Weihnachten im Schuhkarton
Dober den!“ Am Flughafen Sofia heißt Ivan, der nationale Partner Bulgariens für „Weihnachten-im-Schuhkarton“ Sonja und Johanna aus Hamburg herzlich willkommen. Über 300 Schuhkartons, prall gefüllt mit Geschenken für arme Kinder in Bulgarien, haben die beiden mit Hilfe ihrer Freunde zusammenbekommen. „Wer braucht hier Schuhkartons?“ fragen sie sich nun – im neuen Flughafengebäude ist von Armut keine Spur.
Autobahn und Pferdekarren
Die Autobahn Richtung Plovdiv lässt die deutschen Schnellstrassen alt aussehen – die ersten EU-Subventionen fließen anscheinend ins Verkehrssystem. Kaum verlassen sie die Autobahn, um zum Waisenheim nach Bratisgovo zu gelangen, erinnern Schlaglöcher in den Straßen und schlichte Pferdekarren an die Armut im Land. Von den alten Jugendstilhäusern bröckelt der Putz, defekte Fenster sind mit Brettern vernagelt, Löcher in den Mauern geben den Blick frei ins Innere verfallener, verlassener Gebäude.
Eine steile, vereiste Straße führt zum Waisenheim. Die Luft riecht nach Braunkohle und Holz, der Smog reizt die Atemwege. Im Waisenheim erklärt eine Betreuerin allerdings, dass die Besucher sich in der Adresse geirrt haben. Dies sei das Waisenheim für Kleinkinder. Das Vasil-Levski-Heim für die 7- bis 20-Jährigen sei am Ausgang der Stadt. Die Frauen aus Hamburg staunen: Zwei Waisenheime in einem Ort mit 4.600 Seelen!
Im Heim für ungeliebte Kinder
Im Vasil-Levski-Heim: Im kargen Flur ist es kalt. Sonja und Johanna kommen schon die ersten Kinder mit Schuhkartons unter dem Arm entgegen. Doch statt strahlende Gesichter sehen sie traurige, stumpfe Augen. Nun, was will man auch erwarten, die Kinder haben entweder keine Eltern mehr – oder welche, die sich nicht für sie interessieren. Es ist das Heim für ungeliebte Kinder.
Die Aula, wo die Geschenke aus Hamburg verteilt werden, riecht nach verbrauchter Luft, Polyesterjacken und Schweiß. Statt weihnachtlichem Kerzenschein, grünlich-grelles Neonlicht. An Weihnachten erinnert nur ein einsamer Plastiktannenzweig, der mit drei bunten Kugeln von der Decke baumelt.
Die Kinder durchstöbern eifrig ihr Geschenk, setzen neue Mützen auf, lutschen Lollis oder Schokolade, packen Buntstifte und Stofftiere aus. In ihrer Emsigkeit erinnern sie an kleine Tierchen. Vor allem wegen der Blicke nach rechts und links: „Was hat er, was ich nicht habe?“ „Wehe mir klaut wer was!“
Ein etwa Neunjähriger mit auffällig blauen Augen versucht das Pustefix aus seinem Päckchen wieder zuzudrehen – was ihm nicht gelingt, da er dabei seinen halb geöffneten Karton unter dem Arm auf keinen Fall ablegen will! Er hält Sonja das Röhrchen hin. Sie schraubt ihn zu. Er nickt zufrieden und schaut sie an – oder … eigentlich ist der Blick eher nach innen gerichtet. Dann verschwindet er mit seinem Paket zwischen den anderen Kindern.
Die maroden Furniermöbel im Büro der Direktorin scheinen aus den 50er Jahren zu stammen. Billig wirkende Fußballpokale und eine gelbe Kunststoffsonnenblume in einer leeren Plastikcolaflasche „schmücken“ den Raum. Die Direktorin, Nadejda Kazakova, könnte in ihrem antrazithfarbigen Kostüm mit roter Bluse und schwarzen Stiefeln eine linientreue Generalin in einem KGB-Agentenfilm spielen. Doch steht sie eher wie ein artiges Schulkind neben ihrem Schreibtisch, während sie Dankesworte spricht für die Geschenke und für die Freude, die ihre achtzig Schützlinge im Alltag sonst kaum spüren. In dem Heim mangele es an allem: Essen, Kleidung, Mobiliar.
Das dokumentiert auch ein Foto, das Johanna in den Schlafräumen der Jungs gemacht hat: Acht sperrmüllreife Betten mit dünnen Decken. Kein Kissen, kein Stofftier, kein Bild. Keiner hat etwas für sich: Keinen Platz, keinen Schatz, nichts.
Auf dem Weg nach draußen stürmt ein etwa siebenjähriger Junge auf Sonja zu, schlingt seine Ärmchen um ihre Beine, drückt sich kurz an sie und rennt weiter. — Boxenstopp in Sachen Streicheleinheit.
Kontraste
Nach einer eiskalten Nacht im tristen Plattenbauhotel geht die Fahrt weiter durch den Berufsverkehr von Plovdiv nach Dimitrograd zur Weihnachtsfeier in einem Roma-Kindergarten. In Plovdiv, so scheint es Sonja und Johanna, treffen Welten aufeinander: modernste Ampeln zählen im Countdown die Sekunden bis zur Grünphase. Daneben fegt eine alte, gebeugte Roma-Frau in dicken Röcken mit einem Reisigbesen den Gehweg.
Die Fahrt über Land ist ein Wintermärchen: Storchennester, Pferdekarren. Händler bieten an der Straße ihr Obst feil. „Die Lebenshaltungskosten sind in den letzten Monaten um 60 Prozent gestiegen – ohne Angleichung der Gehälter“, erzählt Ivan. „Die Arm-Reich-Schere öffnet sich immer weiter.“ Ein Mercedes der G-Klasse überholt Ivans Wagen.
Nähe, Wärme, Kuscheln
Roma sind in Bulgarien ausgegrenzt und leben in Ghettos am Rand der Ortschaften.Der Kindergarten befindet sich im Roma-Viertel von Dimirtrograd. Die Kinder sind zwischen zehn Monaten und sechs Jahren alt. Ihre Eltern haben keine Arbeit, sind teilweise Alkoholiker. Montagmorgens geben die Eltern die Kids im Kindergarten ab und holen sie erst am Freitagnachmittag wieder ab. Oftmals haben die Kinder keine Wäsche zum Wechseln dabei.
Von Armut oder fehlender Garderobe sieht man den Kindern heute nichts an. Sie sind auf das niedlichste herausgeputzt: in bulgarischen Trachten, als Mini-Weihnachtsmänner oder Schneeflocken verkleidet.
Die Hamburgerinnen setzen sich in die letzte Reihe und schauen zu, wie George mit Bildertafeln die Weihnachtsgeschichte erzählt. Auf die Frage, wessen Geburtstag an Weihnachten gefeiert wird, rufen alle Kinder lauthals: „Jesus!“ Plötzlich drückt sich ein kleines Kindergesicht in eine Hamburger Hand. – Nähe, Wärme, Kuscheln. Der Vierjährige lässt sich während der gesamten Vorstellung kraulen.
Horrorheftchen
Nach der Geschichte über Jesus singen die Kinder Lieder oder sagen Gedichte auf. Dann helfen Sonja und Johanna dem Weihnachtsmann Geschenke zu verteilen. Man spürt die Freude im Raum. Kleine Hände öffnen begeistert die Kartons, packen gierig die Schokolade aus, mit den Zähnen werden Packungen aufgerissen, mit schokoverschmierten Mündern Stofftiere geküsst, Matchboxautos rollen über den Boden. Mützen werden aufgesetzt, Pullover übergezogen, Schals um den Hals gebunden, noch mehr Schokolade gefuttert …
George hat zu den Schuhkartons jeweils ein Heftchen gelegt, das mit verteilt wird. Eine Kinderbibel? Eher nicht: Auf dem Cover ist ein angsterfülltes Kindergesicht zu sehen, von blauem Licht angestrahlt, als ob es vor einem Polizei- oder Krankenwagen stünde. Unter den kyrillischen Buchstaben prangen Fotos von Explosionen, den New Yorker Twintowers, Helikoptereinsätzen. Sonja und Johanna beschließen, George zu fragen, was es damit auf sich hat!
Sünde?
Die Tour geht weiter nach Primomayo. Der Weg führt über löcherige Matschpisten durch das benachbarte Roma-Viertel, aus dem die meisten Kinder kommen. Die Häuser bestehen überwiegend aus rohen Steinen ohne Putz, die Fenster sind mit Brettern und Pappe vernagelt, hier und da fehlt eine Wand. Sonja sitzt hinten in Georges Wagen, neben ihr auf dem Sitz liegen die „Horrorhefte“. Sie fragt George, was der bulgarische Titel besagt. „Do you wonder why?“, antwortet er. „Du fragst dich warum?!“, wiederholt sie irritiert. Ja, das Heft gäbe Antwort auf Fragen wie: Warum gibt es Feuer, Unfälle, Katastrophen, sagt er. Die Antwort will Sonja auch gerne wissen. Sie lautet: „The Sin!“ Sünde? George fährt fort: „Bad things happen because people are not obedient.“ Sonja ist sprachlos. Ungehorsam gegenüber Gott? Sie dachte eigentlich, diesen Denksatz hätten die Menschen hinter sich gelassen. In Ermangelung ausreichender Bibelkenntnisse verzichtet sie auf eine Diskussion und will lieber wissen, was denn mit den Kinderbibeln sei, die angeblich verteilt werden sollten. George erklärt, dass diese bis zum letzten Jahr ausgegeben wurden. Es lägen noch Exemplare davon hinten bei ihr. Sie blättert eine Bibel durch: Eine niedliche Kurzfassung der Jesusgeschichte, kindgerecht wie ein Comic erzählt. So hatte sie sich eine Kinderbibel vorgestellt. „Warum werden diese nicht verteilt?“, fragt Sonja. Weil in diesem Jahr die neuen Heftchen aus Amerika geschickt wurden. Hatte ihr nicht jemand von den Weihnachten-im-Schuhkarton-Leuten berichtet, in Europa habe man eigentlich gar nichts mit der amerikanischen Dachorganisation zu tun? Das trübt ihre bisher unbelastete Freude an der Aktion. Sie will Weihnachtsfreude schenken und keine Angst im Namen Gottes unter Kindern verbreiten! Doch George will nicht darüber diskutieren, er macht hier einfach nur seinen Job!
„Stille Nacht“ – gebrüllt
Im Roma-Viertel von Primomayo kommen ihnen die Kinder erwartungsvoll entgegengelaufen. Die meisten tragen alte Pullover statt Winterjacken, die bei den Minusgraden angebracht wären. Eine alte Frau mit sehr vielen Falten im Gesicht erklärt mit Händen und Füßen, dass der Weg sehr matschig ist und sie auf ihre Schuhe aufpassen sollen. Sonja blickt zu Boden – die alte Frau selbst steht in Pantoffeln da.
In einem 20 Quadratmeter großen Raum, in dessen Mitte ein gusseiserner Ofen mit allem befeuert wird, was irgendwie brennbar ist, werden ihnen die einzigen drei wackeligen Stühle angeboten. Sie, die Gäste, sollen sich setzen. Unmöglich in Anwesenheit der alten Frauen!
Vor ihnen stehen etwa 40 Kinder – vom Kleinkind bis zum Teeny. Ein Sechsjähriger mit verdreckter Schnute beobachtet sie mit absurd „erfahrenen“ Augen. Andere strahlen voller Vorfreude, fixieren die Fremden oder plappern wild durcheinander. Eine Frau gibt ein Zeichen, still zu sein und stimmt mit den Kindern ein Lied an. Es folgt ein ohrenbetäubender Lärm: Kein Ton wird getroffen, die Kinder grölen ihren Text! Es wäre grotesk komisch, wenn es nicht so rührend wäre, wie stolz die Kinder auf ihren Gesang sind. Dann heißt es wieder: Geschenke verteilen.
Die Dorfbewohner teilen sich einen Brunnen und jedes Haus hat sein Plumpsklo – und fast immer eine Satellitenschüssel. Die Unterhaltungsindustrie hat hier vor fließend Wasser Einzug erhalten! Sie werden in ein Haus gebeten. In der Küche stehen zwei Betten für die jugendlichen Töchter neben dem holzbefeuerten Herd. Der halbwüchsige Bruder hat eine Pritsche im schmalen Flur, der gleichzeitig als Ess- und Wohnzimmer dient. Die fünfköpfige Familie lebt auf maximal 25 Quadratmetern!
Pater Danchos „Kirche“ fällt in der Reihe der anderen selbst gezimmerten Verschläge kaum auf. An der Stirnseite des Raums ist ein Kreuz angebracht. Eine Girlande aus Stanniolpapier dient als Weihnachtsschmuck. Pater Danchos bedankt sich herzlichst, dass sie den weiten Weg von Hamburg in das kleine Dorf gefunden und den Kindern so viel Freude gebracht haben. Mit bebendem Kinn erzählt er, er hätte gesehen, dass viele der Kinder heute ihre besten Kleidungsstücke tragen, – die er letzte Woche als eine der seltenen Fuhren Altkleidung vorbei gebracht hatte.
Dritter Tag. Kein Bild ziert die Wände des Kindergartens in Krichim. Nur ein einsamer Trockenblumenstrauß, der die Tristesse eher noch unterstreicht. In den hellblau gekachelten Waschräumen der Kinder bröckelt der Mörtel aus den Fugen. Doch die Kinder sind niedlich herausgeputzt: die Mädchen in blauen Samtkleidern mit weißem Spitzenkragen, die Jungs mit weißem Hemd, gestreifter Weste und kleiner Fliege. Oder sie tragen rot-weiße Weihnachtsmannmützen, sind als weiße Schneeelfen verkleidet oder stecken in bulgarischer Tracht.
Begeistert öffnen sie ihre Kartons, spielen mit ihren neuen Sachen und essen genüsslich viel zu viel Schokolade. Es öffnet einem das Herz! Einziger Wehrmutstropfen: zwischen Geschenkpapier und spielenden Kindern das Angst einflößende Gruselheftchen.
Illegale Kirche
Am Nachmittag fahren sie in eine türkische Roma-Gesellschaft: Wie Ausgestoßene hausen sie am Rand eines abgerissenen Sportstadions – illegal. Jeden Tag könnte ein Abbruchbagger kommen. Ebenfalls illegal wurde Stück für Stück die kleine Kirche mit dem Namen „Arche Noah“ errichtet, unter Anleitung der Frau des Pastors, einer Architektin. Statik am offenen Kirchenbau: immer, wenn es wieder Material gab, wurde weiter gezimmert.
Nach Georges Jesusgeschichte – auf türkisch übersetzt – wird gesungen, nein, auch gegrölt! Man weiß wieder nicht, ob man lachen, weinen oder einfach davonlaufen soll.
Mit der Bibel lesen lernen
Die Frau des Pfarrers erklärt den Besuchern, dank der Aktion „Weihnachten-im-Schuhkarton“ hätten immer mehr Roma zur Kirche und zu Gott gefunden. Und zum Lesen! Angelockt von den Geschenken kamen die ersten Kinder vor sieben Jahren in die Kirche. Die Kinder wollten unbedingt erfahren, was in den bunten Heftchen stand, die mit den Paketen verteilt wurden und lernten mit der Kinderbibel lesen.
Bitterkalte Armut
Vor der Kirche warten ein paar Mütter auf ihre Schützlinge, ohne Jacken, mit verschränkten Armen, als könnten sie sich so ein wenig wärmen, die Hände rot und geschwollen von der Kälte. Die Gäste werden durch das Viertel geführt: Mehrköpfige Familien hausen in kleinen Verschlägen von zwölf Quadratmetern. Betten aus Pressspan, den Wasservorrat in einer leeren Fünfliter-Olivendose.
Stolz erzählt eine Hausherrin, sie sei eine von zehn Schwestern und gerade Großmutter geworden – mit 30 Jahren. Eine Frau sitzt mit blanken Füßen da. Der Husten einer anderen Frau klingt tuberkulös.
Letzte Station: In einer Schule in Sofia sitzt unter den Zuschauern der weihnachtlichen Darbietungen ein Missionar aus Kansas, USA. Mit seinem kantig-strengen Gesicht wirkt er auf Sonja wie ein GI*) im Namen Gottes. Er kam für drei Jahre nach Sofia, um Laienprediger wie Pastor Asenov, die nie Theologie studiert haben, zu unterrichten.
Pastor Asenov bittet sie auf einen Kaffee in sein Haus in den Slums von Sofia, wo ein Großteil der Häuser regelrecht auf Müllbergen gebaut wurde. Bewegend ist die Geschichte, die Pastor Asenov erzählt: Er habe durch Träume zum Glauben gefunden. Und der gibt ihm die Kraft zu kämpfen – für eine bessere Welt in den Roma-Slums von Sofia.
Dankbarkeit
Im Flieger schwirren die Impressionen durch den Kopf. So viele Eindrücke in drei Tagen! Mentaler Overload. Und Dankbarkeit: Für Hamburg und das eigene Leben, das man lebt!
*) amerikanischer Infanteriesoldat
Info:
Diese Verteilerreise fand im Dezember 2007 statt. Weihnachten im Schuhkarton ist eine Aktion des christlichen Missions- und Hilfswerks Geschenke der Hoffnung e.V. Schuhkartons werden mit Geschenkpapier beklebt und mit kleinen Geschenken (aber keine gebrauchten Dinge) befüllt. Viele Schulen beteiligen sich an der Aktion. Insgesamt 472.880 Schuhkartons gingen laut Geschenke der Hoffnung e.V. 2007 an bedürftige Kinder in die überwiegend osteuropäischen Empfängerländer.
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