Sonderpädagogische Förderung unter der Lupe – kommt jetzt die Kehrtwende?

Viele Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind. Das gilt erst recht, wenn es um sonderpädagogische Förderung geht. Doch einheitliche Richtlinien, was den Förderungsprozess anbelangt, gibt es kaum. In Nordrhein-Westfalen könnte sich das bald ändern, wie eine Ausschusssitzung am 29. Mai zeigte.
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Sonderpädagogischer Förderbedarf ist nicht überall leicht zu bekommen.Foto: mediaphotos/iStock
Von 4. Juni 2024

Schwerhörig, motorische Störungen oder geistige Beeinträchtigungen. Die Gründe für sonderpädagogischen Förderungsbedarf sind vielfältig und die Anzahl der Förderschüler wächst stetig.

Im September 2022 gab das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen ein Gutachten in Auftrag, in dem es das aktuelle Prozedere zur Feststellung eines sonderpädagogischen Bedarfs hinterfragte. Üblicherweise stellen Eltern für ihre Kinder einen entsprechenden Antrag auf ein sogenanntes AO-SF-Verfahren auf sonderpädagogische Förderung, dem sodann eine Begutachtung folgt – ein sehr zeitaufwendiges Verfahren, bei dem durchaus ein Jahr ins Land ziehen kann.

Inzwischen liegt das über 300-seitige Gutachten vor. Die Autoren raten zur Kehrtwende, weg vom zeit- und ressourcenfressenden Feststellungsverfahren hin zu gezielter Förderung und vor allem Prävention.

Am 29. Mai wurde das Gutachten vor dem NRW-Landtag im Schul- und Bildungsausschuss thematisiert. Prof. Gino Casale von der Universität Wuppertal, Co-Autor des Gutachtens, zeigte den Abgeordneten auf, dass es keine einheitlichen Kriterien für die seit Jahren durchgeführten Feststellungsverfahren gibt. Für Fragen wie: „Was ist ein sonderpädagogischer Förderbedarf“ gebe es keine konkrete Definition.

Aus seinen Ausführungen ergibt sich auch die Frage, wozu man die aufwendigen Verfahren überhaupt betreibt, denn in 95 Prozent der Fälle kam letztlich das heraus, was man ohnehin schon vermutet hatte. Die Ergebnisse der Untersuchungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass die Effizienz „optimierbar“ sei, so Prof. Casale.

Bundesweiter Fördertrend auch in NRW

Laut dem der Epoch Times vorliegenden Gutachten besuchten in Nordrhein-Westfalen im Schuljahr 2021/22 insgesamt 155.169 Kinder und Jugendliche mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung eine allgemeine Schule oder Förderschule. Das sind fast 27.500 mehr als im Jahr 2011 und entspricht einem Anstieg des Schüleranteils von 4,7 auf 6,4 Prozent in zehn Jahren.

„Die Quote liegt damit so hoch wie nie zuvor und reiht sich in die bundesweite Tendenz ein“, so die Wissenschaftler.

Und der Trend setzt sich fort. Wie das NRW-Schulministerium mitteilte, ist der Bedarf im Schuljahr 2022/23 weiter auf rund 158.000 gestiegen.

Nach einer im Februar 2024 veröffentlichten Erhebung des Statistischen Bundesamtes benötigten im Jahr 2022 in Deutschland von den rund 11,1 Millionen Schülern insgesamt 595.696 Kinder und Jugendliche einen sonderpädagogischen Förderbedarf, das ist etwa jeder 19. Schüler.

„Zeitdauerchaos“ bis zur Förderung

Mit der steigenden Zahl der betroffenen Schüler ist auch ein höherer Aufwand der Lehrer verbunden. Die Wissenschaftler sprechen von einem regelrechten „Zeitdauerchaos“, das sich in den von ihnen geprüften 400 Akten widerspiegelte. Die für das Feststellungsverfahren benötigte Gesamtdauer reichte von 30 Tagen in Köln bis zu 356 Tagen in Arnsberg. Allein die Zeit für die Gutachtenerstellung variierte von 27 bis 230 Tagen.

Doch selbst wenn das Gutachten endlich vorliegt, steht noch eine Abstimmung zwischen Eltern und Schulämtern an, so die Wissenschaftler weiter. Auch hier können, wie aus der Erhebung hervorgeht, durchaus 107 Tage ins Land ziehen. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen noch am selben Tag der Einreichung des Gutachtens beim Schulamt eine Entscheidung getroffen wurde.

Letztlich fehle es an Zeit- und Verfahrensvorgaben, um die Bearbeitung zeiteffizienter steuern zu können, so das Fazit der Wissenschaftler. Sie schlagen vor, die Zeitvorgaben an Verhaltensanreize wie finanzielle Anreize oder ideelle Belohnungen zu knüpfen.

Förderbedarf: Eine Mogelpackung?

In ihrem Papier werfen die Wissenschaftler auch die Frage auf, „warum es noch all der weiteren Studien bedurfte, um etwa dieses Gutachten für NRW in Auftrag zu geben“.

Die bereits im Jahr 2006 erschienene Dissertation von Brigitte Kottmann, Professorin für Sonderpädagogische Förderung und Inklusion mit dem Förderschwerpunkt Lernen an der Universität Paderborn, habe aufgezeigt, dass durch die Einholung der Gutachten zum sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf die Anzahl der entsprechenden Schüler weiter steige.

Es sei bekannt, dass Lehrer die Verfahren nicht in erster Linie vorantreiben, um Schüler besser zu fördern, „sondern sie nutzen sie z.B. auch, um sich von Verantwortung zu entlasten“. Ob die Gutachterpraxis Schülern zu einer besseren Förderung verhilft, sei nach Ansicht der Wissenschaftler „in keiner Weise nachzuweisen“.

„Dieser Umstand ist einigermaßen verblüffend, wissen wir doch, wie viele Ressourcen die Erstellung dieser Gutachten in Anspruch nimmt“, so die Wissenschaftler weiter.

Elternverein spricht von „Skandal“

Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Vereins „mittendrin“ in Köln, den Eltern behinderter Kinder im Jahr 2006 gegründet haben, bezeichnet das NRW-Gutachten als „versteckten Skandal erheblichen Ausmaßes“. Es offenbare die Willkür, die in den Feststellungsverfahren zutage trete.

In einer Pressemitteilung gab sie zu bedenken: „Für die einzelnen Schüler hat der Förderbescheid Folgen, die das gesamte Leben prägen.“

Dies gelte insbesondere, wenn sie in die zieldifferenten Förderbedarfe Lernen oder geistige Entwicklung eingeordnet werden. Dann würden die Schüler nach deutlich reduzierten Lehrplänen unterrichtet. Der Weg zurück zum Regel-Lehrstoff gelinge dann nur noch in Ausnahmefällen. „Deshalb fordern wir schon seit Jahren grundlegende Reformen bei den sonderpädagogischen Feststellungsverfahren.“

Zumindest müsse kurzfristig in allen Fällen, in denen es keine medizinische Diagnose einer Behinderung gibt, die Schwelle für die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs erheblich höher gelegt werden. Schulen müssten so gut ausgestattet und Lehrer so gut fortgebildet werden, dass sie alle Schüler gut fördern können.

Ziel müsse sein, dass das fatale Etikettieren von Kindern aufhört“, fordert Thoms.

Handlungsempfehlung

Um dem Dilemma Abhilfe zu verschaffen, schlagen die Wissenschaftler eine Reihe von Empfehlungen vor. Die Veränderung des Verfahrens sei ein „Mammutprojekt“, das man wissenschaftlich auch als „systemische Innovation“ bezeichnen könne, betonte Prof. Casale in der Ausschusssitzung. Eine solche Systemveränderung sollte unter Einbeziehung der Personen erfolgen, die entweder etwas Solides dazu sagen können oder direkt daran beteiligt sind, wie Landesregierung, Regierungsbeamte, Abgeordnete, Wissenschaftler, aber auch Vertreter von Interessenverbänden.

Beispielsweise könnte auf der Ebene multiprofessioneller „regionaler Expertisestellen“ die Möglichkeit geprüft werden, ob ein Förderschwerpunkt im Bereich der geistigen, körperlichen, motorischen Entwicklung oder im Bereich Hören und Kommunikation oder Sehen besteht.

Diese Stellen sollen die Funktion einer zentralen Steuerungs-, Handlungs- und Entscheidungsebene in einem System flexibler Entscheidungswege und unterschiedlicher Entscheidungsfelder erhalten und zuständige Schulaufsichten entlasten. Hierfür kämen neben qualifizierende Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung auch Lehrkräfte allgemeiner Schulen sowie gegebenenfalls Schulpsychologen infrage.

Zudem raten die Wissenschaftler zu einer Standardisierung der Verfahren und Verfahrensschritte. Hierzu gehören auch ausreichende Test- und Diagnosematerialien. Zusammen mit einer „konsequenten Digitalisierung sämtlicher Dokumentationen“ könnten Prozesse vereinheitlicht und effizienter gestaltet werden.

Ein weiterer Aspekt sei die Prävention. Statt in nicht effiziente Feststellungsverfahren zu investieren, könne man besser Präventionsprogramme nutzen, beispielsweise Sprachförderung oder Projekte, die das sozial-emotionale Verhalten der Schüler fördern.

Wie Ministerin Dorothee Feller in der Sitzung am 29. Mai mitteilte, werde das Gutachten im Rahmen einer Fachberatung noch diskutiert. Die Sommerzeit solle zur Auswertung genutzt werden, bevor in der zweiten Jahreshälfte das Thema erneut im Ausschuss behandelt wird. Erst dann könne sie die von Abgeordneten gestellten Fragen nach notwendigen finanziellen Mitteln für die Durchführung sowie einzelnen Schritte der Umsetzung beantworten.



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