Staatsanwalt Knispel: „Würde mich hüten, Berlin als sichere Stadt zu bezeichnen“
In einem ausführlichen Interview mit der „Berliner Zeitung“ hat der Vorsitzende der Vereinigung Berliner Staatsanwälte, Ralph Knispel, eine bittere Bilanz mit Blick auf die Kriminalitätsentwicklung in der Hauptstadt gezogen. Der 60-Jährige, der die Abteilung für Kapitalverbrechen leitet, erklärt, dass mittlerweile jeder in Berlin damit rechnen müsse, zu irgendeinem Zeitpunkt Opfer einer Straftat zu werden. Knispel selbst hatte vor Jahren einen Wohnungseinbruch zu beklagen, bei dem die Ersparnisse seiner Kinder entwendet wurden.
Deutlich mehr Einbrüche und Sexualstraftaten
Zwar ist die Zahl der registrierten Straftaten in Berlin mit 513.400 im vergangenen Jahr nur leicht angestiegen. Gleichzeitig ist die Aufklärungsquote mit 44,7 Prozent niedrig. Besonders stark ist die Zahl der Sexualstraftaten gestiegen, auch bei den Wohnungseinbrüchen gibt es ein deutliches Plus.
Knispel warnte davor, nominelle Eigentumsdelikte wie Einbrüche zu bagatellisieren. Für die Betroffenen könne es sich um traumatische Erlebnisse handeln. Auch würde er sich „davor hüten“, Berlin als sichere Stadt zu bezeichnen. Kaum jemand in Berlin könne davon ausgehen, nicht zum Opfer einer Straftat zu werden. Der Status als Metropole könne nicht der einzige Grund sein, warum die Situation so unbefriedigend sei:
„Seit Jahren hat diese Stadt, bezogen auf die Einwohnerzahl, die höchste Kriminalitätsquote und die geringste Aufklärungsquote in Deutschland. Da müssen wir uns schon die Frage stellen, warum es in anderen Bundesländern weniger Straftaten pro Einwohner gibt – auch in Großstädten, die zudem noch eine höhere Aufklärungsquote haben.“
Staatsanwalt kritisiert „Vorzugsbehandlung“ für bestimmte Menschen
Knispel sieht die Verantwortung für die Zustände teils beim Bund, aber zum noch größeren Teil bei der Landespolitik. In beiden Fällen sei am falschen Platz gespart worden, in Berlin selbst habe man zudem noch Fehlentwicklungen „ewig zugeschaut und offenbar gemeint, bestimmte Menschen vorzugsweise behandeln zu müssen“.
Die Bezahlung der Beamten und die bereitgestellten Mittel für die Infrastruktur ließen zu wünschen übrig, klagt der Staatsanwalt. Zudem habe die Politik selbst dort, wo sie in der Sache richtige Schritte gesetzt habe, nicht dafür gesorgt, dass diesen auch entsprochen werden könne:
„Wir haben seit 2017 ein Gesetz zur Überwachung von Telefongesprächen, die nicht über klassische Telefonverbindungen, sondern über das Internet, über Messengerdienste geführt werden. Aber wir können dieses Gesetz nicht umsetzen, weil wir keine Mittel dafür haben. Das wird so hingenommen. Dabei laufen ganz viele Kommunikationen im kriminellen Milieu auf diese Art. Die Verantwortlichen müssen wissen, dass Sicherheit auch Geld kostet.“
Manche Delikte werden gar nicht mehr angezeigt
Von Beschwichtigungen vonseiten der Politik, die auf Statistiken setzt, die gegen eine steigende Gefährdung sprechen, und Crime-Sendungen im Fernsehen als Grund für steigende subjektive Unsicherheit benennt, hält Knispel wenig. Ein Eindruck dieser Art werde vielmehr durch das eigene Erleben oder das eigener Angehörigen oder Freunde verstärkt.
Zwar möge es stimmen, dass es weniger Fälle von Mord und Totschlag als in den 1990er Jahren gäbe, und auch insgesamt sei die Kriminalitätsrate zurückgegangen. Die Entwicklungen seien je nach Deliktsgruppe sehr unterschiedlich. Bei Gewaltdelikten schwanke sie, Wohnungseinbrüche unterblieben häufig nur infolge stärkerer Sicherungsmaßnahmen vonseiten der Eigentümer. Viele Straftaten würden gar nicht erst zur Anzeige kommen, weil die Opfer ohnehin nicht damit rechneten, dass diese Erfolge zeitigen würde – das reiche vom Fahrraddiebstahl über Nötigung bis hin zu Fällen einfacher Körperverletzung.
Knispel: „In einem Jahr nur fünf Straftäter abgeschoben“
Auch sonst zeigten sich in einzelnen Bereichen beunruhigende Tendenzen:
„Die Zahl der Straftaten im Straßenverkehr ist dagegen gestiegen. Und im Bereich des Rechtsextremismus registrieren wir sogar einen ganz enormen Anstieg. Übrigens ebenso wie bei linksextremistischen Straftaten – auch wenn das in Berlin nicht so gern gehört wird. Das zeigt, dass wir uns trotz sinkender Kriminalitätsrate nicht zurücklehnen dürfen und null Toleranz bei allen Straftaten zeigen müssen.“
Knispel will trotz eines steigenden Unsicherheitsgefühls und nachlassenden Vertrauens in den Rechtsstaat nicht von No-Go-Areas in Berlin sprechen. Gefährliche Gegenden seien jedoch Realität, wo Polizeibeamte nur in Gruppenstärke auftauchten und Mitarbeiter des Ordnungsamts die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten unterließen, weil sie andernfalls Übergriffe befürchten müssten. Vorfälle dieser Art seien etwa im Zusammenhang mit Partys oder der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln zu beklagen gewesen. Der Enthusiasmus, gegen Tendenzen dieser Art vorzugehen, habe sich in Grenzen gehalten:
Es wurde beispielsweise hingenommen, dass sich kriminelle Clans hier etablieren konnten. Von Abschiebungen ist lange Zeit abgesehen worden. Aus dem gesamten Berliner Strafvollzug sind vor einiger Zeit in einem Jahr nur fünf Straftäter abgeschoben worden. Wir sind jetzt dabei, das alles aufzuholen.“
Bild vom „faulen Beamten“ kultiviert
Wo die Exekutive am weitesten hinterherhinke, sei die technische Ausstattung, die häufig hoffnungslos veraltet sei. Symptomatisch sei die jüngste Panne in den IT-Systemen des Berliner Kammergerichts.
Dazu komme ein Mangel an qualifiziertem Personal. Die Politik habe lange ein Bild vom „faulen Beamten“ kultiviert, um Einsparungen zu rechtfertigen, auch bei den Mitarbeiterstellen. Selbst wenn diese mittlerweile aufgestockt würden, bevorzugten Spitzenkräfte etwa unter Juristen besser bezahlte Posten in anderen Bundesländern oder in der Privatwirtschaft.
Einige wenige Lichtblicke gäbe es jedoch auch, meint Knispel. Dazu gehöre die Beschlagnahmung von 77 Immobilien, die kriminellen Clans zuzuordnen seien. Dies solle als Ansporn dienen, nun konsequent weiterzumachen.
Justiz in Berlin chronisch überlastet
Allerdings müsse man auch in diesem Zusammenhang damit rechnen, dass der Justiz Steine in den Weg gelegt würden, etwa bezüglich der Ermittlungsmethoden:
„Wir sehen uns europäischer Rechtsprechung ausgesetzt, die uns enge Fesseln anlegt. Das gilt auch für die Vorratsdatenspeicherung. Jahrelang ist von den Medien und interessierten Politikern der Eindruck erweckt worden, der Staat sammele alle Kommunikationsdaten im großen Stil, könne Profilbilder von seiner Bevölkerung erstellen und so nachvollziehen, wer wann wo gewesen ist. Das ist alles Unsinn.“
Gerade in Berlin sei die Justiz auch chronisch überlastet, was sie in vielen Bereichen nicht mehr handlungsfähig mache. Es komme vielfach zu überlangen Verfahren, die sich häufig dahingehend auswirkten, dass Angeklagte mithilfe findiger Anwälte allein schon deshalb milde Urteile erwirken könnten. Vor allem dort, wo keine Untersuchungshaft mehr besteht, spielten Beschuldigte auf Zeit.
Verteidiger nehmen gezielt das Tempo aus den Verfahren
„Zwischen der Tat und einem rechtskräftigen Urteil vergehen Jahre“, erläutert Knispel. „Und anwaltlich besonders gut beratene Angeklagte sind dann natürlich in der Lage, Verfahren noch weiter zu verzögern. Nicht selten legt die Verteidigung auch dar, dass ihr Mandant den Weg zum Rechtsstaat inzwischen zurückgefunden habe. Letztlich darf der Angeklagte dann wegen der Länge des Verfahrens mit einem geringeren Strafmaß rechnen. So kommt es zu Urteilen, die nicht mehr nachzuvollziehen sind.“
Zudem erlaube das Beweisantragsrecht der Verteidigung, sogar noch am letzten Hauptverhandlungstag neue Beweisanträge zu stellen und damit das Verfahren weiter zu verzögern. Es gäbe, so Knispel, „Rechtsstaaten wie Großbritannien oder Frankreich, in denen das strenger gehandhabt wird“.
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