Streeck: „Corona-Zahlen rechtfertigen keinen Lockdown“ – 20.000 Neuinfektionen pro Tag überzogen

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck und das Expertenteam des „Focus“ warnen davor, die aktuellen Corona-Zahlen und darauf aufgebaute Modellrechnungen zum Anlass für Panik zu machen. Vorsicht und Risikobewusstsein seien gerechtfertigt, ein Lockdown wäre es nicht.
Von 26. Oktober 2020

Der Virologe Hendrik Streeck hat in einem Interview mit dem Sender „phoenix“ erklärt, dass es aus seiner Sicht keine Notwendigkeit gäbe, angesichts der Entwicklung der Corona-Zahlen in Deutschland über einen neuen Lockdown nachzudenken. Der Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn sagte, dass die derzeitige Situation nicht mit den Verhältnissen des Frühjahrs vergleichbar sei.

Streeck: Zeit, andere Schwellenwerte zu definieren

„Virologisch müsste man so etwas [das öffentliche Leben herunterzufahren; Anmerk. d. Red.] raten“, wenn eine bestimmte Ausgangslage erreicht sei, meint Streeck, „aber ich denke nicht, dass wir diesen Punkt erreicht haben.“

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Es solle nicht nur auf die Infektionszahlen als solche, sondern auch auf die Entwicklung in der stationären und intensivmedizinischen Pflege geschaut werden. Das eigentlich relevante Geschehen spiele sich in den Krankenhäusern ab. Die eigentlichen Zahlen spiegelten nicht mehr dasselbe wider, was im März oder April vonstattengegangen sei.

Lockdown in Berchtesgaden stützt sich nur auf Zahl der positiv Getesteten 

Es müssten auch andere Schwellenwerte definiert werden, um treffsichere Aussagen darüber machen zu können, wie sich das Virus verhalte. Streeck, der zu den ersten Experten gehört hatte, der für lokale und regionale Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus eingetreten war, bleibt auch angesichts des derzeitigen lokalen Lockdowns in Berchtesgaden skeptisch.

Es werde isoliert auf die Zahl der positiv Getesteten Bezug genommen. Die Zahl der tatsächlich Behandlungsbedürftigen und die Belegung der Krankenhäuser würde auch dort ausgeklammert. Die überarbeiteten Standards, die auch auf diese Parameter Rücksicht nehmen, könnten „gerne bundeseinheitlich definiert“ werden, meint Streeck. Anwenden sollte man sie jedoch auch lokal. Streeck weist darauf hin, dass im März und April deutlich weniger Menschen auf Befall mit SARS-CoV-2 getestet wurden.

Schlimmeres Szenario als von Merkel entworfen?

In ähnlicher Weise äußern sich im „Focus“ die Mitglieder des dortigen Corona-Expertenteams, Infektiologe Christoph Spinner, Virologe Friedemann Weber, Statistikerin Katharina Schüller und Redakteurin Kristina Kreisel. Schüller hält die Warnungen vor möglicherweise zwischen 10.000 und 20.000 täglichen Neuinfektionen für überzogen, die jüngst Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von RKI-Chef Lothar Wieler bis hin zu Kanzlerin Angela Merkel als mögliche Szenarien ins Spiel gebracht hatten.

Zumindest bis Weihnachten – so die Kanzlerin – seien Zahlen von 19.000 neuen Fällen in 24 Stunden zu erwarten. Einige Statistiker halten gar noch größere Steigerungen für möglich, immerhin seien die Zahlen zuletzt noch stärker angewachsen als in der Rechnung Merkels. Am Freitag (23.10.) hatte es mit 13.476 positiv Getesteten einen neuen Rekordwert für Deutschland gegeben.

Über das Wochenende ist die Zahl wieder auf etwa 10.000 gesunken, was aber zum einen damit zu tun haben könnte, dass an Samstagen und Sonntagen häufig weniger Tests und Meldungen zu verzeichnen sind. Die Werte liegen zudem immer noch deutlich über dem Höchststand des Frühjahrs von 6.933 am 27. März.

R-Wert schwankt statistisch gesehen stetig

Zudem hat das RKI im Zuge des jüngsten Anstiegs einen 4-Tage-R-Wert von 1,17 angegeben, der noch über jenem von 1,13 lag, der dem Merkel-Szenario Pate stand. Statistikerin Katharina Schüller erklärt dazu allerdings, dass der Reproduktionswert, der aus einem so kurzen Zeitraum errechnet werde, nicht überbewertet werden darf. Im „Focus“ äußert sie:

„Diese Berechnungen sind immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Der Reproduktionswert schwankt statistisch gesehen um 0,1 bis 0,2. Das ist normal.“

Es sei zwar immer noch von einem R-Wert über 1 auszugehen und damit von einer Zunahme der Ansteckungen. Allerdings komme es darauf an, wie sich die Entwicklung abseits kurzlebiger statistischer Schwankungen vollziehe. Panik sei jedenfalls nicht angebracht.

Prognosemodelle bilden Veränderungen nicht ab

Der Unterschied zwischen einem R-Wert von 1,1 und einem von 1,2 pro 4-Tages-Zyklus sei zwar infolge eines exponentiellen Wachstumsszenarios eklatant: Im erstgenannten Fall würde die Zahl der Neuinfektionen bis Weihnachten 13.349 erreichen, im zweiten 63.923. Liegt der R-Wert über 1, steckt ein Infizierter im Schnitt mehr als einen anderen Menschen an, und dieser wiederum mehr als einen weiteren, was in Summe die exponentielle Vermehrung der Ansteckungen und damit eine immense Zunahme schon in kurzer Zeit bedingen würde. Die Corona-Maßnahmen sollen helfen, einer solchen Entwicklung gegenzusteuern.

Schüller hält es jedoch für unwahrscheinlich, dass es sich genau so abspielen wird. Die Rechnungen gingen davon aus, dass sich keine Änderungen in den Rahmenbedingungen ergeben. Diese würden sich jedoch einstellen – zum einen durch Verhaltensänderungen aufseiten der Bürger, zum anderen durch Maßnahmen der Politik, mit denen zu rechnen sei. Die Prognosemodelle bildeten dies nicht ab.

Im Frühjahr tatsächlich bis zu 70.000 Corona-Neuinfektionen am Tag?

Schüller unterstreicht zudem, dass die Zahlen von heute nicht mit jenen vom Frühjahr zu vergleichen sind. Damals seien nur Menschen mit Symptomen und Kontakt zu nachweislich Corona-Infizierten getestet worden: „Inzwischen testen wir aber auch viele Menschen, die keine oder nur leichte Symptome haben.“

Die Dunkelziffer an Infizierten sei im Frühjahr erheblich größer gewesen, von zehn tatsächlich Infizierten wäre schätzungsweise nur einer getestet worden. Auch trage eine gezielte und offensive Teststrategie in High-Risk-Bereichen wie Alten- oder Pflegeheimen zu einer besseren Diagnose- und Schutzsituation bei.

Allerdings sei es auch verkürzt, die steigende Zahl an positiven Tests allein auf eine höhere Anzahl an durchgeführten Tests zurückzuführen. Wäre dem so, müssten die jeweiligen Entwicklungen parallel verlaufen. Dem sei jedoch nicht so. Tatsächlich hätten Rückkehrer aus dem Urlaub einen Sprung der Zahl an positiv Getesteten nach oben bewirkt, auch lokale Cluster seien besser identifizierbar.

Das Gesundheitssystem halte der Entwicklung jedoch stand und die Deutschen könnten durch konsequente Einhaltung der AHA-Regeln, regelmäßiges Lüften und risikobewussteres Verhalten dafür sorgen, dass es so bleibe.

Virus wird eines Tages „ausbrennen“

Was die weitere Entwicklung des Infektionsgeschehens betrifft, rechnet Virologe Streeck mit einem weiteren Anstieg. Dieser stehe „außer Frage, dies sei auch die Saisonalität des Virus“. Zum Frühjahr und vor allem Sommer hin werde die Kurve wieder abflachen, um dann im nächsten Herbst und Winter wieder zu steigen.

„Die Frage ist dabei, wie hoch es jetzt gehen wird, das kann man nicht vorhersagen“, erläutert der Experte. „Das mildere Wetter hat vielleicht einen Einfluss, den wir nächste Woche sehen werden. Aber wir können es nicht vorhersagen, wie hoch die Infektionszahlen gehen.“

Irgendwann, wenn das Virus nicht mehr so viele Personen vorfände, um diese zu infizieren, werde es „ausbrennen“. Wann dieser Zeitpunkt erreicht sein werde, lasse sich jedoch nicht vorhersagen.



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