Steinmeier: „Man kann Deutschland nur mit gebrochenem Herzen lieben“
Zum 75. Jahrestags des Kriegsendes hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Deutschen zu einem selbstkritischen und geschichtsbewussten Patriotismus aufgerufen. „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben“, sagte Steinmeier in seiner Ansprache an der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik in Berlin.
„Die deutsche Geschichte ist eine gebrochene Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid“, sagte er. „Das bricht uns das Herz.“
Die Deutschen müssten ihrer Geschichte „ins Auge sehen“, mahnte der Bundespräsident. „Weil wir die historische Verantwortung annehmen, haben die Völker der Welt unserem Land neues Vertrauen geschenkt – und deshalb dürfen auch wir selbst uns diesem Deutschland anvertrauen.“ Darin sehe er einen „aufgeklärten, demokratischen Patriotismus“, sagte Steinmeier.
Zu der Zeremonie an der Neuen Wache, der zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, versammelten sich am Mittag die Repräsentanten der deutschen Verfassungsorgane.
Zu den Teilnehmern zählten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), Bundesratspräsident Dietmar Woidke (SPD) und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Sie legten Kränze nieder.
In seiner Rede zeichnete der Bundespräsident den „langen und schmerzhaften Weg“ der Deutschen hin zum Eingeständnis der eigenen Schuld nach. „Es waren Jahrzehnte, in denen viele Deutsche meiner Generation erst nach und nach ihren Frieden mit diesem Land machen konnten“, sagte er.
Steinmeier: „Der Tag der Befreiung ist ein Tag der Dankbarkeit!“
„Die Befreiung war 1945 von außen gekommen: Sie musste von außen kommen – so tief war dieses Land verstrickt in sein eigenes Unheil“, sagte Steinmeier. Aber: Die Deutschen hätten dann selbst Anteil genommen an der Befreiung. Steinmeier sprach in diesem Zusammenhang von einer „inneren Bereitung“. Diese Errungenschaft gelte es nun zu bewahren.
Wer das Eingeständnis der Schuld nicht ertrage, „wer einen Schlussstrich fordert, der verdrängt nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur“, warnte Steinmeier.
„Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der verleugnet den Wesenskern unserer Demokratie.“ Nicht das Erinnern sei eine Last – „das Nichterinnern wird zur Last“, sagte er. „Nicht das Bekenntnis zur Verantwortung ist eine Schande – das Leugnen ist eine Schande!“
„Ja, wir Deutsche dürfen heute sagen: Der Tag der Befreiung ist ein Tag der Dankbarkeit!“, sagte der Bundespräsident weiter. „Drei Generationen hat es gedauert, bis wir uns dazu aus vollem Herzen bekennen können.“
In seiner Rede legte Steinmeier ein Plädoyer für die europäische Einigung ab, die in der Krisenzeit der Corona-Pandemie wichtiger sei denn je: „Wenn Europa scheitert, scheitert auch das ‚Nie wieder!'“
Deutschland sei „über die Jahre vom Gefährder der internationalen Ordnung zu ihrem Förderer geworden“, sagte er – und legte ein Bekenntnis zur multilateralen Zusammenarbeit ab: „Wir dürfen uns nicht abfinden mit der Entfremdung von denen, die sie errichtet haben. Wir wollen mehr und nicht weniger Zusammenarbeit auf der Welt.“
Wegen der Corona-Pandemie wurde die Gedenkzeremomie in Berlin im Umfang stark reduziert. Der ursprünglich geplante Staatsakt wurde abgesagt.
Die Corona-Pandemie zwinge Deutschland, „allein zu gedenken – getrennt von denen, die uns wichtig und denen wir dankbar sind“, sagte Steinmeier. „Vielleicht versetzt uns dieses Alleinsein noch einmal zurück an jenen 8. Mai 1945: Denn damals waren die Deutschen tatsächlich allein.“
Zahl der Weltkriegs-Zeitzeugen immer noch groß
Die Zahl der Menschen, die heute noch als Zeitzeugen über den Zweiten Weltkrieg berichten können, ist wegen der steigenden Lebenserwartung noch immer groß. 75 Jahre nach Kriegsende leben im Bundesgebiet noch etwa sechs Millionen Deutsche, die 1945 mindestens fünf Jahre alt waren, wie das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ am Freitag vorab berichtete. Noch bis Mitte der 1970er-Jahre stellten Deutsche mit Kriegserinnerungen sogar die Mehrheit der Bevölkerung.
Erst um 2000 sei der Anteil derjenigen, die vor 1941 geboren worden waren, auf weniger als ein Viertel gesunken, schreibt der „Spiegel“. Der 2017 verstorbene Altkanzler Helmut Kohl (CDU) sei der letzte Kanzler aus dieser Altersgruppe. Er hatte im Februar 1989 darauf verwiesen, dass Freiheit und Frieden für die Mehrheit der Bundesbürger selbstverständlich seien. (afp/nh)
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