Verwaltungsrichter bezweifeln Rechtmäßigkeit von Regierungshandeln in Coronakrise
Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter, Robert Seegmüller, bezweifelt die Rechtmäßigkeit der durch die Bundesregierung vorgenommenen Grundrechtseingriffe in der Coronakrise. „Wir wissen noch gar nicht, ob das Schließen aller Einrichtungen in den ersten Wochen der Krise tatsächlich rechtlich unproblematisch war“, sagte Seegmüller der „Welt“. Das werde man erst wissen, wenn die Entscheidungen in der Hauptsache getroffen seien, „sich die Gerichte also gründlich mit den Eindämmungsmaßnahmen befasst haben“.
Eilverfahren waren keine Hauptsacheverfahren
Er könne nur davor warnen, aus den bisherigen Eilrechtsschutzverfahren der Verwaltungsgerichte und deren Ergebnissen zu schließen, dass alle Eingriffe in Grundrechte „gerechtfertigt“ waren. „Man kann da durchaus Zweifel haben“, so der Bundesverwaltungsrichter. Seegmüller, der auch Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin ist, sieht die Regierungen von Bund und Ländern bei den anstehenden Lockerungen unter Zugzwang. „Einschränkungen sind nichts Statisches. Der Staat muss zu jeder Zeit darlegen, warum Maßnahmen weiterhin gerechtfertigt sind. Deswegen ist er auch nicht frei bei der Gestaltung der Öffnung oder Lockerung.“
Gesundheitsrisiken sind hinnehmbar um Freiheit zu verwirklichen
Das Grundgesetz mute allen Bürgern zu, die Verwirklichung von Gesundheitsrisiken „quasi als Kollateralschäden“ des verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsgebrauchs grundsätzlich hinzunehmen. Der Staat könne diese Risiken nur minimieren, aber nie ganz ausschließen: „Es gibt dann Infektionsrisiken, die sind von Verfassungs wegen hinzunehmen.“
Kontaktbeschränkungen könnten unter Richtervorbehalt gestellt werden
Seegmüller schloss nicht aus, dass für Quarantäne-Maßnahmen oder weitreichende Kontaktverbote künftig die Zustimmung eines Richters erforderlich sein könnte. Das Grundgesetz sage im Prinzip: keine Freiheitsentziehung, ohne vorher den Richter zu fragen. „Diese Vorschrift ist sehr streng, und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu sehr weit: Letztlich ist Freiheitsentziehung jede vollständige Beschränkung der Bewegungsfreiheit über einen längeren Zeitraum. Das muss nicht in einem Gefängnis stattfinden, sondern es reicht aus, wenn ein letztlich administrativer Befehl kommt: Bewege dich nicht aus einem bestimmten Raum oder von einem bestimmten Ort weg. Und wenn du es doch tust, drohen Vollstreckungsmaßnahmen oder Strafen“, so der Jurist.
Manche Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes möglicherweise rechtswidrig
„Das haben wir möglicherweise beim Infektionsschutzgesetz auch, wenn man Menschen sagt, sie müssten, etwa wenn sie aus dem Ausland kommen, sich in ihre Wohnung begeben und dürften dann 14 Tage nicht raus.“ Noch hätten Gerichte über entsprechende Fälle nicht entschieden. „Am Ende des Tages ist es natürlich eine Frage der juristischen Auslegung, ob das wirklich eine Freiheitsentziehung ist. Aber auf den Gedanken kann man durchaus kommen.“
Hat der Bundestag unrechtmäßig Entscheidungskompetenzen abgegeben?
Der Vorsitzende des Bundes der Verwaltungsrichter kritisierte auch das Parlament: „Wir sehen schon, dass der Bundestag in einem sehr großen Umfang Gestaltungsmöglichkeiten an die Exekutive weitergereicht hat. So wurden die Ermächtigungsgrundlagen im Infektionsschutzgesetz extrem weitreichend angepasst.“ Es sei offen, „ob der Bundestag von Verfassungs wegen so handeln durfte, oder ob er sich mehr Entscheidungskompetenz hätte vorbehalten müssen. Das werden die Gerichte in Zukunft noch zu klären haben.“ (dts)
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