Streit um Corona-Papier: Wissenschaftler fordern Antworten von Seehofer

„Renommierte Kollegen und Kolleginnen, allesamt hervorragende Vertreter ihres Fachs, nahmen zu konkreten Fragen auf der Basis der angefragten Expertise sachlich Stellung", heißt es in einer Stellungnahme von Ärzten und Wissenschaftlern. Sie fragen, wieso das BMI die vorliegende Analyse nicht bei seiner Einschätzung bezüglich des Nutzen-Schaden-Verhältnisses der Corona-Schutzmaßnahmen einbezieht.
Von 12. Mai 2020

Wenn die Folgeschäden der Corona-Maßnahmen größer als ihr Nutzen sind, wirft dieser Aspekt viele Fragen auf. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der betroffene Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums (BMI), der mit umfangreichen Recherchen zu diesem Fazit kam, zunächst beurlaubt wurde.

Ebenso wenig macht der Hinweis, dass der Mitarbeiter „weder am Krisenstab beteiligt, noch beauftragt oder autorisiert war eine solche Analyse zu erstellen oder zu veröffentlichen“ die Aussage in dem Papier ungeschehen.

In seinem Bericht hatte der BMI-Mitarbeiter gewarnt: „Es drohen dem Staat hohe Schadenersatzforderungen wegen offenkundiger Fehlentscheidungen“. Würde die Regierung nicht zurückrudern, gerate der Staat unter Verdacht als größter „Fake News-Produzent“ gewirkt zu haben.

Nun stellen sich die Ärzte und Wissenschaftler hinter jenen Mitarbeiter, der lauf offiziellen Meldungen „seine private Auffassung“ wiedergab.

„Mit Verwunderung nehmen wir, die an der Erstellung des besagten Corona-Papiers beratend beteiligten Ärzte und Wissenschaftler/Wissenschaftlerinnen, die Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern (BMI) vom 10. Mai: ‚Mitarbeiter des BMI verbreitet Privatmeinung zum Corona-Krisenmanagement Ausarbeitung erfolgte außerhalb der Zuständigkeit sowie ohne Auftrag und Autorisierung‘ zur Kenntnis“, heißt es nun in einer entsprechenden Stellungnahme und weiter:

„Wir setzen voraus, dass das BMI ein großes Interesse daran hat, dass seine Spezialisten, denen die überaus wichtige Aufgabe anvertraut ist, krisenhafte Entwicklungen zu erkennen und durch rechtzeitiges Warnen Schaden von Deutschland abzuwenden, sowohl mit konkretem Auftrag handeln als auch in Eigeninitiative tätig werden.“

Analyse nach „bestem Wissen und Gewissen“

Der entsprechende Mitarbeiter des BMI habe sich bei der Erstellung der Risikoanalyse zur Einschätzung der medizinischen Kollateralschäden durch die „Corona-Maßnahmen“ im Wege einer fachlichen Anfrage an die Ärzte und Wissenschaftler gewandt.

Getragen von der Verantwortung, hätten diese „den engagierten BMI-Mitarbeiter“ bei der Prüfung dieser essenziellen Frage „nach bestem Wissen und Gewissen, neben unserer eigentlichen beruflichen Tätigkeit“ unterstützt.

Renommierte Kollegen und Kolleginnen, allesamt hervorragende Vertreter ihres Fachs, nahmen zu konkreten Fragen auf der Basis der angefragten Expertise sachlich Stellung. Daraus resultierte eine erste umfangreiche Einschätzung der bereits eingetretenen sowie der drohenden medizinischen Schäden, einschließlich zu erwartender Todesfälle“, heißt es in der Stellungnahme.

Der BMI-Mitarbeiter habe anhand ihrer Arbeit eine Einschätzung vorgenommen und das Ergebnis an die zuständigen Stellen weitergeleitet. Dass dies aufgrund der Kürze der Zeit nur der Anfang einer noch umfangreicheren Prüfung sein könne, stehe nach Einschätzung der Akademiker außer Frage.

„Aber unsere Analyse bietet unseres Erachtens eine gute Ausgangslage für das BMI und die Innenministerien der Länder, den möglichen Nutzen der Schutzmaßnahmen gegenüber dem dadurch verursachten Schaden gut abzuwägen“, betonen die Beteiligten. Ihrer Auffassung nach müssten die adressierten Fachbeamten aufgrund dieses Papiers „eine sofortige Neubewertung der Schutzmaßnahmen“ einleiten, für die sie ebenfalls beratend zur Seite stehen wollen.

Für die an dem Papier beteiligten Ärzte und Wissenschaftler sei es

nicht nachvollziehbar, dass das zuständige Bundesministerium eine derart wichtige Einschätzung auf dem Boden umfassender fachlicher Expertise ignorieren möchte“.

Aufgrund des Ernstes der Lage müsse es darum gehen, sich mit den vorliegenden Sachargumenten auseinanderzusetzen – unabhängig von der Entstehungsgeschichte.

Experten fragen: Wieso bezieht das BMI die vorliegende Analyse nicht ein?

Die Wissenschaftler und Ärzte fragen: „Wieso hat das BMI das Ansinnen des Mitarbeiters nicht unterstützt und wieso bezieht das BMI die nun vorliegende umfangreiche Analyse auf dem Boden fachlich hochwertiger externer Expertise nicht bei seiner Einschätzung bezüglich des Verhältnisses von Nutzen und Schaden der Corona-Schutzmaßnahmen ein?“

Bezugnehmend auf die Aussage der Regierung, dass die Maßnahmen „fortlaufend abgewogen und regelmäßig mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder abgestimmt“ werden, fordern sie das Ministerium auf, zeitnah mitzuteilen, wie genau diese Abwägung stattfindet. Darüber hinaus bitten sie um Nachweise anhand von Daten, Fakten und Quellen, um diese mit der erstellten Analyse zu vergleichen.

„Angesichts der aktuell teilweise katastrophalen Patientenversorgung wären wir beruhigt, wenn diese Analyse zu einer anderen Einschätzung führt als der unsrigen, was uns derzeit jedoch schwer vorstellbar erscheint“, geben die Wissenschaftler und Ärzte zu bedenken.

Wissenschaftler und Ärzte hoffen auf sachdienliche Diskussion

Insgesamt haben wir auf Anfrage eines couragierten Mitarbeiters des BMI die vielfältigen und schweren unerwünschten Wirkungen der Corona-Schutzmaßnahmen im medizinischen Bereich aufgezeigt und diese sind gravierend.

Für uns ergibt sich aus dem gesamten Vorgang der Eindruck, dass nach einer sicher schwierigen Anfangsphase der Epidemie nun die Risiken nicht im notwendigen Maß und insbesondere nicht in einer umfassenden Risikobetrachtung bedacht worden sind. Bezüglich der Berichterstattung zu diesem Vorgang bitten wir darum, die inhaltliche Wertigkeit unserer Analyse in das Zentrum zu stellen, und über uns, in Amt und Person, der ernsten Situation angemessen zu berichten.

Die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelöste Erkrankung Covid-19 verläuft für viele Menschen der bekannten Risikogruppen schwerwiegend. Wie für jede schwere Infektionserkrankung gilt es, für die Patienten die beste Behandlung zu finden und Infektionswege zu unterbinden.

Aber therapeutische und präventive Maßnahmen dürfen niemals schädlicher sein als die Erkrankung selbst. Ziel muss es sein, die Risikogruppen zu schützen, ohne die medizinische Versorgung und die Gesundheit der Gesamtbevölkerung zu gefährden, so wie es gerade leider geschieht.

Wir in Wissenschaft und Praxis sowie sehr viele Kolleginnen und Kollegen erleben täglich die Folgeschäden der Corona-Schutzmaßnahmen an unseren Patienten. Wir fordern deshalb das Bundesministerium des Innern auf, zu unserer Pressemitteilung Stellung zu nehmen und hoffen auf eine sachdienliche Diskussion, die hinsichtlich der Maßnahmen zur bestmöglichen Lösung für die gesamte Bevölkerung führt.“

Unterzeichner

Unterzeichnet wurde die auf der Internetplattform „Achgut“  veröffentlichte Stellungnahme von: Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, Universitätsprofessor für Medizinische Mikrobiologie (im Ruhestand) Universität Mainz; Dr. med. Gunter Frank, Arzt für Allgemeinmedizin, Mitglied der ständigen Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Familienmedizin und Allgemeinmedizin (DEGAM), Heidelberg; Prof. Dr. phil. Dr. rer. pol. Dipl.-Soz. Dr. Gunnar Heinsohn, Emeritus der Sozialwissenschaften der Universität Bremen.

Weiterhin von Prof. Dr. Stefan W. Hockertz, tpi consult GmbH, ehem. Direktor des Instituts für Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie am Universitätskrankenhaus Eppendorf; Prof. Dr. Dr. rer. nat. (USA) Andreas S. Lübbe, Ärztlicher Direktor des MZG-Westfalen, Chefarzt Cecilien-Klinik; Prof. Dr. Karina Reiß, Department of Dermatology and Allergology University Hospital Schleswig-Holstein; Prof. Dr. Peter Schirmacher, Professor der Pathologie, Heidelberg, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

Gleichfalls von Prof. Dr. Andreas Sönnichsen, Stellv. Curriculumsdirektor der Medizinischen Universität Wien, Abteilung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin; Dr. med. Til Uebel, Niedergelassener Hausarzt, Facharzt für Allgemeinmedizin, Diabetologie, Notfallmedizin, Lehrarzt des Institutes für Allgemeinmedizin der Universität Würzburg, akademische Lehrpraxis der Universität Heidelberg und Prof. Dr. Dr. phil. Harald Walach, Prof. Med. Universität Poznan, Abt. Pädiatrische Gastroenterologie, Gastprof. Universität Witten-Herdecke, Abt. Psychologie 4.



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