Streit um die Schuldenbremse, Notstandsbeschlüsse – und einen Verfassungsbruch

Das brandaktuelle Nachtragshaushaltsgesetz für das laufende Jahr hat den Bundestag in erster Lesung passiert. Der Etat soll um 15 Milliarden schrumpfen. Trotzdem ist die Kreditlast mit 44,8 Milliarden zu hoch. Deshalb soll eine Notlage beschlossen werden.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bei seiner Rede zum Nachtragshaushaltsgesetz 2023 am 1. Dezember 2023.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bei seiner Rede zum Nachtragshaushaltsgesetz 2023 am 1. Dezember 2023.Foto: Bildschirmfoto/Bundestag.de
Von 1. Dezember 2023

Der Bundestag hat am Freitagvormittag den Entwurf des Nachtragshaushaltsgesetzes 2023 in erster Lesung debattiert. Entgegen früherer Absichtserklärungen von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) soll die Schuldenbremse des Grundgesetzes rückwirkend auch für 2023 ausgesetzt werden, um einen verfassungskonformen Haushalt vorweisen zu können. Dafür wäre allerdings zum vierten Mal in Folge die Erklärung einer offiziellen Notlage erforderlich.

Kredite übersteigen das zulässige Maß

Die Ampelregierung müsste auch eine Kürzung des Bundesgesamtetats von gut 15 Milliarden Euro hinnehmen: Der Bund rechnet für 2023 nach Angaben des Bundestages nun mit Einnahmen und Ausgaben von nur noch 461,21 Milliarden (BT-Drucksache Nr. 20/9500, PDF).

Statt wie ursprünglich geplant 45,61 Milliarden an Krediten aufzunehmen, steht nur noch ein Spielraum von 27,41 Milliarden zur Verfügung. Nach einer Berechnung des Bundestages würde die „für die Schuldenregel relevante Kreditaufnahme“ unterm Strich aber „bei 70,61 Milliarden Euro“ liegen – „und damit 44,8 Milliarden Euro über der zulässigen Kreditaufnahme“.

Sondervermögen teils stark gekürzt

Um gleichwohl den gesetzlichen Anforderungen zu genügen, soll der Rotstift auch bei drei der insgesamt 29 „Sondervermögen“ angesetzt werden. Es handelt sich um schuldenfinanzierte Fonds, die unabhängig vom Bundeshaushalt existieren.

Wie vom Bundesverfassungsgericht (BverfG) gefordert, müssen zunächst 60 Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) ersatzlos verfallen. Außerdem sollen rund 121,7 Milliarden Euro aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) und weitere 10,8 Milliarden Euro aus dem Fonds für die „Aufbauhilfe 2021“ gestrichen werden. Die Aufbauhilfe soll nur noch knapp 1,6 Milliarden Euro betragen und zur Bereinigung von Hochwasserschäden im Ahrtal vom Sommer 2021 verwendet werden.

Nach Angaben des Bundestages platzt auch die Zehn-Milliarden-Startfinanzierung für die Aktienrente, mit der ab Mitte der 2030er-Jahre die Rentenbeiträge stabilisiert werden sollten. Für den WSF wurde bereits ein neuer Wirtschaftsplan erstellt.

Die zur Aussetzung der Schuldenbremse erforderliche Notlage gemäß Artikel 115 GG soll nach dem Willen des Ampelkabinetts rückwirkend mit der Ahrtal-Katastrophe und mit der Energiekrise begründet werden, die die Regierung auf den Ukraine-Krieg zurückführt (BT-Drucksache 20/9501, PDF).

Lindner: „Die Richtung stimmt, wir wollen sie fortsetzen

Zum Auftakt der Plenardebatte räumte Finanzminister Lindner ein, dass die Bundesregierung speziell beim WSF „einen anderen Weg“ hätte „gehen müssen“. Immerhin aber habe das BVerfG für „Rechtsklarheit“ gesorgt, aus der die Regierung nun „Rechtssicherheit“ schaffen werde.

Die „Trendwende in der Finanzpolitik“ sei erreicht, meinte Lindner: Während die Schuldenquote 2021 bei 69 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gelegen habe, werde sie 2024 wohl 64 Prozent ausmachen. Bei allen „Rekordinvestitionen in die Erneuerung unseres Landes“ werde das Staatsdefizit 2024 voraussichtlich auf 1,5 Prozent schrumpfen – gegenüber 3,6 Prozent im Jahr 2021.

„Trotz der Preisspitzen“ sei es zudem gelungen, „die Energiekrise einzuhegen“ und „Strukturbrüche in unserer Wirtschaft“ zu verhindern, sagte Lindner. Die „aktuelle Herausforderung“ sehe er „auch als Chance für unser Land“: „Die Richtung stimmt, wir wollen sie fortsetzen“, so Lindner.

SPD und Grüne gegen Schuldenbremse

Der haushaltspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Sven-Christian Kindler, forderte, „klimaschädliche Subventionen“ abzubauen und das „finanziell enge Korsett“ Schuldenbremse zu reformieren, um schon jetzt Investitionen in „die Zukunft unserer Wirtschaft“, in Schulen, ins Eisenbahnnetz oder in Kita tätigen zu können. Sein Parteikollege Andreas Audretsch pflichtete ihm bei: Die Schuldenbremse dürfe keine „Zukunftsbremse“ sein.

Auch Wiebke Esdar (SPD) warb angesichts eines „glänzenden Kontostands“ trotz drei Jahren voller „multipler Krisen“ für ein Aus der Schuldenbremse. Man habe einen „Berg von Verantwortung“ zu tragen. Es sei auch eine Frage der „Generationengerechtigkeit“, jetzt ein „gutes Bildungssystem“, eine „Krisenvorsorge“ und nicht zuletzt „Klimaneutralität“ zu schaffen, um „den Naturkatastrophen etwas entgegenzusetzen“. Dafür brauche man eine „starke Wirtschaft“. Sie selbst halte es für „staatszersetzend“, so zu tun, also ob das Land vor dem Kollaps stehe, wie es die Union tue, sagte Esdar.

Union warnt vor Abbau der Schuldenbremse

Der CDU-Haushaltspolitiker Dr. Mathias Middelberg warf Lindner vor, über neue „Buchungsregeln“, die die Ampel „in den Koalitionsvertrag“ geschrieben habe, „Schattenhaushalte“ und einen „Tatplan zur Umgehung der Schuldenbremse“ geschaffen zu haben. Er wünsche sich nun „mutige Reformen“ von der Regierung, wie es sie bei Gerhard Schröder, Franz Müntefering oder Peer Steinbrück gegeben habe. So solle Lindner „mal ran ans Bürgergeld“ und „ein paar von den Menschen in Beschäftigung“ bringen, die arbeiten könnten. Die CDU sei zwar bereit, „konstruktiv zu helfen“, das setze aber voraus, dass die Ampel wirklich ernsthaft sparen und umschichten wolle.

Sein Parteikollege Christian Haase bat Lindner um einen „Tilgungsplan“ für die Haushaltskredite: „Den vermisse ich noch“. Zudem riet er, das Heizungsgesetz wieder „einzupacken“. Die Schuldenbremse könne bleiben: Sie verhindere nicht „die wichtigen, sondern die unwichtigen Ausgaben“.

Haushaltsausschuss-Obmann Florian Oßner (CSU) richtete sich gegen Vorschläge, nach denen die Schuldenbremse gelockert und die Steuern erhöht werden sollten. Beide Ideen stammten „aus dem Giftschrank für mehr Arbeitslosigkeit, für weniger Wettbewerbsfähigkeit und am Ende weniger Wohlstand in Deutschland“.

AfD: „Politischer Notstand fehlenden Sparwillens“

Der AfD-Haushaltsexperte Peter Boehringer bezeichnete den Haushaltsentwurf als „weiterhin rechtswidrig“: Der „dreiste Trick einer rückwirkenden Erklärung einer Notsituation“ könne „rechtlich nichts heilen“. Zum Zeitpunkt des BVerfG-Urteils habe niemand eine Notsituation 2023 bemerkt. Vielmehr habe Christian Lindner die Notlage schon im Sommer „für beendet erklärt“ (Video auf „X“).

Jetzt gebe es einen „politischen Notstand fehlenden Sparwillens“, was sich an der „grünideologischen CO₂- und Migrationspolitik“ und an der „teure[n] Kriegspolitik im Ausland“ zeige. Es sei „umso bedenklicher“, wenn die Union diesmal nicht gegen die Ampel klagen wolle.

Linke: Ukraine-Krieg kein Grund für Notstandsbeschluss

Nach Auffassung von Gesine Lötzsch, die für die Linke im Haushaltsausschuss arbeitet, könne man den Krieg in der Ukraine nicht heranziehen, um eine Notlage zu erklären: Die Bundesregierung habe diplomatisch nicht genug getan, um „einen Waffenstillstand herbeizuführen“.

Auch Lötzsch kritisierte die Schuldenbremse als einen „Akt der Selbstfesselung“. Es sei ein „Auftrag an alle demokratischen Parteien“ sie „aus dem Grundgesetz zu streichen“. Man dürfe sie ebenso wenig an die nächste Generation vererben wie „eine zerrüttete Infrastruktur“ und „eine zerstörte Umwelt“. Zumindest müsse die Schuldenbremse auch für das Haushaltsjahr 2024 wegfallen.

Fraktionslose sehen Teuerungen und Verfassungsbruch

Die fraktionslose Abgeordnete Joana Cotar, früher AfD, verwies auf die vielen Teuerungen, mit denen es die Menschen bald zu tun bekommen würden – wie etwa durch die CO₂-Preiserhöhung, über die Lkw-Maut oder per Krankenkassenbeitrag. Zudem werde viel Geld im Ausland verschwendet. „Auch ich sehe eine außergewöhnliche Notlage“, so Cotar, „die sitzt auf der Regierungsbank“.

Ihr ebenfalls fraktionsloser Kollege Robert Farle, ehemals AfD, bezeichnete den Nachtragshaushalt ’23 als einen erneuten „vorsätzlichen Verfassungsbruch“. Es gebe keine Notsituation, die sich dem Zugriff des Staates entziehe. Als Beispiel nannte er die „Russophobie“ der Regierungsmitglieder, die verhindere, günstiges Gas über die intakte Röhre der Nord-Stream-2-Pipeline zu beziehen, obwohl Wladimir Putin das erst vor wenigen Wochen angeboten habe.

Genauer Zeitplan soll in der kommenden Woche feststehen

Nun steht als nächster Schritt die rein digitale Anhörung im Haushaltsausschuss des Bundestages an. Sie soll am Dienstag, 5. Dezember, stattfinden. Die obligatorische zweite und dritte Lesung inklusive finaler Gesetzesverabschiedung im Bundestag soll am 14. Dezember stattfinden.

Das Bundeskabinett hatte sich bereits am 27. November auf die Eckpunkte des Nachtragshaushaltsgesetzes 2023 (PDF-Datei) geeinigt, das das Originalgesetz vom 19. Dezember 2022 ersetzen soll. Mit dieser Korrektur soll dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November Rechnung getragen werden.

Hintergrund

Am 15. November hatte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts das „Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021“ für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Die Karlsruher Richter sahen in der jahresübergreifenden Umwidmung von Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro, die einst für den Corona-Sonderfonds gedacht waren, dann aber im Klima- und Transformationsfonds (KTF) auftauchten, eine Umgehung der Schuldenbremse des Grundgesetzes. Der Bund dürfe sich, so der Tenor der Entscheidung, keine Notlagenkredite für spätere Jahre auf Vorrat zurücklegen und von einem Fonds in den anderen verschieben.

Innerhalb der Ampelregierung war man sogleich davon ausgegangen, dass das Urteil auch andere Sondervermögen wie den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) oder jenen zur Ahrtal-Aufbauhilfe betreffen würde. Dem soll das nun diskutierte Korrekturgesetz Rechnung tragen.

Blick auf 2024

Ursprünglich hätte am 1. Dezember schon der Haushalt 2024 verabschiedet werden sollen. Doch das BverfG-Urteil veranlasste Lindner und seine Kabinettskollegen, sich zunächst um das Budget 2023 zu kümmern. Nach Lindners Worten besteht für den Haushalt 2024 ein ungeklärter „Handlungsbedarf“ von 17 Milliarden Euro. Die Schuldenbremse soll aber wieder eingehalten werden. Um „Zukunftsinvestitionen und bedeutende Vorhaben der Koalition“ umzusetzen, würden „andere überkommene, heute nicht mehr notwendige Ausgaben“ gestrichen, sagte er.

(Mit Materialien von Agenturen)



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