Staatsrechtler kritisiert Verfassungsschutzkonzept der „Staats-Delegitimierer“

Staatsrechtler Prof. Dr. Murswiek sieht in der neuen „Delegitimierung des Staates“ „gefährlich unscharfe Begriffe“. Dadurch würden Regierungskritiker schnell zu Extremisten abgestempelt.
Titelbild
Professor Dr. Dietrich Murswiek.Foto: Privat
Von 3. Dezember 2022

Die Bilder von den Großdemonstrationen in Berlin gegen die Corona-Politik im Sommer 2020 sind vielen in Erinnerung. Zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor hatten sich auf der Straße des 17. Juni mit dem angrenzenden Tiergarten mehrere Hunderttausend Menschen versammelt. Der Veranstalter sprach bei einer der Demonstrationen damals von schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen, die sich dort aufhielten.

Nach diesen Großversammlungen kündigte der damalige Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) ein härteres Vorgehen gegen Demonstranten an, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen. Ein Großteil der nachfolgend angezeigten Versammlungen von Kritikern der Corona-Politik wurden verboten.

Gerichte bestätigten zumeist die Verbote. Die Berliner Polizei ging massiv gegen friedliche Demonstranten vor, die sich trotz Verbot versammelten. In den Augen des damaligen UN-Sonderberichterstatters für Folter und Menschenrechtsverletzungen, dem Schweizer Rechtswissenschaftler Professor Nils Melzer, in „besorgniserregender“ Weise.

Geisel: „Berlin als Bühne für Corona-Leugner“

Die Verbote wurden damals damit begründet, dass man davon ausgehe, dass sich die Teilnehmer nicht an die zu jener Zeit geltenden Corona-Auflagen für Versammlungen halten würden. Genau gegen diese von namhaften Wissenschaftlern selbst infrage gestellten Auflagen gingen die Protestler aber auf die Straße.

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte damals vor einer von „Querdenken 711“ angezeigten Veranstaltungen am 29. August 2020 gesagt: „Ich bin nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird. Ich erwarte eine klare Abgrenzung aller Demokraten gegenüber denjenigen, die unter dem Deckmantel der Versammlungs- und Meinungsfreiheit unser System verächtlich machen.“

Im April 2021 führte der Bundesverfassungsschutz aufgrund der politisch oder religiös nicht einzuordnenden „Querdenkern“ als neuen Phänomenbereich die „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ein.

„Geisels Aussage klar verfassungswidrig“

Bereits damals äußerte der Freiburger Staatsrechtler Prof. Dr. Dietrich Murswiek gegenüber Epoch Times zu Geisels Aussage:

„Unabhängig davon, ob dies der eigentliche Grund für das Verbot ist und die Argumentation mit der befürchteten Nichteinhaltung der Hygieneregeln nur vorgeschoben ist, ist diese Aussage klar verfassungswidrig.“

Der Innensenator setze das Mittel des Versammlungsverbotes ein, um politische Gegner der Regierung am Demonstrieren zu hindern. Dies verstoße nicht nur gegen die Versammlungsfreiheit, sondern richte sich auch gegen das Demokratieprinzip, so Murswiek.

Murswiek: Verfassungsschutz nutzt gefährlich unscharfe Begriffe

Murswiek ging nun in einem Gastbeitrag bei „Legal Tribune Online“ auf die Gefahren, die durch den vom Verfassungsschutz 2021 eingeführten Bereich „Delegitimierung des Staates“ und die damit verbundenen „gefährlich unscharfen Begriffe“ ein.

Dazu nutzte er die im Verfassungsschutzbericht benannte Ahrtal-Flutkatastrophe als Beispiel. Polizeivideos aus der Katastrophennacht wurden veröffentlicht und der rheinland-pfälzische Innenminister Lewentz ist Anfang Oktober 2022 zurückgetreten. Seitdem gibt es für Murswiek, kaum mehr Zweifel, dass die Landesregierung in das Versagen bei der Ahrtal-Katastrophe involviert war.

Von „Behördenversagen“, „Staatsversagen“ oder schlicht vom „Versagen“ der verantwortlichen Politiker sei jetzt in vielen Presseberichten die Rede.

Noch vor wenigen Monaten wären im Verfassungsschutzbericht 2021, Menschen, die damals in Bezug auf die Flutkatastrophe im Ahrtal diese Formulierungen nutzten, vom Verfassungsschutz als Extremisten angeprangert worden, so Murswiek.

Mit dem damals neu eingeführten „Phänomenbereich“ des Verfassungsschutzes „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ gab es jetzt eine neue Art von „Extremisten“. Vorher gab es nur Rechts- und Linksextremisten, Islamisten, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ oder politisch motivierte Kriminelle mit religiöser oder ausländischer Ideologie.

„Nun gibt es auch Extremisten, die man als ‚Delegitimierer‘ bezeichnet“, so der Staatsrechtler.

Kritik, eine Delegitimierung des Staates?

In den Augen des Verfassungsschutzes würden Menschen, die nach der Flutkatastrophe „aktiv den Eindruck“ erweckten, dass staatliche Stellen mit der Bewältigung der Lage „komplett überfordert gewesen seien“, auf die Delegitimierung des demokratischen Staates hinwirken. Aus Sicht des Verfassungsschutzes könnte dies einen Anhaltspunkt bieten, Extremist zu sein.

„Diese Form der Delegitimierung erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solcher, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen“, heißt es im Verfassungsschutzbericht 2021 weiter.

Staatsrechtler: Verfassungsschutz verwechselt Regierungskritik mit Kritik am Rechtsstaatsprinzip

Für Murswiek ist klar, dass derjenige, der Demokratie oder Rechtsstaat beseitigen will, ein Verfassungsfeind ist.

Der Verfassungsschutz aber verwechselt Kritik an der Regierung mit Kritik am Demokratie- und am Rechtsstaatsprinzip.“

Der Verfassungsschutz sehe „eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentanten“ als Delegitimierung des Staates und deshalb als verfassungsfeindlich an.

Im demokratischen Staat gehöre es jedoch zum Wesen der Opposition, Kritik an der Regierung zu üben, so Murswiek.

„Es ist das verfassungsrechtlich verbürgte Recht der – parlamentarischen und der außerparlamentarischen – Opposition, alles zu kritisieren, was die Regierung macht.“ Dabei sei egal, ob diese Kritik berechtigt sei oder nicht.

Murswiek zufolge ist jeder berechtigt, auch heftige Kritik an der Regierung zu üben.

Verfassungsschutz entscheidet nicht über Kritikberechtigung

Und ob sie berechtigt sei oder nicht, entscheide nicht der Verfassungsschutz, sondern das entscheide jeder für sich, insbesondere an der Wahlurne, so der Staatsrechtler.

Wenn der Verfassungsschutz nun von „Agitation“ statt von Kritik spreche, dann sei das eine Parteinahme für die Regierung.

Entsprechend einem Karlsruher Urteil von 1952 sei Kritik – auch heftige, polemische und ständig wiederholte Kritik – an Parteien, Politikern, Amtsinhabern nicht als solche verfassungsfeindlich. Verfassungsfeindlich sei sie nur dann, wenn sie sich ihrem Inhalt (nicht notwendig ihrem Wortlaut) nach gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richte, so Murswiek.

Murswiek: „Verächtlichmachen“ ein Gummibegriff

Der Begriff „Verächtlichmachen“ ist in den Augen des Rechtsgelehrten zudem ein Gummibegriff.

Wird die Außenministerin „verächtlich gemacht“, wenn jemand sich über ihre häufigen Sprachschnitzer mokiert? Und ist es ein „Verächtlichmachen“, wenn der Eindruck erweckt wird, das staatliche Krisenmanagement sei bei der Ahrtal-Katastrophe „komplett überfordert“ gewesen, fragt Murswiek.

Für ihn sei klar, dass der Verfassungsschutz sich in der Praxis nicht darauf beschränke, solche Äußerungen als „delegitimierend“ anzuprangern, mit denen ausdrücklich die Demokratie angegriffen werde.

Sondern er werte bereits heftige Kritik an der Regierungspolitik – zumindest bei „ständiger Agitation“ – als delegitimierend und daher extremistisch, so der Rechtsgelehrte.

Das Bundesinnenministerium und der Verfassungsschutz hätten nicht verstanden, was das Demokratieprinzip ausmacht, wenn sie bei Kritik an politisch Verantwortlichen gleich ein Infragestellen der Legitimität des Staates sähen.

Verfassungsschutz wird selbst zum Problem für die Demokratie

Es kann auch nicht darauf ankommen, ob der gegen die Regierung gerichtete Vorwurf des Versagens berechtigt ist oder nicht. Das Innenministerium sei kein Wahrheitsministerium. „Ob ein politischer Vorwurf berechtigt ist oder nicht, ist in der Demokratie Sache des politischen Streits, nicht obrigkeitlicher Entscheidung“, erklärt der Staatsrechtler.

Sein Fazit zum neuen Phänomenbereich des Verfassungsschutzes:

Das Konzept „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ hat einen berechtigten Kern. Der sei nicht neu.

Die Gefahr des Konzeptes um den neuen „Phänomenbereich“ besteht in der Überdehnung der Begriffe „ständige Agitation“ und „Verächtlichmachung“.

Indem der Verfassungsschutz heftige Kritik an der Regierungspolitik als „delegitimierend“ und daher extremistisch aus dem demokratischen Diskurs verdrängen wolle, werde er selbst zum Problem für die Demokratie.

Mit dem neuen Phänomenbereich seien die Weichen für eine Bewertungspraxis gestellt, die jede Protestbewegung als angeblich den Staat delegitimierend anprangern kann. „Das ist undemokratisch, muss korrigiert werden und darf sich im nächsten Verfassungsschutzbericht nicht wiederholen.“

Prof. Dr. Dietrich Murswiek ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg im Breisgau.



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