Türkei: Smartphone-App soll Denunziation von Regierungsgegnern im Ausland erleichtern
In den Anfangsjahren der Ära Erdoğan galt die AKP-Regierung als reformerische Kraft, die nicht zuletzt mit Blick auf einen möglichen EU-Beitritt der Türkei verkrustete Strukturen aufbrach und Privilegien bekämpfte. In dieser Zeit ging die Gefahr eines Rückfalls in autoritäre Strukturen hauptsächlich von kemalistischen Generälen und Kräften in Justiz und Verwaltung aus, die um ihre Vorteile fürchteten.
Im Laufe der 2010er Jahre war es jedoch die Regierung des türkischen Premierministers und späteren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan selbst, die zunehmend die Zügel wieder anzog und die Institutionen der Republik nutzte, um ihre eigene Macht zu festigen.
Mehrere Ereignisse brachten es mit sich, dass die Regierung Erdoğan den Spielraum für oppositionelle Kräfte zunehmend einengte. Das waren die linksgerichteten Unruhen vom Istanbuler Gezi-Park im Frühsommer 2013, die Korruptionsermittlungen gegen die Führung am Ende des gleichen Jahres, das Scheitern der Friedensgespräche mit der PKK 2015 und der Putschversuch vom Juli 2016.
Türkei sieht sich von Netz aus Feinden umgeben
Die Regierung Erdoğan sieht sich selbst im Fadenkreuz einer Vielzahl an Feinden im In- und Ausland. Dazu gehört die kurdische PKK, die bereits seit den 1980er Jahren mit terroristischen Methoden die türkische Regierung bekämpft. Seit Ende 2013 gehört offiziell auch das internationale Netzwerk des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen dazu. Die „Hizmet“-Freiwilligenbewegung, wie sie sich selbst nennt, habe die starke Präsenz, die sie mit Duldung Erdoğans während der 2000er Jahre in Polizei, Justiz und Verwaltung aufgebaut hatte, ausgenutzt, um die Regierung zu bekämpfen.
Regierung und Medien der Türkei – eines Landes, von dem viele sagen, es gäbe dort so viele Verschwörungstheorien, weil es auch tatsächlich so viele Verschwörungen gäbe – kolportieren auch gerne, die CIA oder Israel würden die vielen Staatsfeinde steuern, die Erdoğan mittlerweile identifiziert haben will.
Tatsächlich hat die Türkei im Laufe der letzten Jahre nicht nur im Land selbst, sondern auch jenseits ihrer Grenzen die nachrichtendienstliche Arbeit ausgebaut – und dabei insbesondere auch jene EU-Länder ins Visier genommen, die über eine große türkische Einwanderercommunity verfügen.
Eines der Hauptziele der Geheimdienstarbeit ist dabei Deutschland. Medienberichten zufolge instrumentalisiere Ankara ebenfalls Moscheen der Ditib – des deutschen Ablegers der staatlichen Religionsbehörde -, um Informationen über vermeintliche oder tatsächliche Regierungskritiker zu sammeln.
Ein kurzer Klick zum Haftbefehl
Seit kurzem haben regierungsloyale türkische Einwanderer in Deutschland sogar die Möglichkeit, mithilfe einer App schnell und unbürokratisch vom Smartphone aus als subversiv wahrgenommene Aktivitäten zu melden.
Die App der Zentralbehörde der türkischen Polizei (EGM) kann, so berichtete „Report Mainz“, kostenlos im Google Play Store und im App Store heruntergeladen werden. Die Wirkung der von Deutschland aus erfolgten Denunziationstätigkeit zeigt sich für die Betroffenen meist erst, sobald sie in die Türkei einreisen, um dort Verwandte zu besuchen oder Urlaub zu machen.
So soll erst in der Vorwoche ein Hamburger Taxifahrer am Istanbuler Atatürk-Flughafen verhaftet worden sein. Der 52-Jährige war bis 2017 Vorsitzender der Alevitischen Gemeinde in und um Hamburg e.V., der gegen ihn erhobene Vorwurf lautet auf „Terrorpropaganda“. Die Türkei wirft zahlreichen Alevitengemeinden in der Diaspora ein Naheverhältnis zur PKK vor.
Report Mainz zufolge soll die Justiz in der Türkei derzeit etwa 20 000 Verfahren wegen kritischer Beiträge in sozialen Medien eingeleitet haben, die gegen türkische Gesetze verstoßen haben sollen. Neben der Beleidigung des Präsidenten lautet der Tatvorwurf meist auf Propaganda für terroristische Organisationen.
Türkische Regierung verweist auf Wühlarbeit der PKK in der Diaspora
Serdal Altuntas, Vertrauensanwalt des türkischen Konsulats München, zeigt sich gegenüber Report Mainz zufrieden über die neu geschaffenen Möglichkeiten, Erdoğan-Gegner auch im Ausland türkischen Behörden melden zu können. Es sei eine Bereicherung, dass man nun in der Türkei auch von überall aus der Welt aus einfach eine Strafanzeige machen könne.
„Es kann nicht sein, dass hier in Deutschland jemand für die Terrororganisation PKK Rekrutierungen macht oder auch Gelder sammelt, Propaganda macht und die Türkei kriegt davon gar nichts mit“, so Altuntas.
Ercan Karakoyun, Ansprechpartner der Gülen-Bewegung in Deutschland und seit 2015 selbst mit einem unbefristeten Einreiseverbot in die Türkei belegt, fordert hingegen anlässlich des bevorstehenden Erdoğan-Besuches, die Politik müsse dem türkischen Präsidenten „klar machen, dass seine Politik der fünften Kolonne hier nicht geduldet wird“.
Ihm zufolge habe die Türkei die Pässe von mehr als 100 000 Menschen annulliert und über eine noch höhere Zahl Ein- oder Ausreiseverbote verhängt. Der türkische Geheimdienst habe zudem bereits mehr als 80 türkische und nichttürkische Staatsangehörige aus 18 Staaten verschleppen lassen. Dabei reiche oft – wie jüngst im Fall einer mutmaßlichen Entführung aus Moldawien – die Lehrtätigkeit an einer Hizmet-nahen Privatschule aus.
Auch von den Säuberungsaktionen im Staatsapparat seit dem Putschversuch von 2016 sei eine sechsstellige Zahl von Menschen betroffen, viele davon werden ohne rechtsstaatliches Verfahren festgehalten. Karakoyun zufolge seien bereits 121 Personen infolge unzulänglicher medizinischer Versorgung oder unter verdächtigen Umständen gestorben.
Interpol stufte 130 Ansuchen der Türkei als missbräuchlich ein
Bislang habe die Türkei seit dem Putschversuch in 848 Fällen das BKA über Interpol um eine Fahndung gebeten. Dies geht aus der Antwort des Bundesjustizministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. In 791 Fällen strebten die Behörden in Ankara eine Festnahme an, in 57 eine Aufenthaltsermittlung.
Wie oft die deutschen Bundesbehörden den Ersuchen entsprochen hätten, hat das Justizministerium nicht angegeben. Interpol selbst stufte seit 2014 jedoch nachträglich 130 sogenannte Red Notices aus der Türkei als Erscheinungsformen politischer Verfolgung und damit als Missbrauch ein.
Ganz schwere Geschütze fährt unterdessen der von Report Mainz als „Geheimdienstexperte“ vorgestellte Autor Erich Schmidt-Eenboom auf. Der politisch weit linksstehende Autor, dessen Hauptthema sonst der BND ist, brandmarkte die neue App als eine
digitale Gestapo-Methode, die nationalistische Fanatiker aufstachelt, politische Gegner Erdoğans in die Fänge seines Unterdrückungssystems zu treiben“.
Schmidt-Eenboom zufolge stelle deren Nutzung einen schweren Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die sogar eine Ausweisung durch Ausländerbehörden rechtfertigten. Bis dato wurden jedoch Verfahren der deutschen Justiz sogar gegen mutmaßliche professionelle Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT eingestellt.
Böse Zungen in sozialen Medien behaupten, dass einem Land wie Deutschland, in dem selbst öffentliche Kritik an der Bundeskanzlerin für führende Beamte mit dem Jobverlust enden kann und seit Jahr und Tag eine wache Denunziationskultur gegen Oppositionelle gepflegt wird, ein anderes Vorgehen auch nicht gut zu Gesicht stünde.
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