Terrorismus als neue Normalität? Anschläge in Solingen und La Grande-Motte wecken Befürchtungen
Mit einem Trauergottesdienst statt des ursprünglich geplanten Festgottesdiensts zur 650-Jahr-Feier der Stadt reagiert Solingen auf den jüngsten Terroranschlag. Die Zeremonie begann um 10:00 Uhr in der Stadtkirche am Fronhof. Bereits am Samstagabend hatten NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und Bundesinnenministerin Nancy Faeser an einem gemeinsamen Gedenken teilgenommen.
Am Freitagabend, 23. August, hatte ein Messerattentäter ohne Vorwarnung wahllos Besucher des zum Jubiläum ausgerichteten Stadtfests angegriffen. Drei starben nach Stichen in den Hals, acht weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Eines der Opfer war selbst erst vor einem Jahr aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet. Einen Tag später hat sich die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) zu dem Angriff bekannt.
Bundesanwaltschaft hat Ermittlungen übernommen – diese ist auch für Terrorismus zuständig
Am Samstagabend stellte sich ein 26-jähriger syrischer Staatsangehöriger der Polizei, der seit Dezember 2022 in Deutschland lebt. Er genoss subsidiären Schutz, zuvor war er noch nicht durch strafbare Handlungen oder extreme Äußerungen in Erscheinung getreten.
Bis dato ist noch nicht geklärt, ob der Tatverdächtige tatsächlich Verbindungen zum IS hatte oder die Terrormiliz sich durch das Bekennerschreiben selbst Öffentlichkeit verschaffen wollte. Der IS hatte in den vergangenen Jahren eine Art Franchise-System des Terrors entwickelt und häufig Bekenntnisse zu Gewalttaten von Einzeltätern nachgeschoben.
In der Botschaft, die das IS-Propagandamagazin „Amaq“ veröffentlicht hatte, hieß es, ein „Soldat“ der Terrormiliz habe eine „christliche Versammlung“ angegriffen. Er habe die Tat „aus Rache für die Muslime in Palästina und überall“ begangen.
Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft hat mittlerweile die Bundesanwaltschaft als oberste deutsche Anklagebehörde die Ermittlungen übernommen. Das teilte die Generalstaatsanwaltschaft in Düsseldorf dpa mit.
Attentäter von La Grande-Motte soll Palästinenserflagge mit sich geführt haben
Zu einer Gewalttat, die von den lokalen Behörden als terroristischer Akt eingestuft wird, ist es am Samstag auch in Frankreich gekommen. In der Stadt La Grande-Motte gingen an jenem Tag zwei Autos vor der örtlichen Synagoge in Flammen auf, nachdem in einem davon mutmaßlich ein Gaskanister explodiert war.
Ein Polizeibeamter erlitt dabei Verletzungen. Der Bürgermeister von La Grande-Motte, Stéphan Rossignol, berichtete, dass es Bilder von Überwachungskameras gebe. Diese hätten eine Person aufgenommen, die die Autos in Brand gesetzt habe. Der potenzielle Verdächtige, der auf den Aufnahmen zu sehen ist, habe eine Keffiyeh getragen und eine palästinensische Flagge mit sich geführt.
Eine andere Quelle sagte, dass der Mann zwei leere Flaschen bei sich trug und eine palästinensische Flagge um seine Hüfte geschlungen hatte, als er den Tatort zu Fuß verließ. Auf einem der Bilder scheine er auch bewaffnet zu sein, möglicherweise mit einer 9-Millimeter-Pistole, fügte die Quelle hinzu.
Fünf Menschen zum Zeitpunkt der Tat in der Synagoge
Mittlerweile ist es laut dem geschäftsführenden Innenminister Gérald Darmanin auch hier zu einer Festnahme gekommen. Der Verdächtige solle dabei auch Schüsse abgegeben haben. Genauere Details zu den Umständen der Festnahme und zur Person des Verdächtigen nannte der Minister noch nicht. Wie „France 24“ berichtete, sei der Festnahme eine mehrstündige Suche vorausgegangen.
Mittlerweile gibt es Berichte, wonach die Festnahme in Nîmes stattgefunden habe, das etwa 40 Kilometer vom Anschlagsort entfernt ist. Beim Schusswechsel sei der Verdächtige selbst verletzt worden, er schwebe jedoch nicht in Lebensgefahr.
Die Behörden gehen im Zusammenhang mit dem Anschlag von einer eindeutigen Tötungsabsicht aus. Zum Zeitpunkt der Explosion befanden sich fünf Menschen in der Synagoge. Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts der versuchten Tötung mit Terrorismus-Bezug, Bildung einer terroristischen Vereinigung und Sachbeschädigung mit gefährlichen Mitteln.
Taylor-Swift-Konzert als erster Akt einer neuen Serie?
Es ist unklar, inwieweit der zeitliche Zusammenhang des Anschlags von La Grande-Motte mit der Bluttat von Solingen Zufall ist. Der IS hatte jedoch in jüngster Zeit auch in Europa wieder aufhorchen lassen. Erst Anfang August wurden drei geplante Konzerte der US-Sängerin Taylor Swift in Wien abgesagt.
Im Vorfeld hatte es konkrete Terrorplanungen gegen Besucher der Veranstaltung gegeben – ein 19-jähriger IS-Anhänger aus dem Bezirk Neunkirchen und ein möglicher Mitwisser sitzen in Untersuchungshaft.
Inwieweit der IS tatsächlich eine zielgerichtete neue Terrorstrategie für Europa verfolgt, ist unklar. Das Bekennerschreiben zur Bluttat in Solingen spricht dafür, dass die Terrormiliz auf eine Eskalationsstrategie rund um die Proteste gegen die israelische Militäroperation in Gaza setzen könnte.
Sicherheitsdienste beobachten seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober des Vorjahres eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft am Rande von Pro-Palästina-Demonstrationen. Ob es einen IS-Bezug zum Anschlag in La Grande-Motte gibt, ist noch offen.
FBI warnt bereits seit Mai 2023 vor stochastischem Terrorismus
Möglich ist jedenfalls, dass der IS, aber auch andere dschihadistische Vereinigungen auf sogenannten stochastischen Terror setzen. Darunter versteht man eine gezielte öffentliche Dämonisierung von Einzelpersonen oder Gruppen mit dem Ziel, die Bereitschaft anzufachen, Gewalt gegen diese auszuüben. Es wird dabei billigend in Kauf genommen, dass eines Tages ein Anschlag verübt wird – es bleibt aber unklar, wann, wo und von wem. Vor allem sogenannte Lone-Wolf-Attentäter spielen in dieser Strategie eine Rolle.
In einer FBI-Analyse vom Mai 2023, die der Epoch Times vorliegt, wird vor allem vor Antisemitismus als einem „dauerhaften Treiber transnationaler, gewalttätiger extremistischer Narrative“ gewarnt, die zu Anschlägen führen könnten. Die entsprechende Gefahr gehe sowohl von ethnisch motivierten gewalttätigen Extremisten als auch von solchen aus, die durch ausländische terroristische Organisationen inspiriert seien.
In beiden Fällen erfolge eine gezielte Dämonisierung jüdischer Menschen durch einseitige Narrative und Verschwörungserzählungen. Die Zuspitzung des Gaza-Konflikts würde die Gewaltneigung verstärken. Minister Darmanin zufolge ist es in der ersten Hälfte des Jahres 2024 zu 887 antisemitischen Akten gekommen. Gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres sei das eine Verdreifachung.
Nihilistische Eskalationsbestrebungen mit Ziel eines Bürgerkrieges
Eine ähnliche Strategie des stochastischen Terrorismus wenden europäische Rechtsextremisten auch gegen Muslime an. Ein Beispiel dafür sind die Ausschreitungen in Großbritannien nach der Messerattacke auf einen Tanzkurs in Southport. Der IS kalkuliert eine solche Entwicklung üblicherweise in seine Strategie ein.
Französische Sozialwissenschaftler wie Gilles Kepel und Olivier Roy sehen im IS eine im Kern nihilistische Bewegung, deren Ziel es ist, bürgerkriegsähnliche Zustände zu schaffen.
Dabei spekuliert man auf ein wechselseitiges Hochschaukeln der Emotionen: Spektakuläre Terrorakte sollen islamophoben Gruppierungen dabei helfen, pauschal Hass und Gewalt gegen Muslime zu schüren. In Reaktion darauf würden diese sich ihrerseits bewaffnen und zurückschlagen.
Am Ende würden dieser Strategie zufolge auch Muslime, die Gewalt und Terrorismus ablehnen, keine Wahl haben, als sich mit den Dschihadisten zu solidarisieren.
Diese von Roy und Kepel skizzierte Strategie erinnert an jene des Sektenführers Charles Manson in den 1960er-Jahren, der durch besonders schockierende Gewaltverbrechen einen „Rassenkrieg“ in den USA anstacheln wollte.
Taylor-Swift-Konzert als Anschlagsziel kurzfristig ausgesucht?
Was gegen eine solche ausgeklügelte Strategie des IS spricht, ist der Umstand, dass beispielsweise der Terrorplan gegen das Taylor-Swift-Konzert in Wien spontan entstanden sein dürfte.
Der Hauptverdächtige hatte zwar im Juni seinen Treueschwur gegenüber der Terrormiliz abgelegt, allerdings hatte er Zeugen gegenüber erst wenige Tage vor dem Konzert nach einer Zündschnur gefragt. Dies sei Anfang August gewesen.
Es spricht vieles dafür, dass der – bisherigen Erkenntnissen zufolge nicht ideologisch motivierte – Messerangriff auf Kinder bei einem Tanzkurs im britischen Southport den 19-Jährigen bezüglich seines Terrorziels inspiriert haben könnte. Dieser hatte am 29. Juli stattgefunden. Der Tanzkurs hatte die Musik von Taylor Swift zum Thema.
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