Vorstandsmitglied Bertelsmann: „Deutschland braucht mehr Zuwanderung – trotz Corona“
Während vielerorts in Deutschland Gerichte bemüht werden müssen, um Beschränkungen der Bewegungsfreiheit innerhalb des Bundesgebietes unter dem Banner der Corona-Bekämpfung abzuwenden, denkt der deutsche Physiker und frühere Hamburger Senator Jörg Dräger über mehr Bewegungsfreiheit in das deutsche Bundesgebiet nach. Der Manager, der im Vorstand der Bertelsmann Stiftung für die Bereiche Bildung und Integration zuständig ist, erklärt in einem Gastkommentar für die „Welt“, Deutschland brauche mehr Zuwanderung – „auch und gerade in Corona-Zeiten“. Damit sollen die negativen Auswirkungen des demografischen Wandels abgefedert und der Wohlstand in Deutschland erhalten werden.
Erntehelfer-Engpass erster Vorgeschmack auf die Zukunft?
Dräger warnt davor, in der Migrationspolitik als Folge der Pandemie „zurück auf Los“ zu gehen. Er verweist darauf, dass nur wenige Tage vor dem Corona-Lockdown im Frühjahr, nämlich am 1. März 2020, das von der Großen Koalition auf den Weg gebrachte „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ in Kraft getreten war. Dieses, so Dräger, war „die positive Antwort auf eine jahrzehntelange Auseinandersetzung um die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist“ und sollte es Fachkräften von außerhalb der EU erleichtern, nach Deutschland zu kommen.
Ein halbes Jahr, nachdem die Corona-Pandemie Europa erreicht hatte, sei in Deutschland die Einwanderung nahezu komplett zum Erliegen gekommen. Dies habe sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt gezeigt, als die Jahr für Jahr praktizierte Verpflichtung von Erntehelfern aus Osteuropa kaum noch möglich gewesen sei.
Dräger: Corona sorgt für einen Schub bei der Digitalisierung
Dass der Arbeitsmarkt in Corona-Zeiten in drastischer Weise eingebrochen sei und Migranten viermal stärker vom Stellenabbau betroffen seien als Deutsche, sei krisenbedingt und nicht von langfristiger Bedeutung. Demgegenüber werde der Digitalisierungsschub, den Corona auch in Deutschlands Wirtschaft auslöse, auf längere Sicht auch eine neue Dynamik auf dem Arbeitsmarkt erzeugen – „mit dem wahrscheinlichen Effekt, dass mehr Hochqualifizierte und weniger Arbeitskräfte mit mittleren Qualifikationen nachgefragt werden“.
Binnenzuwanderung aus anderen Ländern der EU sei nur eine vorübergehende Erleichterung, meint Dräger unter Verweis auf die Erfahrungen der Jahre nach der Finanzkrise Ende der 2000er Jahre, als die Migration aus EU und EWR nach Deutschland um mehr als 50 Prozent angewachsen war. Seine Stiftung hatte allerdings errechnet, dass sich die EU-Nettozuwanderung nach Deutschland bis 2035 halbieren werde, weil auch andere europäische Länder überaltern und unter Bevölkerungsrückgang leiden.
Die Prognose reiht sich ein in eine Reihe anderer Einschätzungen, die in den vergangenen Jahrzehnten angesichts einer fehlenden Willkommenskultur für eigene Kinder in Europa getroffen worden waren. Eine der gravierendsten in diesem Zusammenhang war dabei ein UN-Bericht unter dem Titel „World Population to 2300“, der auf der Grundlage von Zahlen der frühen 2000er Jahre prognostizierte, dass die Zahl der Einwohner in der EU bis 2300 von damals 452 bis 455 Millionen auf nur noch 59 Millionen fallen würde.
USA und Großbritannien als Konkurrenz bei der Zuwanderung
Bereits jetzt bestünden trotz Corona in zahlreichen Bereichen Fachkräfteengpässe, von der Landwirtschaft über die Gesundheitsberufe und den Tiefbau bis zur IT. Die geburtenstärksten Jahrgänge werden bald in Rente sein und dann werde in allem Qualifikationssegmenten der demografische Einbruch in noch nicht gekanntem Ausmaß zum Tragen kommen, so Dräger.
Deutschland konkurriere dabei mit beliebten Einwanderungsländern wie den USA oder Großbritannien. Erfolge im Krisenmanagement seien dabei ein Vorteil gewesen, der zugunsten Deutschlands zum Tragen gekommen wäre. Nun dürfe das Land seine Trümpfe nicht aus der Hand geben, erklärt das Vorstandsmitglied von Bertelsmann.
Wenig Zustimmung für Thesen des Bertelsmann-Vorstands
„Die Bundesregierung ist jetzt gefordert, im Sinne einer strategischen und nachhaltigen Migrationspolitik das Einwanderungsgesetz umzusetzen“, schreibt Dräger weiter. Dies beinhalte zügige Visaerteilung, Verbesserungen bei der Anerkennung berufsfachlicher Qualifikationen bis hin zu transnationalen Ausbildungspartnerschaften. Zudem müssten die Arbeitsbedingungen für Einwanderungswillige in Bereichen wie der Fleischverarbeitung und der häuslichen Pflege verbessert werden.
In der Leserschaft der „Welt“ stoßen die Auffassungen Drägers bislang auf wenig Verständnis. „Sind wir doch froh wenn wir die aktuell vorhandenen Fachkräfte wieder beschäftigen können“, mahnt ein Leser in der Kommentarspalte, „wenn’s hoffentlich jemals wieder eng wird, dann ist ein Artikel wie dieser wieder sinnvoll“.
Ein anderer verweist auf Studien, wonach sich erst etwas mehr als 15 Prozent der seit 2013 nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge in regulären Arbeitsverhältnissen befänden, und fragt: „Glaubt man ernsthaft, dass Hochqualifizierte angezogen werden, damit diese bei horrenden Abgaben, astronomischen Miet- und Häuserpreisen, innovationsfeindlichem Umfeld mithelfen wollen die oben zitierten ‚Erfolge‘ mitzufinanzieren?“
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