Kontext“. Die „Führerin der freien Welt“ hat immer den Staus Quo, das „Weiter so“ bewahren wollen – für den nächsten Kanzler ist das jedoch keine Option mehr.
Doch was ist das Erbe der Merkel-Ära? „Dass Deutschland eine größere Rolle in der Welt spielen soll“, meint Jana Puglierin, Leiterin des Berliner Büros des Europäischen Rates für Auswärtige Angelegenheiten. Der „Economist“ findet hingegen, dass Deutschland „immer noch auf der Suche nach seinem Platz in der Welt“ sei, vor allem bezogen auf außenpolitische Angelegenheiten. Für die internationale Wochenzeitung ist klar, dass die Bundestagswahl keinen Einfluss auf die Außenpolitik des Landes haben wird.
Die nächste deutsche Regierung sollte sich damit jedoch befassen, meint der „Economist“. Sie muss die seit langem geführte Debatte über „die Ausstattung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen lösen“, die Cyber-Sicherheit Deutschlands stärken und seine Rolle „bei der nuklearen Teilhabe in der NATO überdenken“. Sie muss auch eine neue China-Politik formulieren, die dem amerikanischen Druck und der wachsenden China-Skepsis der deutschen Wirtschaft Rechnung trägt.
Stabilität und Kompromisse
Doch im Großen und Ganzen wollen die potenziellen Nachfolger Merkels keine zu radikalen Änderungen und geben „Lippenbekenntnisse zu ihrem Konzept von Stabilität und Kompromiss“ ab, meint „Monocle“. Sogar Annalena Baerbock von den Grünen, die die radikalsten Änderungen in ihrer Wahlkampagne versprach, sagte im Mai: „Deutsche Außenpolitik geht nur europäisch“ und blieb damit auf der Linie, die Merkel 16 Jahre lang vorgab.
Wie sieht die Medienwelt die Kanzlerkandidaten im Einzelnen? „Monocle“ schreibt ernüchternd, dass weder Armin Laschet (CDU), noch Annalena Baerbock (Grüne) oder Olaf Scholz (SPD) das gleiche Ansehen und Beziehungsnetz haben wie Angela Merkel – insbesondere in der Außenpolitik nicht. Scholz wird jedoch eine gewisse Erfahrung zugeschrieben.
Demgegenüber verleiht „The Guardian“ dem Kandidaten der SPD mehr Anerkennung. „‚Scholzomat‘ gibt der SPD neue Hoffnung auf die Merkel-Nachfolge“, schreibt die linksfrequentierte britische Zeitung. Scholz könnte sogar der nächste Kanzler werden, auch wenn seine Partei hinter der CDU abschneidet. Um die Mehrheit im Bundestag zu erreichen, müsste sie die Freien Demokraten überzeugen, sich nicht mit der CDU zu verbünden, sondern „die wirtschafts- und steuerfeindliche FDP zu einer Machtteilung mit den Grünen zu bewegen“.
Der „Economist“ beschreibt die Situation der Koalitionsbildung als „kompliziert“, sogar für gut informierte Wähler. Es gab Zeiten, in denen die CDU und die CSU mit der FDP zusammen das „konservative Lager“ gebildet haben und die SPD mit den Grünen „progressiv“ eingestellt war. „Aber die großen Parteien sind schwächer geworden, und es sind neue Parteien entstanden.“ Dies zwang die großen Volksparteien dazu, Koalitionen zu bilden, und genau das macht die politische Situation in Deutschland so kompliziert – dieses Jahr mehr denn je.
Bei dem ersten Triell am 29. August war unter den drei Kanzlerkandidaten „der Funke nicht übergesprungen“, was dem „Economist“ zufolge daran liegt, dass zwei der drei Parteien höchstwahrscheinlich eine Koalition in der neuen Regierung bilden müssen. Und da solch eine Koalition auch nicht die Mehrheit bildet, könnte sein, dass Deutschland eine Regierung aus drei Parteien haben wird – seit den 1950er-Jahren das erste Mal.
„Scholzomat“ gibt der SPD neue Hoffnung
„The Guardian“ sieht jedoch die Stärke bei Scholz und nicht in seiner Partei. Das Blatt ist sich sicher: „Würde am 26. September nicht der Name seiner Partei, sondern der von Scholz auf dem Stimmzettel stehen, wäre er bereits der unangefochtene Spitzenkandidat.“ Doch seine momentane Stärke ist eher die Schwäche der anderen Gegner, zitiert das Blatt Gero Neugebauer von der Uni Berlin.
„Die Christdemokraten versinken in der Depression“, schreibt dazu der „Economist“. Die Stimmung ist niedergeschlagen, weil die Werte auf unter 20 Prozent gesunken sind. 2017 hatten sie 32,9 Prozent, 2013 lagen sie bei 41,5 Prozent. Sie sind Erfolg gewohnt, sie hatten 52 der 72 Jahre der Republik regiert. Was ist passiert?
Viele glauben, dass die CDU/CSU ein Kardinalfehler begangen hat, als sie sich für Armin Laschet, den „Wischiwaschi-Ministerpräsident[en] für Nordrhein-Westfalen“, statt für Markus Söder (CSU), den „kräftige[n] Chef von Bayern“, entschieden haben, schreibt der „Economist“.
All dies hat in die Hände von Olaf Scholz gespielt, „der sich selbst als Klon der kompetenten Frau Merkel darstellt und sogar ihre Handgesten kopiert“.
Baerbocks Auf- und Abstieg
Baerbocks Kandidatur wird in der internationalen Presse kaum mehr beachtet, vor allem nach dem letzten Triell am 12. September. „Politico“ beschreibt sie als die „Stimme der Zukunft“ bei der Debatte. Auf einem Podium zwischen den beiden anderen Kandidaten, die beide alt genug sind, um ihr Vater zu sein, war Baerbock nicht auf die Aufarbeitung der Vergangenheit fokussiert, sondern auf die Rettung des Planeten.
Angesichts des steilen Abstiegs der Grünen in den letzten Wochen dürfte Baerbocks Auftritt jedoch kaum Einfluss auf den Ausgang der Wahl haben. Die Debatte wurde praktisch ein Duell zwischen Scholz und Laschet, wobei beide Baerbock weitgehend ignorierten.
Allerdings habe sie dem Wahlkampf neuen Schwung verliehen und die Basis der Grünen zusammengeschweißt, räumt „Politico“ ein. Dennoch sei die Tatsache, dass sie noch nie ein Führungsamt bekleidet habe, zu unsicher für die deutschen Wähler.
Als Baerbock ihre Kandidatur im April bekannt gab, war sie überall zu sehen, schreibt der „Economist“. Viele sahen in ihr die Chance zur Veränderung. In gewisser Weise sei der Hype um die sympathische „Annalena“ so groß gewesen, dass sie enttäuschen musste, schlussfolgert das Blatt.
Doch einen Teil ihres Absturzes hat sie selbst verschuldet: Sie wurde des Plagiats in ihrem hastig zusammengeschriebenen Buch beschuldigt und die vielen Änderungen in ihrem Lebenslauf haben auch ein schlechtes Licht auf sie geworfen. Am Ende ihrer Rede auf dem Parteitag der Grünen im Juni sagte sie „Scheiße“ (sie hatte nicht bemerkt, dass das Mikrofon noch an war).
Die Fehler seien einzeln gesehen nicht groß gewesen, aber die schiere Anzahl hat ihr Image beschädigt. „Viele Anhänger der Grünen sind nun der Meinung, die Partei hätte Robert Habeck, den 52-jährigen Schriftsteller und Philosophen, der ihr anderer Co-Vorsitzender ist, als Kanzlerkandidaten aufstellen sollen.“
Die Wähler haben nun am 26. September die Qual der Wahl – mit vielen kleinen und großen Parteien. Sie müssen entscheiden, wer die Krone trägt und den Thron besteigt.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung.
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