Urteil: Christlichen Eltern darf Sorgerecht in Schulfragen entzogen werden
Bei anhaltender kindswohlgefährdender Beschulungsverweigerung darf Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder teilweise entzogen werden. Das entschied das Oberlandesgericht im niedersächsischen Celle nach Angaben vom Freitag in einem Rechtsstreit zwischen einem Jugendamt und Eltern einer sogenannten freikirchlichen Gemeinde mit insgesamt sieben Kindern.
Die Richter sahen die Gefahr, dass die Kinder nicht genügend Wissen für Schulabschlüsse und keinerlei soziale Kompetenzen erwerben. (Az. 21 UF 205/20)
Deshalb entzogen sie den Eltern das Sorgerecht für ihre beiden ältesten Kinder im Alter von sieben und acht Jahren, soweit es die Regelung von schulischen Angelegenheiten betrifft. An ihrer Stelle darf jetzt das Jugendamt die wesentlichen Entscheidungen treffen und dabei notfalls auch die Herausgabe der beiden Kinder erzwingen, um sie in den staatlichen Schulunterricht zu schicken.
Eltern wollten Kinder vor Inhalten schützen die den göttlichen Geboten zuwiderlaufen
Nach Angaben des Gerichts wollen die Eltern ihre Kinder von allen Einflüssen fernhalten, die nach ihren Glaubensvorstellungen den göttlichen Geboten zuwiderlaufen. Im schulischen Kontext wollen sie etwa ein Konfrontation mit Themen wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, Evolutionstheorie oder Sexualkunde verhindern.
Die Mutter unterrichtet ihre Kinder stattdessen in einem gewissen Umfang zu Hause gemäß dem Modell einer „freien christlichen Schule“.
Nach Überzeugung der Richter gelingt es den beiden Eltern auf diese Weise nicht, den Kindern ausreichendes Wissen für spätere schulische Prüfungen und eine Berufsausbildung zu vermitteln. Sie hätten nicht einmal das Konzept ihres Modells „nachvollziehbar“ beschreiben können.
Dazu komme, dass die Kinder keine Möglichkeit bekämen, soziale Kompetenzen für den Umgang mit „andersgläubigen Menschen“ zu erwerben und sich in einer Umgebung durchzusetzen, in der die Glaubensvorstellungen der Familie nicht geteilt würden.
Gericht: Sorgerechtsentzug nötig und verhältnismäßig
Nach eigenen Angaben nahm das Gericht dabei eine Abwägung zu den im Grundgesetz verbürgten Garantien der Glaubensfreiheit und des elterlichen Erziehungsrechts vor. Eltern stehe es prinzipiell zu, ihren Kindern ihre Glaubens- und Weltanschauungsvorstellungen zu vermitteln und sie auch von gegenläufigen Ansichten fernzuhalten.
Allein durch Teilnahme der Kinder am Unterricht einer staatlichen Schule würden sie daran jedoch nicht gehindert. Im vorliegenden Fall sei der Sorgerechtsentzug daher nötig und verhältnismäßig.
Mit der Entscheidung änderte das Oberlandesgericht ein Urteil des Amtsgerichts in Rotenburg (Wümme) ab, das Zwangsmaßnahmen gegen die Eltern zunächst noch abgelehnt hatte, weil bei den Kindern aktuell noch keine Defizite beim Wissensstand oder den Sozialkompetenzen zu erkennen seien. Dagegen war das zuständige Jugendamt vorgegangen und bekam jetzt Recht.
Deutscher Schulbesuchszwang nahezu einzigartig in der Welt
Schon 2019 hatte das niedersächsische Landesschulamt laut Gericht die Befreiung der Kinder von der Schulpflicht abgelehnt, wobei die abschließende verwaltungsgerichtliche Entscheidung dazu noch aussteht. Der Vater wurde demnach zwischenzeitlich bereits 15-mal zu Bußgeldern wegen Verstößen gegen die Schulpflicht verurteilt. Den Eltern bleibt nun noch der Weg ans Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Die deutsche Schulpflicht mit seinem Schulbesuchszwang ist ein nahezu einzigartiges Konzept in der Welt. In den meisten europäischen Ländern gibt es zwar den Begriff ‚Schulpflicht‘. Dieser meint jedoch eine Unterrichts- oder Bildungspflicht, nicht aber den Schulbesuchszwang. Stattdessen bestehen in anderen Ländern oft Vorgaben, auf welche Inhalte Kinder vorbereitet werden müssen oder bis zu welchem Alter sie in irgendeiner Form Bildung genießen sollten. (afp/er)
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