Union sieht „nationale Notlage“ bei Migration – Grüne finden Zurückweisung an Grenze „abwegig“

Nach dem ergebnislosen Migrationsgipfel lehnt Grünen-Sprecherin Irene Mihalic die Forderung der Union nach routinemäßigen Zurückweisungen von Geflüchteten an der deutschen Grenze entschieden ab. Ein solcher Schritt stehe vor unüberwindlichen rechtlichen und praktischen Hürden.
Zurückweisungen an den Grenzen sind nach CDU-Auffassung umsetzbar, falls EU-rechtlich problematisch, dann durch Erklärung einer „nationalen Notlage“. (Archivbild)
Zurückweisungen an den Grenzen sind nach CDU-Auffassung umsetzbar, falls EU-rechtlich problematisch, dann durch Erklärung einer „nationalen Notlage“. (Archivbild)Foto: Patrick Pleul/dpa
Von 4. September 2024

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Einen Tag nach dem Migrationsgipfel vom Montag, 3. September, hat die Innenpolitik-Expertin der Grünen, Irene Mihalic, Ambitionen der Union zur Zurückweisung Geflüchteter an der deutschen Grenze abgelehnt. Die erste Gesprächsrunde zwischen Vertretern der Bundesregierung, der Länder und der Unionsparteien war ergebnislos verlaufen. Allerdings deutete Bundesinnenministerin Nancy Faeser an, dass es weitere Termine geben solle.

Mihalic: „Wir können kein Asylverfahren an der Grenze durchführen“

Die Union hatte bereits im Vorfeld des Treffens gefordert, die Zurückweisung von Asylsuchenden, die aus anderen EU-Staaten einzureisen versuchen, bereits an den Grenzen zum Regelfall zu machen. Im Maßnahmenpaket der Ampelkoalition, das am Donnerstag präsentiert wurde, war dies nicht vorgesehen.

Dort war lediglich die Rede davon, Schutzsuchenden, für deren Asylverfahren nach den Dublin-Regeln andere Mitgliedstaaten zuständig wären, Leistungen zu kürzen. Grundsätzlich müssen Asylverfahren im EU-Mitgliedstaat der Ersteinreise durchgeführt werden. Allerdings bedarf es dazu eines formalen Verfahrens.

Dieser Umstand steht nach Auffassung Mihalics auch dem Ansinnen der Union entgegen, aus anderen Mitgliedstaaten eingereiste Geflüchtete zurückzuweisen. Die Bundespolizei, die zuständig für den Grenzschutz ist, sei nicht befugt, Asylverfahren durchzuführen oder deren Ausgang vorwegzunehmen. Stattdessen müssten die Grenzbeamten Asylsuchende zur Vornahme weiterer Veranlassungen an die zuständigen Behörden überstellen – im Regelfall das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Die Bestimmung des Staates, der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, sei Gegenstand des Asylverfahrens, so Mihalic.

„Das ist in der Regel nicht ganz einfach und es wäre auch praktisch unmöglich, dies an der Grenze durchzuführen.“

Systematische Zurückweisungen würden System insgesamt unter Druck setzen

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, hatte den Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ins Spiel gebracht. Dieser lässt den Mitgliedstaaten Freiheiten bei der Umsetzung von Bestimmungen, wenn es um „die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ geht.

Aus Sicht der Union ist diese Bestimmung als ein Ausnahmetatbestand für den Fall eines „nationalen Notstandes“ zu sehen. Deutschland, so die Überlegung, könnte diesen mit Blick auf die Asylzahlen ausrufen und einreisewillige Asylsuchende von vornherein zurückweisen.

Mihalic hält diesen Vorstoß für „abwegig“. Sie weist darauf hin, dass die Ausrufung eines „nationalen Notstandes“ an „sehr enge Grenzen“ gebunden sei. Zudem habe es, so die Grünen-Politikerin gegenüber der „Funke-Mediengruppe“, auch noch keinen Fall gegeben, in dem der Europäische Gerichtshof (EuGH) einen solchen bestätigt habe.

Es sei außerdem zu befürchten, dass systematische Zurückweisungen und rigide Grenzkontrollen „voraussichtlich das ganze System unter übergroßen Druck setzen“ würden. Nationale Alleingänge wären aus diesem Grund nicht im Interesse Deutschlands. Eine stärkere Kooperation der Mitgliedstaaten beim Grenzschutz wäre demnach die bessere Variante.

EuGH zieht Grenze zwischen Schengen-Binnenkontrollen und Außengrenzkontrollen

Seit 2008 gibt es eine EU-Richtlinie zum Vorgehen bezüglich einer Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, die sogenannte Rückführungsrichtlinie. Der EuGH hatte erst im September des Vorjahres die Zurückweisung von schutzsuchenden Ausländern an EU-Binnengrenzen für im Regelfall rechtswidrig erklärt. Frankreich hatte damals eine ähnliche Regelung in Geltung, wie sie die Union nun für Deutschland fordert.

Asylrechtsanwälte hatten damals den Geltungsanspruch der Rückführungsrichtlinie betont. Diese sieht vor, dass zumindest eine Abschiebungsandrohung mit Frist zur freiwilligen Ausreise gegen den Asylsuchenden ergehen müsse. Eine direkte Rückschiebung ins Nachbarland dürfe dieser Norm zufolge nicht erfolgen – selbst wenn der Eingereiste eine Gefahr darstelle. In diesem Fall müsse eine Inhaftierung erfolgen.

Die französische Regierung hatte damals argumentiert, dass durch die Einführung temporärer Binnengrenzkontrollen auf der Grundlage der Schengen-Bestimmungen aus der Binnengrenze eine Außengrenze geworden sei. Dort könne ein Mitgliedstaat irregulär einreisende Personen vom Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie ausnehmen. Dies würde eine Zurückweisung an der Grenze erlauben.

Der EuGH widersprach dieser Einschätzung. Er urteilte, dass auch eine temporär kontrollierte Binnengrenze eine Binnengrenze bleibe. Anders als an der Außengrenze, die Staaten stellvertretend für alle Schengen-Staaten kontrollierten, gehe es dabei um nationale Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit und Ordnung im Ausnahmefall. Deshalb seien auch keine Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie anwendbar, die sich auf Außengrenzen bezögen.

Von 2018 bis Ende 2022 bereits mehr als 84.000 Zurückweisungen

Dennoch hatte es, wie eine Kleine Anfrage der damaligen Linksfraktion vom Februar des Vorjahres zutage förderte, zwischen 2018 und Ende 2022 nicht weniger als 84.179 Personen Zurückweisungen Einreisewilliger an den deutschen Grenzen gegeben. Die meisten seien dabei aus Syrien oder Afghanistan gekommen.

Allein im Jahr 2022 sei das Fehlen eines gültigen Reisedokuments in 14.960 Fällen der Grund für diese gewesen. In 4.693 Fällen habe das Fehlen eines gültigen Visums oder Aufenthaltstitels die Zurückweisung begründet. 1.263-mal war diese ausgesprochen worden, weil Einreisewillige nicht über die erforderlichen Dokumente zum Nachweis von Aufenthaltszweck und -bedingungen verfügt hätten.

In 1.338 Fällen habe es eine Ausschreibung zur Einreiseverweigerung gegeben. Eine Gefahr für öffentliche Ordnung, innere Sicherheit, öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen habe man in 1.273 Fällen angenommen.

Bundespolizei darf „selbst offensichtlich unglaubwürdige“ Asylanträge nicht selbst prüfen

Die Linke fragte damals auch nach dem Verhältnis zwischen Zurückweisungen und dem Recht auf ein Asylverfahren – und danach, wie an den Grenzen diesbezüglich verfahren werde. Die Abgeordneten wollten wissen, ob Deutschland illegale, sogenannte Pushbacks praktiziere. In der Antwort hieß es, die bloße Behauptung einer Gefahr, vor der man Asyl suche, gegenüber der Bundespolizei reiche aus, um von dieser unverzüglich dem BAMF überstellt zu werden.

Sollte es unklar sein, ob eine Person Schutz suche, solle deren Absicht auf dem Wege eines Fragebogens erforscht werden. Weiter hieß es in der Antwort:

„Liegt ein Asylgesuch vor, steht der Bundespolizei kein inhaltliches Prüfungsrecht zu. Dies gilt selbst dann, wenn das Asylgesuch aus Sicht der Bundespolizei unschlüssig, offensichtlich unglaubwürdig, rechtsmissbräuchlich oder sonst unbegründet ist. Die inhaltliche Bewertung obliegt ausschließlich dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).“

Zurückweisungen an der Grenze können beispielsweise bei Vorliegen einer Wiedereinreisesperre oder dann vorgenommen werden, wenn ein Asylantrag gestellt wird, obwohl bereits in einem anderen EU-Land ein Verfahren anhängig ist. In vielen Fällen, so heißt es in der Beantwortung, geben Aufgegriffene beim Einreisegespräch gar nicht zu erkennen, Asyl anzustreben. Viele erklärten, auf der Suche nach Arbeit oder einem besseren Leben zu sein. Dies reiche jedoch nicht aus, um einen Schutztitel zu erhalten – und führe vielfach zu Zurückweisungen.



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