Soziales Pflichtjahr: Vom „Arbeitsdienst 2.0“ zur konsensfähigen Forderung

Die CDU beschloss auf ihrem Bundesparteitag, ein soziales Pflichtjahr für alle zu fordern. Ende der 1980er noch verpönt, finden sich Verfechter der Idee mittlerweile quer durch die Parteien.
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Über ein soziales Pflichtjahr wird schon länger diskutiert.Foto: Christophe Gateau/dpa
Von 18. September 2022

Freiwillig war möglicherweise bald gestern: Auf ihrem Bundesparteitag am 9. und 10. September in Hannover hat die CDU die Forderung nach einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr für junge Menschen beschlossen. Ein solches soziales Pflichtjahr soll unmittelbar an den Abschluss der schulischen Bildungslaufbahn anschließen.

Der Dienst soll in der Bundeswehr, in sozialen Einrichtungen, in Krankenhäusern, anerkannten Hilfsorganisationen oder Einrichtungen von Sport und Kultur abgeleistet werden können. Ein solches Jahr, so die Begründung, fördere die Persönlichkeitsentwicklung und mache den Staat widerstandsfähiger.

Kritiker beim CDU-Parteitag in der Minderheit

Dass die CDU noch Anfang der 2010er-Jahre die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht gefordert hatte, deuteten die Redner, die sich für den Vorschlag ausgesprochen hatten, in der Weise, dass dies damals vor dem Hintergrund der fehlenden Wehrgerechtigkeit richtig gewesen wäre – heute stünde man hingegen vor einer veränderten Lage.

Die Gesellschaft stecke inmitten einer schweren Krise, breche auseinander, mahnt Hessens Ministerpräsident Boris Rhein. Ein Pflichtdienst würde helfen, die Segmentierung aufzubrechen und Gräben zuzuschütten.

Kritiker wie MdB Günter Krings gaben hingegen zu bedenken, dass das Ehrenamt gerade deshalb so viel leisten könne, weil es freiwillig sei, und dass eine Gesellschaft, die nur durch Pflicht zusammengehalten würde, nicht mehr stabil sei. „Wir sollten es nicht übertreiben“, meinte Krings mit Blick auf die ohnehin bereits hohen Belastungen für die junge Generation, insbesondere nach Corona. Zudem solle „der Staat nicht erwachsene Menschen erziehen“.

Diese Stimmen blieben in der Minderheit. Mareike Wulf, MdB aus Niedersachsen, will sogar ältere Mitbürger in die Dienstpflicht integrieren. Immerhin seien die jungen Menschen durch die Folgen der demografischen Entwicklung ohnehin schon über Gebühr belastet. „Wenn wir resilient und krisenfest sein wollen, warum nur von jungen Menschen reden?“, fragte Wulf. 

Die CDU-Politikerin will vor allem jene Jahrgänge nachträglich miteinbeziehen, für die keine Wehrpflicht mehr galt – mangels kurzfristig verfügbarer Plätze notfalls vorerst in Form einer „aktiven Einladung“ oder eines Rechtsanspruches.

Ende der 1980er-Jahre hatten konservative Politiker wie der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer die Forderung nach einem sozialen Pflichtjahr für alle gestellt. Das Konzept ähnelte schon jenem, das nun der CDU-Parteitag verabschiedet hat. Damals wurde diese Forderung unter anderem mit dem Argument zurückgewiesen, dies käme einer Neufassung des Reichsarbeitsdienstes der Hitlerdiktatur gleich. Mittlerweile ziehen sich Vorschläge, einen solchen Pflichtdienst für alle zu schaffen, quer durch die politische Landschaft.

Palmer sieht Ansatz zur Bekämpfung von „Rotzbuben-Gehabe“

In der Union brachte die ehemalige Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer 2018 die Forderung auf. Erst im Juni dieses Jahres machte sich auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Vorschlag zu eigen.

„Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein“, äußerte Steinmeier (SPD) damals in „Bild am Sonntag“. „Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen. Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn.“ Allerdings legte er sich nicht fest, ob die Dauer des Dienstes unbedingt ein Jahr betragen müsse.

Schon 2020 war die Mehrheit der christdemokratischen Landesverbände für die Einführung eines allgemeinen Dienstpflichtjahres für Männer und Frauen. Foto: iStock

Tübingens OB Boris Palmer (Grüne) forderte ein soziales Pflichtjahr in einem offenen Brief, den er 2020 unter dem Eindruck der Randale einer sogenannten Eventszene in Stuttgart und anderen Städten verfasst hatte. Ein solcher Dienst könne Provokation, mangelnder Kommunikationsfähigkeit, „Rotzbuben-Gehabe“ und wachsender Gewaltbereitschaft vorbeugen.

Die Chefin der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann, hat die Entscheidung der CDU für ein Pflichtjahr sogar als „Skandal“ bezeichnet: „Die Gestaltung ihres Lebens soll ausgerechnet nach den Einschränkungen der Corona-Pandemie für ein ganzes Jahr fremdbestimmt sein.“

Die CDU habe es bewusst verabsäumt, stattdessen den Freiwilligendienst zu stärken und attraktiver zu gestalten. Die Union „denkt, sie weiß es besser als die junge Generation“. Ob diese so vehement gegen das soziale Pflichtjahr ist, wie Brandmann es suggeriert, ist jedoch fraglich.

Bei einer Umfrage der Marktforschungsplattform Appinio unter 18- bis 35-Jährigen im Jahr 2018 befürworteten immerhin 45 Prozent der Befragten einen verpflichtenden sogenannten Gesellschaftsdienst, eine stärkere Förderung des freiwilligen Engagements unterstützten sogar 60 Prozent.

 



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