„Unfassbare Katastrophe“ im Ahrtal: Hoch traumatisierte Kinder in Flut-Regionen brauchen Sicherheit
Inmitten des von der Flut-Katastrophe stark zerstörten Bad Neuenahr-Ahrweiler ist das „Familiennest“ der katholischen Familienbildungsstätte stehen geblieben.
„Wir haben dort nur kleine Räume, aber Spielzeug und alles, was Kinder brauchen und möchten dort so schnell wie möglich eine Anlaufstelle für Familien einrichten“, sagt die Leiterin der Familienbildungsstätte, Christine Kläser. Etwa zwei Kilometer von der Stadt hat die Einrichtung einen Familien-Treff im Pfarrsaal von Karweiler aufgebaut – mit extra Shuttlebussen für Familien.
„Hoch traumatisierend“
„Die Kinder waren vor Ort, als die Flut völlig unvorbereitet in der Nacht kam“, sagt der Landesvorsitzende des Kinderschutzbunds, Christian Zainhofer. „Sie haben Angehörige verloren, die Panik der Schreckensnacht am eigenen Leib erlebt und spüren Tag für Tag die Verzweiflung der Eltern.“
„Das ist hoch traumatisierend für die Kinder“, sagt Zainhofer. Die Situation ist aber auch für ihre Eltern sehr schwierig. Sie stehen vor den Trümmern ihrer Existenz, sind selbst psychisch schwer getroffen und haben unendlich viel zu tun. „Dabei sind die Kinder im Weg.“ Viele Eltern versuchten daher ihre Kinder bei Freunden oder Verwandten außerhalb des Katastrophengebiets unterzubringen. „In vielen Ecken ist es auch viel zu gefährlich.“
Angebote vor Ort wichtig
„Die Kinder aus den Familien zu nehmen und auf eine Freizeit zu schicken, ist jetzt aber keine gute Idee“, sagt Zainhofer. „Traumatisierte Kinder brauchen ihre Eltern.“ Der Kontakt zu Mutter, Vater oder anderen Familienangehörigen sei in dieser Situation wichtig. „Sie machen sich sonst Sorgen um ihre Eltern und wissen nicht, was los ist.“ Angebote vor Ort seien daher wichtig.
„Nach einer Akuttraumatisierung ist es das Wichtigste, dass Kinder zur Ruhe kommen können und Sicherheit erleben“, sagt Psychotherapeutin Hannah Richter von der Traumaambulanz für Kinder und Jugendliche des Universitätsklinikums Köln. Dazu gehörten auch Alltagsroutinen und Zeiten außerhalb des zerstörten Katastrophengebiets, in denen Normalität spürbar sei. „Die Kinder brauchen Schutzräume, in denen sie Sicherheit erleben können.“ Das könnten auch Angebote wie Kitas und Familienbildungsstätten sein. „Je jünger die Kinder sind, desto stärker suchen sie den Kontakt zu ihren Bezugspersonen.“
Kuscheltiere oder andere „Sicherheitsobjekte“
Die Präsidentin der Landespsychotherapeutenkammer, Sabine Maur, sagt: „Die wichtigste Botschaft für die Kinder ist: Es ist vorbei, ihr seid in Sicherheit.“ Neben einer sicheren Umgebung seien auch Kuscheltiere oder andere „Sicherheitsobjekte“ wichtig. „Es geht jetzt erstmal um Erste Hilfe für die Seele.“
„Die Kinder schlafen schlecht, haben Ängste und wollen nicht mehr allein sein, klammern sich an ihre Eltern“, beschreibt Maur typische Symptome. „Sie fallen auch in den Kleinkindermodus zurück, nässen ein, nutzen Babysprache und sind plötzlich wieder ganz unselbständig.“ Richter ergänzt: „Das ist eine Selbsthilfe, um Nähe und Geborgenheit zu erleben.“ Und: „Auch aggressive Verhaltensweisen sind möglich.“
„Manche haben alles verloren“
Fast 16.000 Jungen und Mädchen leben dem Statistischen Landesamt zufolge allein im Kreis Ahrweiler. „Der Grad der Traumatisierung der Kinder ist ganz unterschiedlich“, sagt Pädagogin Kläser. „Manche haben alles verloren und nur fünf Kilometer weiter sieht man nichts von der unfassbaren Katastrophe.“
In der Regel seien die Kinder auch aufgeregter als die Erwachsenen, und reagierten besonders auf sogenannte Trigger wie Regen, Hubschrauber oder Martinshorn, sagt Maur. „Das sind bisher „normale“ Reaktionen auf eine Katastrophe solchen Ausmaßes.“ Kläser berichtet: „Als es zum ersten Mal wieder geregnet hat, waren die Kinder schon unruhig, und die Bilder kamen wieder hoch.“
Posttraumatische Belastungsstörungen möglich
Ob Kinder und Jugendliche auch posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln, lasse sich frühestens nach vier bis sechs Wochen einschätzen, sagt Maur. „Es wird immer ein traumatisches Erlebnis bleiben.“ Etwa zwei Drittel der Menschen schaffen es aber, damit umzugehen. Etwa ein Drittel leide unter posttraumatischen Belastungsstörungen und brauche psychotherapeutische Hilfe.
In einer Situation wie im Ahrtal sei es auch hilfreich, wenn andere Familienmitglieder den Kindern Sicherheit und Geborgenheit geben könnten, sagt Richter. „Die Familien sollten nicht zögern, nach Hilfe zu fragen. Spätestens wenn Symptome nach drei bis vier Wochen nicht zurückgehen, ist professionelle Hilfe sinnvoll, um verarbeiten zu können, was passiert ist.“
„Die Flutopfer wollen sich ganz wenig von ihren Eltern trennen“, berichtet Sozialpädagogin Petra Klein von einem Haus der offenen Tür in Sinzig. Deshalb biete die Einrichtung auch ein Elterncafé. „Wir versuchen den Kindern möglichst viel Normalität zu vermitteln.“ Gerade die angehenden Erstklässler fragten, ob sie jetzt nicht in die Schule kämen.
Schule: Aufeinanderprallen von Lebensrealitäten
Es müsse sichergestellt sein, dass Kitas und Schulen wieder funktionierten, „damit es nach den Sommerferien weiter gehen kann“, und auf Corona nicht noch eine Durststrecke folge, fordert Zainhofer.
„Nach den Sommerferien werden Kinder in einer Klasse sitzen, die auf Mallorca waren und Kinder, die jetzt in einer Notunterkunft leben“, sagt Kläser. Das Aufeinanderprallen dieser Lebensrealitäten mache ihr Sorgen. Es sei wichtig, dass dann auch Sozialarbeiter und Psychologen im Unterricht dabei seien oder die Lehrer und Lehrerinnen darauf vorbereitet würden. (dpa/oz)
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