Taktisches Wählen im Fokus: Wie Wähler ungewollte Regierungsbündnisse verhindern könnten

Angesichts unsicherer Mehrheitsverhältnisse, weit verbreiteter Unzufriedenheit mit potenziellen Koalitionen und eines signifikanten Anteils unentschlossener Wähler könnte taktisches Wählen die Bundestagswahl maßgeblich beeinflussen. Während Umfragen eine klare Ablehnung bestimmter Bündnisse offenbaren, hängt die Mehrheitsbildung entscheidend davon ab, welche kleineren Parteien den Einzug ins Parlament schaffen.
Wahlplakate, wie hier in Magdeburg, sollen nicht nur die Kandidaten und Kandidatinnen bekannter machen, sondern idealerweise auch Themen ansprechen, die die Wähler besonders bewegen. Aktuell ist das vor allem das Problemfeld Wirtschaft und Inflation.
Wahlplakate, wie hier in Magdeburg, sollen nicht nur die Kandidaten und Kandidatinnen bekannter machen, sondern idealerweise auch Themen ansprechen, die die Wähler besonders bewegen. Aktuell ist das vor allem das Problemfeld Wirtschaft und Migrationspolitik.Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa
Von 21. Februar 2025

Nicht alle Umfragen im Vorfeld der Bundestagswahl zeigen identische Zahlen. Dennoch zeichnet sich ab, dass ein nicht unerheblicher Anteil an Wahlberechtigten keiner politischen Partei in Deutschland Lösungskompetenz zutraut. Außerdem gibt es einige mögliche Koalitionsoptionen, die in der Bevölkerung auf besonders geringe Zustimmung stoßen. In einer solchen Situation ist es wenig verwunderlich, dass Suchmaschinen steigende Anfragen nach Begriffen wie „strategisches Wählen“ oder „taktisches Wählen“ verzeichnen.

Dem ARD-„DeutschlandTrend“ zufolge geben 13 Prozent der Befragten an, noch unentschlossen darüber zu sein, wen sie wählen werden. Knapp jeder Fünfte hält es für denkbar, der Wahl fernzubleiben. Im Jahr 2021 waren 23,6 Prozent der Stimmberechtigten der Wahl ferngeblieben. Einer jüngst veröffentlichten Studie des „Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung“ (DeZIM) zufolge trauen 11,4 Prozent der Wähler ohne und sogar 24,7 Prozent derer mit Migrationshintergrund keiner Partei Lösungskompetenz zu. Im Bereich Wirtschaft und Inflation sind es sogar 23,9 respektive 31,2 Prozent.

Ampel, Schwarz-Blau und grüne Regierungsbeteiligungen besonders unbeliebt

Die unbeliebtesten Optionen, eine neuerliche Ampelregierung (78 Prozent) und Schwarz-Blau (67 Prozent), werden von der FDP beziehungsweise der Union schon jetzt ausgeschlossen. Besonders unbeliebt sind jedoch auch alle möglichen Konstellationen, an denen die Grünen beteiligt sind.

Ein schwarz-grünes Bündnis, das Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz nicht eindeutig ausschließt, stößt auf 62 Prozent Ablehnung. Ein Kenia-Bündnis aus Union, SPD und Grünen lehnt sogar 64 Prozent ab. Etwas weniger stark fällt die Ablehnung für eine – rechnerisch unwahrscheinliche – Koalition aus CDU/CSU und FDP aus.

Die am wenigsten unbeliebte ist die alte Große Koalition aus CDU/CSU und SPD mit 49 Prozent. Sie hat mit 46 Prozent auch gleichzeitig das höchste Ausmaß an Zustimmung. Die Union stößt in Umfragen derzeit an eine Art gläserne Decke bei etwa 30 Prozent. Auch für die SPD geht es kaum über 16 Prozent. Wenig Bewegung gibt es auch bei der AfD, die stabil bei etwa 20 Prozent liegt, und bei den Grünen, die dank der hohen Wahldisziplin ihrer Stammwähler auf 13 Prozent kämen.

Zocken mit der Stimme?

Ob es für CDU, CSU und Sozialdemokraten für eine eigene parlamentarische Mehrheit reicht, hängt davon ab, wie viele jener drei Parteien den Einzug in den Bundestag schaffen, die um die Fünf-Prozent-Hürde kämpfen. Bei diesen handelt es sich um die Linkspartei, das BSW und die FDP. Die Linke, die sich potenziell auch über drei Direktmandate den Wiedereinzug sichern könnte, scheint mit großer Sicherheit die Fünf-Prozent-Hürde zu schaffen.

Dem Durchschnitt der jüngst veröffentlichten Umfragen zufolge käme Schwarz-Grün auf eine Mehrheit von 318 von 630 Sitzen oder 50,5 Prozent der Stimmen im Bundestag. Diese hinge an drei Stimmen – und Friedrich Merz würde wahrscheinlich angesichts eines drohenden Ypsilanti-Schicksals einer solchen Option nicht nähertreten.

Mit 336 Sitzen oder 53,3 Prozent wäre die Mehrheit für Schwarz-Rot schon komfortabler. Die Linke hat in den vergangenen Wochen deutlich an Terrain gewonnen. Neben der Debatte um die gemeinsamen Abstimmungen der Union im Bundestag mit der AfD könnten auch taktische Wähler dafür verantwortlich sein. Um Schwarz-Grün unwahrscheinlich zu machen, müsste zumindest eine der drei „gefährdeten“ kleineren Parteien den Einzug schaffen.

Welche Funktion taktisches Wählen in einer Demokratie hat

Taktisch zu wählen bedeutet, eine Partei, der man nahesteht, nicht zu wählen, oder eine Partei, die man ablehnt, zu wählen, um bestimmte Regierungskonstellationen zu begünstigen oder unwahrscheinlicher zu machen. Ein in früheren Zeiten sehr bedeutsames Beispiel waren Zweitstimmenkampagnen der FDP. Unionswähler hatten häufig den Liberalen die Zweitstimme gegeben, um diesen ins Parlament zu verhelfen – und schwarz-gelbe Koalitionen zu ermöglichen.

Darüber hinaus stellt taktisches Wählen eine Variante der Theorie vom „kleineren Übel“ dar. In diesem Fall geht es darum, darauf hinzuwirken, dass eine mögliche Koalitionsvariante oder die Regierungsbeteiligung einer bestimmten Partei rechnerisch unmöglich wird. Die Bedeutung taktischen Wählens ist vor allem dort groß, wo es ein Verhältniswahlrecht gibt. In einem zersplitterten Parteiensystem, in dem mehr und mehr Zufallsmehrheiten den Ausschlag geben können, wird taktisches Wählen jedoch zunehmend komplexer.

Anders als das Nichtwählen, wenn man sich mit keinem der bestehenden politischen Angebote identifizieren kann, ist taktisches Wählen eine Art Veto gegen bestimmte nicht erwünschte Konstellationen. Ein Beispiel dafür war es, als bei der Landtagswahl in Thüringen Anhänger von SPD, Linken und Grünen den Erststimmenkandidaten der CDU wählten, um das Direktmandat für AfD-Chef Björn Höcke zu verhindern. Keinerlei demokratische Funktion hätte taktisches Wählen lediglich in einem reinen Proporzsystem, wo es keine Koalitionen gibt, sondern sich automatisch auch die Zahl der Regierungssitze an der Stimmenverteilung orientiert. Ein solches System kennen die Schweiz oder einige österreichische Bundesländer.

Die Linke wählen, obwohl man linke Politik ablehnt?

Die Linkspartei zu wählen, würde für Wähler, die Schwarz-Grün verhindern wollen, unter diesen Umständen Sinn machen. Dies gilt auch für Wahlberechtigte, die inhaltliche Positionen der Linken strikt ablehnen. Immerhin ist das Risiko nicht erwünschter Nebeneffekte gering: Die Union hat einen Unvereinbarkeitsbeschluss, der eine Koalition unter Einschluss der Linken untersagt. Gleichzeitig sind SPD, Grüne und Linke weit von einer gemeinsamen Mehrheit entfernt. Pikanterie: Neben taktischen Wählern gegen die Grünen zieht die Linke derzeit auch taktische Wähler an, die eine – hypothetische – schwarz-blaue Koalition verhindern wollen.

Würde zusätzlich zur Linken noch das BSW den Einzug schaffen, würde Schwarz-Grün endgültig an der Arithmetik scheitern. In diesem Fall käme diese Option nur noch auf 300 Sitze oder 47,6 Prozent. Allerdings würden dann auch Union und SPD zusammen nur noch auf 317 Sitze kommen – das wären 50,3 Prozent und nur zwei mehr als die Hälfte der Abgeordneten. Die Folge könnte sein, dass CDU, CDU und Sozialdemokraten die Grünen zur Stabilisierung der Mehrheit mit in eine Regierungsvereinbarung einbinden. Auf Umwegen könnten Wähler, die BSW wählen, um Schwarz-Grün zu verhindern, die Grünen dann doch erneut in die Regierung bringen.

Noch unberechenbarer wird es, wenn neben dem BSW auch die FDP über die Fünf-Prozent-Hürde kommt. In diesem Fall hätte auch Schwarz-Rot keine Mehrheit mehr und wäre auf einen weiteren Koalitionspartner angewiesen. Dies könnte – setzt man voraus, dass Merz nicht mit dem BSW koalieren würde – die FDP sein. Eine „Deutschland-Koalition“, wie es sie auf Länderebene in Sachsen-Anhalt gibt, käme auf 334 Sitze oder 53 Prozent. Allerdings käme ein „Kenia“-Bündnis mit den Grünen auf solide 387 Sitze (61,4 Prozent). Merz müsste in diesem Fall auch eine Handvoll Abweichler nicht fürchten.

Zweitstimmen entscheidend – auch das kann taktisches Wählen beflügeln

Wahlforscher Stefan Merz von infratest dimap erklärte gegenüber der „Tagesschau“ mit Blick auf die derzeitige Konstellation:

„Das hatten wir so noch nicht.“

Er rechnet damit, dass auch am Samstag noch nicht feststehen würde, welche der drei kleineren Parteien den Einzug in den Bundestag schafft. Demgegenüber hat die Erststimme aufgrund der Wahlrechtsreform an Bedeutung verloren. Einerseits ist eine „Rettung“ von Parteien, die unter der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, durch drei Direktmandate weiterhin möglich, das hat das Bundesverfassungsgericht erzwungen.

Da sowohl die CSU als auch die Linke mittlerweile deutlich über der Sperrklausel gehandelt werden, wird es auch für sie nicht mehr im gleichen Maße wie 2021 auf die Erststimmenmandate ankommen. Andererseits könnten mehrere knappe Wahlkreismandate, vor allem in ostdeutschen Großstädten, diesmal wegfallen. Immerhin wird es keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben. In Dresden hatte in einem Wahlkreis 2021 ein Ergebnis von 18,9 Prozent für ein Direktmandat gereicht. Dieses Mal würde der Sieger, sofern er nicht über die Landesliste seiner Partei abgesichert ist, den Einzug wohl verfehlen.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion