Wehrpflicht soll freiwillig sein – doch Ausbildungsmöglichkeiten fehlen
Der Verteidigungsminister geht seit geraumer Zeit von einer „anderen Bedrohungslage als vor wenigen Jahren“ aus, wie er am 12. Juni wiederholte. Er bezieht sich dabei auf den russischen Überfall auf die Ukraine. Bereits am 19. Januar hatte Pistorius in der Berliner Zeitung „Tagesspiegel“ vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges gewarnt. „Wir hören fast jeden Tag Drohungen aus dem Kreml – zuletzt wieder gegen unsere Freunde im Baltikum. Wir müssen also einkalkulieren, dass Wladimir Putin eines Tages sogar ein NATO-Land angreift“, sagte er vor fünf Monaten.
Nun wandte sich Pistorius mit der Veröffentlichung seiner Wehrdienstpläne an die breite Presse und schwor diese beiläufig auf Krieg ein: „Man muss davon ausgehen, dass Russland 2029 in der Lage sein wird, einen NATO-Staat anzugreifen.“ Deshalb bedürfe es bei der Wehrpflicht ein Umdenken. Am liebsten hätte Pistorius umgehend das ganz große Besteck zur Verfügung: Dienstpflicht für alle Männer und Frauen. Doch das Grundgesetz bewahrt die Bevölkerung vor solch einem Schnellschuss.
Eckpunkte zur neuen Wehr-„Pflicht“
Das Konzept von Pistorius setzt überwiegend auf Freiwilligkeit der deutschen 18-jährigen Männer und Frauen. Sie erhalten pro Jahrgang einen Fragebogen, in dem sie sich dazu äußern können, ob sie bereit sind, einen 6 oder 17 Monate langen Grundwehrdienst zu leisten. Männer sind zur Antwort verpflichtet, Frauen nicht. Männer können bei Auskunftsverweigerung bestraft werden. Zum Strafmaß äußerte sich der Minister nicht. Jene, die freiwillig Dienst leisten wollen, sollen gemustert werden. Die besten 5.000 bis 7.000 sollen dann herangezogen werden.
Kernproblem: Beachtung des Gleichheitssatzes
Unter welchen Umständen ist die Wiederaufnahme der Wehrpflicht rechtlich möglich? Welche Hindernisse gibt es? „Die Wehrpflicht tritt im Spannungs- oder Verteidigungsfall automatisch wieder in Kraft. Der Gesetzgeber kann sie aber durch Änderung des Wehrpflichtgesetzes grundsätzlich auch vorher wieder aktivieren“, erklärt Professor Dr. Sebastian Graf von Kielmannsegg von der Universität Kiel. Einer seiner Forschungsbereiche befasst sich mit Rechtsfragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, insbesondere dem Wehrverfassungsrecht.
Prof. Kielmannsegg sieht „das rechtliche Kernproblem in der Beachtung des Gleichheitssatzes, wenn von vornherein nur eine Heranziehung eines relativ kleinen Teils der jeweiligen Jahrgänge vorgesehen ist.“ Die Gerichte hätten dem Gesetzgeber dabei bislang immer einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum gelassen. Dennoch „bedürfte es dafür stimmiger Auswahlkriterien“, betont Kielmannsegg.
Pistorius glaubt, dass sein Konzept solche Auswahlkriterien vorweist: Die Bundeswehr will nur die Fittesten und jene, die bildungsmäßig am besten qualifiziert sind. Kielmannsegg findet, dass es eine einfache Lösung für die Wehrpflicht gäbe: Wenn ein militärischer Pflichtdienst in eine allgemeine, auch im zivilen Bereich erfüllbare Dienstpflicht eingebettet werden würde. „Das bedürfte aber einer Änderung des Grundgesetzes. Das gilt erst recht, wenn auch Frauen in die Wehrpflicht einbezogen werden sollen“, stellt Kielmannsegg klar.
Müsste eine Wiederbelebung der Wehrpflicht auch eine Wiedereinführung des zivilen Ersatzdienstes zwingend nach sich ziehen? Kielmannsegg: „Zumindest muss das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen erhalten bleiben.“
Wehrpflicht- contra Profi-Armee
Welche Vorteile hätte eine Wehrpflichtarmee gegenüber einer Profi-Armee, wie es die Bundeswehr zurzeit ist? „Praktisch gesprochen könnte es heutzutage wohl nur um eine professionelle Armee aus Berufs- und Zeitsoldaten gehen, die durch eine Wehrpflichtkomponente ergänzt wird“, glaubt Kielmannsegg. „Das ist umso naheliegender, je stärker die Landesverteidigung wieder in den Mittelpunkt der Aufgaben der Bundeswehr rückt.“
Seiner Meinung nach läge der Vorteil darin, dass auf diese Weise „der Personalbestand unmittelbar erhöht werden kann – was eine reine Freiwilligenarmee kaum schaffen würde – und zudem Wehrpflichtige erfahrungsgemäß ein wichtiges Reservoir für die Gewinnung von Zeit- oder Berufssoldaten bilden.“ Kielmannsegg sieht dafür jedoch Engpässe bei der Bundeswehr: „Man muss sehen, dass dies Infrastruktur (Kasernen) und Ausbildungskapazitäten erfordert, über die die Bundeswehr gar nicht mehr verfügt, ebenso wie eine zivile Wehrersatzverwaltung, die es gar nicht mehr gibt.“
Pistorius will, was Scholz „nicht benötigt“
Die Einschätzung des Rechtsprofessors Kielmannsegg wird von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geteilt. Dieser hatte im Mai am Rande eines Besuchs in Stockholm betont, Deutschland werde nicht zu einer Wehrpflichtarmee zurückkehren, wie es sie früher gegeben habe. „Das würde nicht mehr funktionieren. Es waren [damals] viel mehr Soldaten, es waren viel mehr Kasernen, es war viel mehr Infrastruktur, die dazu errichtet worden ist. Alles das wird heute weder benötigt noch ist es der Plan, den irgendjemand verfolgt“, stellte Scholz vor einem Monat klar. Doch sein Verteidigungsminister „benötigt“ nun all das, weil er fürchtet, dass die Russen alsbald ante portas stünden.
Bis zu 460.000 Mann inklusive Reservisten soll die Truppe einmal stark sein. Er will zwar klein anfangen, aber groß enden. Das hat er nun in Berlin offenbart. Ob der Bundeskanzler darüber überrascht ist? Grünen-Chef Omid Nouripour äußerte noch vor drei Wochen gegenüber der Nachrichtenagentur dpa: „Ich glaube nicht, dass die Wehrpflicht gebraucht wird.“
Der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sieht die Wehrpflicht gar „eher als Hindernis“, um die Bundeswehr zur „modernsten und professionellsten Armee des Kontinents“ zu machen. Der jüngste Plan von Boris Pistorius könnte also am ehesten an der Zustimmung in den eigenen Regierungsreihen scheitern.
Über den Autor:
Tom Goeller ist Journalist, Amerikanist und Politologe. Als Korrespondent hat er in Washington, D.C. und in Berlin gearbeitet, unter anderem für die amerikanische Hauptstadtzeitung „The Washington Times“. Seit April 2024 schreibt er unter anderem für die Epoch Times.
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