Wenn Arbeiten ärmer macht – Bürgergeld-Studie bemängelt hohe Grenzbelastungen
Die lange erwartete Studie zum Bürgergeld, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegeben hatte, ist da. Minister Hubertus Heil hatte Forscher von ifo und Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) mit dieser betraut. Sie sollten vor allem der Frage nachgehen, wo mögliche Fehlanreize bestehen, die einem Sprung in die Erwerbsarbeit entgegenstehen.
Zu viele Empfänger von Bürgergeld stehen durch Erwerbsaufnahme schlechter da
Das Ergebnis der Studie bestätigt im Wesentlichen, was bereits zuvor Modellrechnungen diverser Medien vermuten ließen. Demnach gibt es im derzeitigen System Bereiche, die mit sehr hohen Grenzbelastungen verbunden sind. Im Kern ist der Effekt vergleichbar mit der kalten Progression bei Besserverdienenden, deren zusätzliche Steuerbelastung die Effekte einer Inflationsanpassung des Gehalts konterkariert.
Vor allem geht mit der Erwerbsaufnahme vielfach ein Transferentzug in einem Ausmaß einher, der diese als nachteilig gegenüber einem weiteren Bezug von Bürgergeld erscheinen lässt.
Dazu kommen noch weitere Veränderungen in der Einkommenssituation, die durch das Gesamtsystem bedingt sind. Zu diesen gehören Steuern und Sozialabgaben, die ab einem bestimmten Einkommensniveau anfallen.
Nach Einschätzung der Forscher wäre es, um Bürgergeld-Bezieher zeitnäher zur Arbeitsaufnahme zu motivieren, vor allem erforderlich, bei den Erwerbstätigenfreibeträgen anzusetzen. Zudem sei der Wegfall weiterer Sozialleistungen bei Erwerbsaufnahme sowie die Vermeidung effektiver Grenzbelastungen über 100 Prozent zentrale Ansätze für eine Reform.
Studie mahnt zu einfacheren Regeln und mehr Transparenz
Die Autoren der Studie geben auch zu bedenken, dass eine mögliche Reform ebenso Nebenziele im Auge behalten solle. Dabei gehe es um die Verbesserung der Arbeitsmarktpartizipation und des Erwerbsvolumens, aber auch um Gleichstellung und Inklusion oder Effizienz im Sinne einer möglichst günstigen Kosten-Nutzen-Relation.
Entscheidend seien auch eine höhere Transparenz, leichtere Verständlichkeit und weniger Bürokratie. Dies komme nicht nur den Betroffenen zugute, sondern würde auch die gesellschaftliche Akzeptanz erhöhen.
Die drei Kernkriterien zur Beurteilung von Status quo und Reformansätzen seien Beschäftigungswirkung, Kosten für den Staat und der Schutz vulnerabler Gruppen. Dabei hätten nicht alle durchgespielten Varianten alle Ziele gleichzeitig sicherstellen können:
„Die Reformvarianten, die den Staatshaushalt am stärksten entlasten, bedeuten für Haushalte mit ohnehin schon sehr niedrigen verfügbaren Einkommen einen Einkommensverlust. Gleiches gilt für die Reform mit der größten Beschäftigungswirkung, die ebenfalls einige Haushalte mit niedrigen Einkommen schlechter stellen würde. Letztere würde zudem den Staatshaushalt belasten.“
Übergang von Bürgergeld zu Wohngeld überfordert viele Haushalte
Die Reform der Kindergrundsicherung weist gegenüber der bisherigen Regelung im Hartz-IV-System bereits einen Unterschied auf. Dieser besteht darin, dass der Kindergarantiebetrag – anders als das bisherige Kindergeld – nicht auf das Bürgergeld angerechnet wird. Dazu kommt ein Zusatzbeitrag, der sich am Einkommen der Bedarfsgemeinschaft orientiert.
Was sich jedoch weiterhin ausschließt, sind der Bezug von Bürgergeld und Wohngeld. Dies ist jedoch auch aus Sicht der Forscher ein Faktor, der potenziell gravierende Auswirkungen hat. Während sich die Höhe des Wohngeldanspruchs am Einkommen des Antragstellers bemisst, richtet sich die Übernahme der Kosten der Unterkunft beim Bürgergeld nach der Angemessenheit der Wohnung.
Dies kann beispielsweise für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern in einer als angemessen geltenden Wohnung in einer Stadt mit hohen Mieten einen deutlichen Effekt haben. Was aus Sicht der Forscher noch schwerer wiegt, ist, dass viele Betroffene dies nicht im Vorfeld abschätzen können:
„Kaum ein Haushalt dürfte in der Lage sein, die Vorrangprüfung zwischen Bürgergeld und Wohngeld eigenständig durchzuführen oder exakt zu berechnen, wie sich zusätzliches Erwerbseinkommen auf die Transferansprüche und damit auch auf das verfügbare Einkommen auswirkt.“
Weniger Kürzungen und Abzüge bei Erwerbsaufnahme empfohlen
Noch gravierender sei jedoch der Umstand, dass Bürgergeldempfänger, die durch geringfügige Arbeit, Teilzeittätigkeit oder selbstständige Arbeit zusätzliches Einkommen erzielen, häufig dafür bestraft würden. Dies bringe „hohe und schwankende effektive Grenzbelastungen des Erwerbseinkommens“ mit sich, die „oft zwischen 80 und 100 Prozent“ lägen.
Während auf diese Weise häufig nur 20 Prozent oder weniger vom zusätzlich erzielten Einkommen beim Betroffenen ankämen, fielen oberhalb von 1.000 Euro Sozialleistungen weg. So sei dies etwa dort denkbar, wo Ehepaare mit Kindern infolge zusätzlicher Einkommen ihre Ansprüche auf den Zusatzbetrag bei der Kindergrundsicherung einbüßten.
Eine Reform, die weniger Kürzungen und Abzüge bei Sozialleistungen mit der Arbeitsaufnahme verbinde, würde die Erwerbstätigkeit in Deutschland steigern. Davon sind die Forscher überzeugt. Andreas Peichl vom ifo-Institut rechnet mit einem Plus von 136.000 Personen oder 145.000 Vollzeitstellen.
Einheitliche Grundsicherung statt Zweiteilung
Eine solche Umgestaltung würde auch mehr Geld in die Staatskasse bringen, heißt es in einer Erklärung. Holger Stichnoth vom Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) erklärt dazu:
„Damit könnte sich die Reform selbst finanzieren. Denn die öffentlichen Haushalte hätten am Ende rund 1,1 Milliarden Euro mehr an Steuern und Sozialabgaben.“
Die Forscher schlagen vor, die Sozialleistungen in Zukunft bis zu einer Verdienstgrenze von 2.000 Euro nur zu 70 Prozent zu kürzen. Bei Einkommen über 2.000 Euro monatlich sollen statt bisher 100 Prozent der Sozialleistungen nur noch 65 Prozent gekürzt werden. Außerdem wäre es sinnvoll, die Anrechnungsrate beim Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung von 45 Prozent auf 25 Prozent zu kürzen. Bislang gibt es lediglich einen nicht anrechnungsfähigen Freibetrag von 100 Euro Zuverdienst bei Bürgergeldbezug.
Generell, so Peichl, solle man die derzeitige Zweiteilung aus Bürgergeld und Wohngeld in eine einheitliche Grundsicherung überführen. Dies würde vor allem bei Haushalten mit Kindern zu einem Beschäftigungseffekt führen. Außerdem würde die Verwaltung entlastet.
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