Sommerpressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel im Wortlaut
Bundeskanzlerin Angela Merkel ist am Montag in ihrer traditionellen Sommerpressekonferenz den Hauptstadtjournalisten ausführlich Rede und Antwort gestanden. Anbei der Wortlaut aus der Bundespressekonferenz:
"Vors. Welty: Meine Damen und Herren, herzlich willkommen in der Bundespressekonferenz. Wir begrüßen sehr herzlich die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Herzlich willkommen! Das Wort ist das Ihre.
Bundeskanzlerin Merkel: Frau Welty, ich möchte mich für die Einladung der Bundespressekonferenz und auch für das Verständnis dafür bedanken, dass wir diese Pressekonferenz wegen der Griechenland-Abstimmung am 17. Juli verschieben mussten. Heute ist der 31. August, und selbst meteorologisch kann man noch von Sommer sprechen. Insofern ist es gerade noch in der Zeit.
Ich möchte noch kurz beim Thema Griechenland verharren und sagen, dass wir inzwischen ein drittes Programm haben. Wir haben die erste Tranche dieses Programms ausgezahlt. Es wird Neuwahlen in Griechenland geben, und ich gehe davon aus, dass Griechenland seinen Verpflichtungen nachkommen wird. Heute werden wir sicherlich über alle Fragen sprechen können, die uns beschäftigen: Ukraine, Klimaschutz, Energiewende, Bund-Länder-Finanzen usw. Ich könnte noch viele Themen nennen. Aber ich möchte zu Beginn von meiner Seite ausführlicher nur zu einem Thema einige Worte sagen, und zwar zu den vielen Menschen aus aller Herrenländer, die bei uns in Deutschland Zuflucht suchen.
Meine Damen und Herren, was sich zurzeit in Europa abspielt, das ist keine Naturkatastrophe, aber es gibt eine Vielzahl katastrophaler Situationen. Es spielen sich unendlich viele Tragödien ab und es gibt auch unfassbares Gräuel, wie vor einigen Tagen in Österreich, als in einem Lkw über 70 Menschen tot gefunden wurden, von skrupellosen Schleppern zugrunde gerichtet. Das sind Gräueltaten, die man gar nicht fassen kann und bei denen man einfach sagen muss: Das sind Bilder, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Das geschieht alles, während wir hier in sehr geordneten Verhältnissen leben.
Wir werden gleich auch über Erstaufnahmeeinrichtungen, Bearbeitungsdauer, Rückführungen, faire Verteilung in Europa, sichere Herkunftsländer, Bekämpfung von Fluchtursachen sprechen. Das müssen wir auch. Aber wir werden vorher darüber sprechen müssen, was uns eigentlich leiten sollte und was auch mich bewegt, wenn wir darüber sprechen, dass in diesem Jahr bis zu 800.000 Menschen zu uns kommen werden. – So die jüngsten Prognosen. Die allermeisten von uns kennen den Zustand völliger Erschöpfung auf der Flucht, verbunden mit Angst um das eigene Leben oder das Leben der Kinder oder der Partner, zum Glück nicht. Menschen, die sich zum Beispiel aus Eritrea, aus Syrien oder dem Nordirak auf den Weg machen, müssen oft Situationen überwinden oder Ängste aushalten, die uns wahrscheinlich schlichtweg zusammenbrechen ließen. Deshalb müssen wir beim Umgang mit Menschen, die jetzt zu uns kommen, einige klare Grundsätze gelten lassen. Diese Grundsätze entstammen nicht mehr und nicht weniger als unserem Grundgesetz, unserer Verfassung.
Erstens. Es gilt das Grundrecht politisch Verfolgter auf Asyl. Wir können stolz sein auf die Humanität unseres Grundgesetzes. In diesem Artikel zeigt sie sich ganz besonders. Schutz gewähren wir auch all denen, die aus Kriegen zu uns fliehen. Auch ihnen steht dieser Schutz zu. Der zweite Grundsatz ist die Menschenwürde eines jeden. Das ist ein Grundsatz, den uns schon der Artikel 1 des Grundgesetzes aufgibt. Gleichgültig, ob er Staatsbürger ist oder nicht, gleichgültig, woher und warum er zu uns kommt und mit welcher Aussicht darauf, am Ende eines Verfahrens als Asylbewerber anerkannt zu sein – wir achten die Menschenwürde jedes Einzelnen, und wir wenden uns mit der ganzen Härte unseres Rechtsstaates gegen die, die andere Menschen anpöbeln, die andere Menschen angreifen, die ihre Unterkünfte in Brand setzen oder Gewalt anwenden wollen. Wir wenden uns gegen die, die zu Demonstrationen mit ihren Hassgesängen aufrufen. Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die die Würde anderer Menschen infrage stellen. Wie ich es schon zu Beginn dieses Jahres in meiner Neujahrsansprache gesagt habe, sage ich auch heute denen, die, aus welchen Gründen auch immer, bei solchen Demonstrationen mitlaufen: Folgen Sie denen nicht, die zu solchen Demonstrationen aufrufen! Zu oft sind Vorurteile, zu oft ist Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen. Halten Sie Abstand! Ich sage aber auch: Trotz alledem ist unser Land immer noch ein gutes Land. Es ist in guter Verfassung. Die oft beschworene zivile Gesellschaft, sie ist bei uns Wirklichkeit, und es macht mich stolz und dankbar zu sehen, wie unzählige Menschen in Deutschland auf die Ankunft der Flüchtlinge reagieren. Die Zahl derjenigen, die heute für Flüchtlinge da sind, die Zahl der Helfenden, die Zahl derjenigen, die fremde Menschen durch die Städte und Ämter begleiten, sogar bei sich aufnehmen, überragt die Zahl der Hetzer und Fremdenfeinde um ein Vielfaches, und sie wächst noch, auch – das möchte ich hier ausdrücklich erwähnen – dank vieler wunderbarer Berichte darüber von Ihnen, den Medien, gerade in den letzten Tagen. Ich erlaube mir ausnahmsweise einmal, sie auch zu ermutigen, genau das fortzusetzen; denn damit geben Sie den vielen guten Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, ihresgleichen in der Berichterstattung zusehen, damit zeigen Sie Vorbilder und Beispiele, und Sie machen wieder anderen Mut. Die überwältigende Mehrzahl unserer Menschen ist weltoffen. Unsere Wirtschaft ist stark, unser Arbeitsmarkt ist robust, ja sogar aufnahmefähig. Denken wir an den Bereich der Fachkräfte. Wenn so viele Menschen so viel auf sich nehmen, um ihren Traum von einem Leben in Deutschland zu erfüllen, dann stellt uns das ja nun wirklich nicht das schlechteste Zeugnis aus. Unsere Freiheit, unser Rechtsstaat, unsere wirtschaftliche Stärke, die Ordnung, wie wir zusammenleben – das ist es, wovon Menschen träumen, die in ihrem Leben Verfolgung, Krieg, Willkür kennengelernt haben. Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen, und das war nun wirklich nicht immer so. Nun stellt sich die Frage: Was müssen wir in einer solchen Situation, in der wir natürlich vor einer riesigen Herausforderung stehen, tun? Dazu will ich einiges sagen. Im Juni bereits haben wir bei dem Treffen der Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung und den kommunalen Spitzenverbänden gemeinsam festgestellt: Wir stehen vor einer großen nationalen Aufgabe; die geht jeden an. Und dies wird eine zentrale Herausforderung sein, nicht nur für Tage oder Monate, sondern, soweit man das absehen kann, für eine längere Zeit. Deshalb ist es wichtig, dass wir sagen: Deutsche Gründlichkeit ist super, aber es wird jetzt deutsche Flexibilität gebraucht. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen dafür, dass wir gezeigt haben, dass wir dazu in der Lage sind. Ich will an die Bankenrettung erinnern. Bei der internationalen Finanzkrise haben wir – Bund, Länder gemeinsam – innerhalb weniger Tage die notwendigen Gesetze durchgesetzt. Ich will an den Atomausstieg erinnern, als wir in kürzester Zeit bei der Energiewende eine Wende im wahrsten Sinne des Wortes vollzogen haben. Ich will an die Naturkatastrophen erinnern, denen wir – Bund, Länder und Kommunen – immer entschlossen und geschlossen begegnet sind. Wenn ich vielleicht im 25. Jahr der deutschen Einheit noch an ein sehr schönes Beispiel erinnern darf: Die deutsche Einheit haben wir auch nicht mit normaler Arbeit gelöst, sondern wir sind viele neue Wege gegangen, ob das die Verkehrswegebeschleunigungsgesetze waren oder die Abordnung von vielen ehrenamtlichen Helfern in die neuen Bundesländer. Vor einer solchen Herausforderung stehen wir jetzt auch wieder. Die Beispiele der Vergangenheit zeigen uns: Wann immer es darauf ankommt, sind wir – Bundesregierung, Länder und Kommunen – in der Lage, das Richtige und das Notwendige zu tun. Aber wir müssen die Dinge jetzt beschleunigen. Wir müssen das, was uns hindert, das Richtige zu tun, zeitweise außer Kraft setzen und deshalb auch ein Stück Mut dabei zeigen. Das müssen wir also im Lande tun. Wir haben jetzt die Strukturen aufgebaut, in denen wir, glaube ich, die nationale Kraftanstrengung umsetzen, die nationale Aufgabe lösen können. Es gibt eine permanente Koordinierung des Bundes mit den Ländern, angesiedelt beim Bundesinnenministerium. Wir werden am 9. September ein Treffen der Chefs der Staatskanzleien mit dem Bundesinnenminister und dem Chef des Kanzleramtes abhalten. Wir werden am 24. September – darauf arbeiten wir jedenfalls hin – ein umfassendes Paket beschließen und es dann, hoffe ich, auch parlamentarisch sehr schnell durchsetzen, mit dem wir die notwendigen Regelungen treffen. Wir werden dann auch Treffen mit den gesellschaftlichen Gruppen durchführen, um hier die notwendigen Kraftanstrengungen auch noch einmal zu bündeln. Worum geht es? – Es geht zum einen um die Beschleunigung der Verfahren. Wir brauchen unter anderem mehr Erstaufnahmeeinrichtungen, weil nur in der Kooperation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Erstaufnahmeeinrichtungen schnelle Entscheidungen getroffen werden können. Es geht dabei darum, zu sagen "Wer hat eine hohe Bleibeperspektive?", und es geht genauso darum, zu sagen "Wer hat so gut wie keine Chance, bei uns zu bleiben?". Diese Anträge müssen schnell entschieden werden, und dann müssen die Rückführungen in die Heimatländer – hierbei geht es vor allen Dingen auch um die Länder des westlichen Balkans – schnell erfolgen. Das muss aus den Erstaufnahmeeinrichtungen heraus passieren. Wir stehen hierbei in einer sehr intensiven Kooperation mit den Ländern; denn es gibt bei der Unterbringung und gerade bei der Schaffung der Erstaufnahmeeinrichtungen natürlich viele praktische Probleme zu bedenken. Es gibt inzwischen eine sehr gut funktionierende Zusammenarbeit mit der BImA. Die Zurverfügungstellung von Bundesliegenschaften erfolgt unbürokratisch. Aber wir müssen natürlich auch schauen: Wie können wir noch mehr Erstaufnahmeeinrichtungen schaffen? Wie können Bund und Länder hierbei zusammenarbeiten" Hier stellen sich dann eine Reihe von praktischen Fragen wie Brandschutzanforderungen und Immissionsschutzgesetze, die sich mit Baugesetzen beißen.
Wir sammeln im Augenblick alle Bemerkungen der Kommunen und auch der Länder. Das Ganze wird dann in eine Gesetzesinitiative münden müssen, in der wir solche Standards, die uns daran hindern, das Notwendige zu tun, dann auch zeitweise aufheben und Abweichungen möglich machen, damit wir schnell reagieren können. Zweitens geht es natürlich um eine faire Kostenverteilung. Wir werden auflisten: Wer macht was? Was machen die Kommunen? Was machen die Länder? Was macht der Bund? – Dann wird sich der Bund einer fairen Kostenverteilung nicht entgegenstellen. Im Gegenteil: Uns ist auch klar, dass wir mehr tun werden, als wir bislang tun. Drittens brauchen wir dann Integrationsanstrengungen, wenn die Anträge schneller bearbeitet werden, auch für diejenigen, die eine hohe Perspektive haben, hier zu bleiben, insbesondere auch Flüchtlinge aus Syrien oder aus anderen Bürgerkriegsregionen. Dann geht es darum, Lehrer zu finden, die Deutschunterricht geben können, die die Kinder unterrichten. Wir haben allein in Städten wie Berlin oder München mehr als 400 neue Klassen. Sie können sich vorstellen: Das geht nicht dadurch, dass man allein mit den jetzt gerade im Dienst befindlichen Lehrern arbeitet. Wir werden schnell Kurse machen müssen, wenn es um Deutschkenntnisse und um vieles andere geht. Das kann man mit dem normalen deutschen Vorgehen nicht machen. Das gilt auch für die Betreuung minderjähriger Jugendlicher, wenn Sie alleine daran denken, dass es in München 4.000 gibt und dass eine Erzieherinnenausbildung Jahre dauert. Da müssen wir Mittel und Wege finden, auch Zwischenlösungen zu finden. All das muss besprochen werden. Dann geht es natürlich um die langfristigen Wohnungs- und Arbeitsperspektiven. In jeder Erstaufnahmeeinrichtungen – so wäre es idealerweise sinnvoll – müsste auch gleich die Bundesagentur für Arbeit sitzen. Man müsste die Qualifikationen aufnehmen. Auf diese Dinge arbeiten wir hin. Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden. Der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun – zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen -, um genau das durchzusetzen. Es gibt dann die europäische Dimension, und hier glaube ich, dass wir schon sagen dürfen: Europa als Ganzes muss sich bewegen. Die Staaten müssen die Verantwortung für asylbegehrende Flüchtlinge teilen. Die universellen Bürgerrechte waren bislang eng mit Europa und seiner Geschichte verbunden. Das ist einer der Gründungsimpulse der Europäischen Union. Versagt Europa in der Flüchtlingsfrage, geht diese enge Bindung mit den universellen Bürgerrechten kaputt. Sie wird zerstört, und es wird nicht das Europa sein, das wir uns vorstellen, und nicht das Europa sein, das wir als Gründungsmythos auch heute weiterentwickeln müssen. Was operativ in Europa folgt, ist, dass Deutschland und Frankreich ein sehr hohes Maß an Übereinstimmung hinsichtlich der nächsten Schritte haben und dass wir dazu jetzt natürlich andere Länder konsultieren. Es hat auch keinen Sinn, dass wir uns gegenseitig öffentlich beschimpfen, aber man muss eben einfach sagen: Die derzeitige Situation ist nicht zufriedenstellend. Die Innenminister werden sich am 14. September treffen. Die Regierungschefs stehen, wenn notwendig, immer bereit. Es geht um sichere Herkunftsländer. Es geht um Hot Spots, die in Italien und Griechenland errichtet werden. Es geht um eine faire Lastenverteilung, also um Quoten innerhalb Europas, die natürlich nicht nur die Bevölkerungszahl in sich tragen, sondern auch die wirtschaftliche Kraft, aber um ein Stück Fairness. Es gibt einen dritten Punkt, den wir beachten müssen, und das ist die Bekämpfung der Fluchtursachen. Hier zeigt sich, welche Bedeutung Außenpolitik hat und welche Bedeutung internationale Kooperation hat. Wir erleben jetzt, dass der Syrien-Konflikt nicht weit von uns entfernt stattfindet, sondern dass inzwischen eine Situation entstanden ist, in der alle Nachbarländer Syriens überfordert sind, ob es der Libanon ist, ob es Jordanien ist oder ob es die Türkei ist. Indem dieses Thema uns jetzt erreicht, sollte uns das darin bestärken, mit noch mehr Nachdruck den diplomatischen Bemühungen eine Chance zu geben, diesen Konflikt zu lösen. Ich weiß, welch dickes Brett das ist, das wir bohren müssen, aber es ist unabdingbar. Wir müssen uns weiter um die Frage Afghanistans bemühen. Der Bundesaußenminister ist zurzeit gerade dort. Die Gespräche mit den Taliban müssen weitergeführt werden. Wir werden im November auf Malta einen Gipfel seitens der europäischen Staats- und Regierungschefs mit den afrikanischen Ländern haben, um auch dort darüber zu sprechen, was es für den afrikanischen Kontinent bedeutet, wenn die besten jungen Menschen diesen Kontinent verlassen, weil sie für sich keine Hoffnung sehen. Ich fühle mich auch darin bestärkt, dass wir letztes Jahr die Westbalkan-Konferenz ins Leben gerufen haben; denn gerade auch die Perspektiven auf dem westlichen Balkan müssen verbessert werden, wenn wir nicht nur abwehren wollen, sondern diesen Ländern wirklich eine Perspektive geben wollen. Das wollte ich Ihnen zu Beginn sagen. Jetzt stehe ich für all Ihre Fragen zur Verfügung, egal aus welchem Themengebiet sie stammen. Vors. Welty: Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin. An Ihrer Seite sitzt natürlich, wie immer, Regierungssprecher Steffen Seibert. Da das Interesse groß ist und ich schon viele Meldungen auf dem Zettel habe, habe ich die Bitte um eine Frage pro Wortmeldung respektive eine Zusatzfrage. Eine kurze Vorstellung ist auch immer schön. – Es geht los mit der Kollegin. Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie sind in Sachsen von einer rechten Gruppe auf das Übelste beschimpft worden. Geben Sie Menschen dieser rechten Gesinnung verloren, oder versuchen Sie, sie politisch noch zu erreichen, und warum ist dieses Problem vor allem in Ostdeutschland so groß" Bundeskanzlerin Merkel: Es gehört dazu, dass man als Politiker auch einmal beschimpft wird. Das ficht mich jetzt nicht weiter an. Was mich anficht, ist, dass wir solchen Hass und solche Stimmung in unserem Land haben. Darauf ist meine Antwort ganz klar: Hier muss es eine ganz klare Abgrenzung geben. Hier kann es keinerlei Entschuldigung geben. Natürlich nennen wir unsere Argumente, aber es geht hierbei schon darum, dass man – ich würde sagen – nicht die Spur von Verständnis zeigt. Keine biografische Erfahrung, kein historisches Erlebnis, nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt ein solches Vorgehen. Ob das Ganze nun im Osten ausgeprägter oder weniger ausgeprägt ist – Sie haben ja in der Geschichte der Bundesrepublik schon verschiedene Situationen gehabt -, möchte ich jetzt nicht bewerten. Ich will daraus auch keinen Ost-West-Konflikt machen. Ich will nur sagen: Wo das auftritt, lasse ich mich jedenfalls nicht auf Erklärungsmuster ein. Natürlich ist jeder Mensch ein Mensch, aber wir haben mit Blick auf unser Grundgesetz auch die Verpflichtung, das durchzusetzen, was wir wollen. Deshalb kann es keine Toleranz und schon gar keine Erklärung an dieser Stelle geben. Frage: Frau Bundeskanzlerin, für wie sinnvoll halten Sie die politische Debatte, die es jetzt gibt, dass Politiker aus dem Westen mit dem Finger auf den Osten zeigen und umgekehrt? Bringt uns das weiter" Bundeskanzlerin Merkel: Ich sagte ja schon: Das bringt uns natürlich überhaupt nicht weiter. Wir müssen die Dinge so nehmen, wie sie sind. Wir haben – man muss das auch einfach realistisch sehen – sowohl in Sachsen als auch in Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel durchaus Orte, in denen leider rechtsextremes Gedankengut scheinbar salonfähig geworden ist. Dagegen muss man mit ganzer Klarheit vorgehen. Man muss auch – ich denke, das ist auch eine Aufgabe – die Menschen, die sich dagegenstellen, ermutigen. Das kann in bestimmten Regionen besonders wichtig sein. Es gibt im Übrigen – das will ich, ohne den Rechtsextremismus in irgendeiner Weise zu relativieren, auch sagen – recht harte linksextreme Vorgänge, die auch nicht gewaltfrei sind. Aber jetzt noch einmal zurück zum Rechtsextremismus: Vor allen Dingen aufpassen, dass Menschen in bestimmten Regionen nicht eingeschüchtert werden! Deshalb ist es richtig, wenn man sich dem entgegenstellt, wenn man in solchen Orten Veranstaltungen stattfinden lässt, Bürgermeister unterstützt usw. Das gilt jetzt nicht nur für Heidenau, sondern auch für viele andere Regionen. Aber seien wir ehrlich: Es gab und gibt natürlich auch in den alten Bundesländern Strömungen und Gedankengut, die nicht gut sind. Ich rate uns nicht, eine Ost-West-Diskussion daraus zu machen. Denn darin liegt schon der Ansatz. Ob irgendetwas im Osten gewesen ist, ist völlig egal. Wir sind ein Land, wir sind seit 25 Jahren ein Land, und das gehört sich nicht, das hat mit unserer Verfassung nichts zu tun. Wir sind dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten, nicht mehr und nicht weniger, und jetzt haben wir das durchzusetzen. Zusatzfrage : Ich darf eine kurze Nachfrage stellen. Man sieht ja in Sachsen, dass solche rassistischen Ausschreitungen dort besonders stark sind, wo die NPD auch stark ist. Bedauern Sie heute im Nachhinein, dass es beim NPD-Verbotsverfahren einen Alleingang des Bundesrats gibt" Bundeskanzlerin Merkel: Das bedauere ich nicht. Über die Frage, ob ein Parteienverbot dieses Gedankengut sozusagen verschwinden lässt, kann man breit diskutieren. Jetzt hat aber der Bundesrat diesen NPD-Verbotsantrag gestellt. Dieser wird vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt. Insofern werden wir dann das Ergebnis sehen. Frage: Der Bundespräsident hat sich am Wochenende für eine Neudefinition des Nationenbildes in Deutschland ausgesprochen. Er sprach von einer Gemeinschaft der Verschiedenen. Man müsse wegkommen von einem Bild einer Nation, überwiegend christlich, überwiegend hellhäutig und sehr homogen. Sehen Sie auch die Notwendigkeit einer Neudefinition des Nationenbildes, und falls ja, wie sieht dieses aus" Bundeskanzlerin Merkel: Ich glaube, unser Land hat sich in seiner Geschichte, solange es die Bundesrepublik Deutschland gibt, immer wieder verändert. Wir haben am Anfang Millionen Heimatvertriebene integriert beziehungsweise die Heimatvertriebenen selbst haben einen großen Beitrag dazu geleistet. Wir haben dann lange den Fehler gemacht, Gastarbeiter als Gastarbeiter zu bezeichnen, und sind glücklicherweise seit geraumer Zeit dazu gekommen zu sehen, dass es unsere Mitbürger sind, ganz gleich welcher Abstammung. Dass sie in der dritten oder vierten Generation bei uns leben, hat unser Land schon verändert. Das hat zu der Diskussion geführt, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, in der ich mich klar geäußert und gesagt habe, dass er inzwischen natürlich zu Deutschland gehört. Diese Tendenz, dass wir Verschiedenheit haben, wird sich jetzt noch einmal verstärken. Im Übrigen hat sich nicht nur die Sichtweise auf die Menschen, die in unserem Land leben und die unsere Nation ausmachen, verändert, sondern auch die Lebensformen haben sich über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hinweg verändert. Das heißt, wenn Sie so wollen: Die Nation oder die Gesellschaft, das Land verändert sich beständig, und immer wieder ist es eine Bestätigung unseres Grundgesetzes, unserer Art zusammenzuleben, unseres Wirtschaftsmodells der sozialen Marktwirtschaft. Also das, was die Gründungsimpulse dieses Landes waren, bewährt sich immer wieder unter neuen Bedingungen, und das, finde ich, ist das eigentlich Ermutigende an der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Frage: Frau Merkel, Sie waren in den letzten Wochen und Monaten dabei, Ihre Partei von einem Einwanderungsgesetz zu überzeugen. So war zumindest zu hören und zu lesen. Würden Sie sagen, dass dies angesichts der jetzigen Flüchtlingsthematik weder Ihrer Partei noch Deutschland derzeit zuzumuten ist, weil vielleicht auch ein bisschen Ehrlichkeit in die Debatte auf beiden Seiten gehört, und wie ist eigentlich Ihre grundsätzliche Haltung zu diesem Gesetz? Was muss darin stehen, wann ist der richtige Zeitpunkt, und wann werden Sie sich in dieser Frage aus der Deckung trauen" Bundeskanzlerin Merkel: Wenn Sie sich erinnern: Angesichts der Jubiläumsfeierlichkeiten der CDU habe ich davon gesprochen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Wir erleben im Augenblick Einwanderung in einer sehr spezifischen Form, nämlich in diesem Falle durch Asylbewerber, durch Bürgerkriegsflüchtlinge. Viele von ihnen werden nach menschlichem Ermessen sehr lange bei uns bleiben. Wir haben immer gesagt – das ist ja auch die allgemeine Diskussion -: Ein Einwanderungsgesetz brauche ich, um gerade Interessen Deutschlands, nämlich den Bedarf an Arbeitskräften, an Fachkräften, vernünftig zu bedienen und die richtigen Antworten darauf zu finden. Wir haben gesetzlich und rechtlich sehr viel gemacht, was zum Teil gar nicht bekannt ist, weil wir das Ganze nicht "Einwanderungsgesetz", sondern "Aufenthaltsgesetz" nennen. Darunter sind viele Dinge, von denen die OECD sagt, mit ihnen gehörten wir zu den fortschrittlichsten Ländern, die es überhaupt gibt. Ich rate angesichts der jetzigen Entwicklung dazu, erst einmal zu schauen, wie viel Arbeitsplätze wir eigentlich noch besetzen müssen, wenn wir übersehen, wie sich die weiteren Flüchtlings- und Asylbewegungen entwickeln. Das ist im Augenblick in einem sehr großen Umbruch begriffen, weil ja sehr viele zu uns kommen, von denen wir die Qualifikation noch gar nicht kennen, von denen wir nicht wissen, ob sie dem entsprechen, was wir an Fachkräften brauchen, ob sie dem nicht entsprechen, ob es dem Lehrstellenangebot entspricht, das wir haben. Dann kann man über das Thema wieder sehr nüchtern sprechen. Im Augenblick erscheint es mir nicht das Vordringlichste zu sein, weil wir momentan eine Einwanderung aufgrund der Überzeugungen unseres Grundgesetzes bekommen, bei der ich noch nicht absehen kann – ich bin ja auch keine Hellseherin -, welchen Effekt das ausmacht. Es wird mit Sicherheit einiges verändern, weil auch sehr viele junge Menschen zu uns kommen, sehr viele Menschen, die sicherlich gerne einen Beruf lernen. All das müssen wir jetzt erst einmal organisieren. Zusatzfrage: Gestatten Sie in diesem Zusammenhang noch eine Zusatzfrage. Sie sagen, ein Einwanderungsgesetz sei im Moment nicht das Vordringlichste. Da stelle ich mir die Frage: Das Thema wird uns über Monate beschäftigen. Ist es eigentlich möglich, in dieser Phase einen Wahlkampf mit Blick auf 2017 zu führen, der bisher schon einmal dagewesen ist, oder denken Sie an eine Art von ganz neuem Wahlkampf: alles in einer großen Koalition, und keiner will den anderen hart angehen; denn es könnte ja von manchen Leuten falsch verstanden werden" Bundeskanzlerin Merkel: Ob Sie es mir glauben oder nicht: Ich denke im Augenblick überhaupt nicht an Wahlkampf, sondern nur an die Frage, wie wir die Probleme, die ich benannt habe, vernünftig lösen und dem, was unser Bild von uns selbst ist, gerecht werden können, und zwar Bund, Länder und Kommunen zusammen. Das ist allemal wichtiger als jeder Wahlkampf. Deshalb brauchen wir uns darüber jetzt keine Gedanken zu machen. Wir müssen das Richtige tun, und da wird, glaube ich, jeder einsehen: Wenn in diesem Jahr vielleicht 800.000 Menschen zu uns kommen und wir eine Anerkennungsquote von 50 Prozent annehmen, dann sind es 400.000 Menschen, die meisten davon jung. Es wird bei vielen, gerade bei den syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen, einen Familiennachzug geben. Wenn Sie sich jetzt einmal überlegen: Wenn ich Ihnen vor einem Jahr gesagt hätte, dass wir jetzt über eine Einwanderung von 400.000 sprechen, hätten Sie gesagt: So viel muss es ja auch nicht gleich sein. Insofern: Lassen Sie uns das jetzt erst einmal gut machen. Dann wird man sicherlich darüber nachdenken müssen, ob man den Menschen auf dem westlichen Balkan, aus Staaten die ja auch zu großen Teilen Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union führen, Perspektiven gibt, wenn es gut ausgebildete Fachkräfte sind. Aber all das macht unsere Rechtslage heute schon möglich, und so wird man sich dem Thema nähern. Da ist nichts mit in Deckung sein, sondern es spricht, wie gesagt, alles dafür, dass wir ein Land sind, in das man gerne einwandert, aus welchen Gründen auch immer. Wir müssen dafür sorgen, dass wir jetzt erst einmal unserer humanitären Verantwortung gerecht werden und denen, die ein Recht auf humanitären Schutz haben, dieses Recht gewähren und sie dann auch gut integrieren, und denen, die das nicht haben, auch deutlich sagen, dass sie keine Bleibeperspektive in Deutschland haben. Das muss dann auch in Form von Rückführungen in die Heimatländer umgesetzt werden, in Form von Einreisesperren, die es dann auch geben muss. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Frage: Frau Bundeskanzlerin, was erwarten Sie von der Türkei bei der Lösung der Flüchtlingsprobleme" Bundeskanzlerin Merkel: Erstens hat die Türkei in den vergangenen Jahren sehr viel zur Lösung des Problems der Flüchtlinge aus Syrien getan und tut es heute noch. Es sind fast zwei Millionen Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze und sehr viele, die sich sonst noch in der Türkei aufhalten. Manches, was von dem, was wir heute erleben, sichtbar wird, die vielen, die aus der Türkei nach Griechenland kommen, zeigt natürlich, dass die Türkei in gewisser Weise an der Grenze dessen angelangt ist, was sie selbst bewältigen kann. Deshalb werden wir mit der Türkei Gespräche führen, wie wir gegebenenfalls helfen können, wie wir gemeinsam vorgehen können. Denn die Situation, wie sie jetzt ist, dass der eine sozusagen die Flüchtlinge durchlässt, dass sie der Nächste in Griechenland durchlässt, dass dann die Westbalkanstaaten durchwandert werden, dann einer einen Zaun baut und der Zaun vielleicht auch überwunden wird, ist ja weder die Rechtssituation noch ist es eine zufriedenstellende Situation. Deshalb werden wir sehr vertrauensvoll und auch sehr kameradschaftlich und freundschaftlich mit der Türkei darüber sprechen, wie wir das machen können. Ich habe aber ansonsten nur meine größte Hochachtung davor auszudrücken, was die Türkei in den vergangenen Jahren geleistet hat. Frage: Die Staaten des westlichen Balkans, insbesondere Mazedonien, sind mit dem Strom von Flüchtlingen überfordert. Mit welcher Maßnahme kann Deutschland helfen" Bundeskanzlerin Merkel: Ich glaube, es wäre eine gute Hilfe für Deutschland, wenn wir das machen, was wir – Deutschland und Frankreich – europäisch vorgeschlagen haben und was die Innenminister im Übrigen auch bereits besprochen haben, aber was jetzt durchgesetzt werden muss. Deutschland und Frankreich haben nämlich gesagt: Registrierungszentren in Griechenland, spätestens bis zum Ende des Jahres, die dann natürlich europäisch betrieben werden können – das schafft Griechenland nämlich nicht alleine -, dann in diesen Registrierungszentren sozusagen eine Abschätzung dessen, ob jemand ein Recht auf Asyl haben könnte oder ob es eine erkennbare Nicht-Bleibeperspektive gibt – wir werden ja auch mit den afrikanischen Ländern darüber sprechen müssen, welche Länder Bürgerkriegsländer sind und welche Länder nicht -, und dann eine faire Verteilung innerhalb der Europäischen Union. Dann werden Mazedonien und auch Serbien aus dieser schweren Lage heraus sein. Das, was sich dort jetzt abspielt, ist natürlich schon ein Stück weit nicht Gerechtigkeit. Wir haben ein Asylsystem innerhalb der Europäischen Union. Das funktioniert nicht, und Mazedonien und Serbien sind dabei die Leidtragenden. Das ist deutlich von dem zu unterscheiden, was ich über die Bürgerinnen und Bürger Mazedoniens und Serbiens sage. Sie haben verschwindend geringe Anerkennungsquoten, und aus meiner Sicht sind sie sichere Herkunftsstaaten, zumal sie auch alle die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben. Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zu den Atomwaffen in Deutschland. Ab dem Herbst 2015 sind im US Bundeshaushalt die Modernisierungen der Atomwaffen auch in Büchel etatiert. Unterstützt die Bundesregierung die atomare Nachrüstung hier in der Bundesrepublik und befindet sich damit in Widerspruch zu ihrer früheren Haltung" Bundeskanzlerin Merkel: Wir werden mit den Vereinigten Staaten darüber sprechen. Vielleicht hat das Verteidigungsministerium damit schon begonnen; das weiß ich nicht. Ich werde mich noch einmal erkundigen, und dann werden wir Ihnen zum gegebenen Zeitpunkt die Information geben. Zusatzfrage: Darf ich noch eine Nachfrage dazu stellen? Sie haben ja auf dem Nato-Gipfel 2012 offenbar Ihre Haltung geändert, die ja damals in der Koalitionsvereinbarung 2009 noch deutlicher war, nämlich die Forderung nach dem Abzug dieser Waffen. Fürchten Sie eine Veränderung des Verhältnisses zu Russland, wenn jetzt diese moderneren B61-12-Waffen in Deutschland stationiert werden" Bundeskanzlerin Merkel: Meine Haltung im Koalitionsvertrag 2009, als wir die Koalition mit der FDP hatten, war immer schon so, nämlich dass wir aufpassen müssen, was es an Folgewirkungen gibt. Wenn dann an anderer Stelle Atomwaffen stationiert werden und in Deutschland keine mehr sind, muss man sich fragen: Ist dann eigentlich der Balance und der Sicherheit mehr gedient? Das alles muss man im Zusammenhang mit diesen Fragen bedenken. Insofern gehört das in einen größeren Zusammenhang. Unsere Politik ist – das wissen Sie – ja nicht, Russland zu provozieren. Aber es ist natürlich, wenn Sie sich Russlands Rüstungspolitik und Modernisierungspolitik anschauen, auch nicht so, dass dort gar nichts passiert. Das heißt, es gibt auch keinen Grund, nichts zu tun. Jetzt rede ich aber über keine spezielle Waffengattung. Ich sage nur: Alles, was wir zum Beispiel auf dem Nato-Gipfel in Wales gemacht haben, was auch eine Ertüchtigung für die mittel- und osteuropäischen Länder anbelangt, hat seine Ursache auch darin, dass das, was wir angestrebt haben und was ich weiterhin anstrebe, nämlich ein konstruktives Verhältnis zwischen der Nato und Russland, im Augenblick nicht zufriedenstellend gegeben ist. Ich habe mich trotzdem, und ich bleibe auch dabei, immer für den Erhalt der Nato-Russland-Akte ausgesprochen, und ich werde das auch weiterhin tun, auch im Hinblick auf den Warschauer Nato-Gipfel. Frage: Frau Bundeskanzlerin, noch einmal zurück zur Flüchtlingskrise: Sie hatten gesagt, dass da auch finanzielle Mehrbelastungen auf den Bund zukommen werden. Können Sie schon irgendwie beziffern, in welcher Höhe? Wären Sie bereit, dafür angesichts dieser großen Herausforderung auch das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts aufzugeben" Bundeskanzlerin Merkel: Diese Frage des ausgeglichenen Haushalts steht angesichts sehr guter steuerlicher Entwicklungen zumindest in diesem Jahr, glaube ich, zurzeit noch nicht zur Debatte. Diese steuerlichen Entwicklungen sind im Übrigen nicht nur für den Bund gut – darüber wird oft geschrieben -, sondern sie sind anteilmäßig natürlich auch für Länder und Kommunen besser; das ist eine erfreuliche Mitteilung. Dennoch kann ich im Augenblick nur sagen, dass der Bund mehr tun wird, dass wir uns sehr genau anschauen werden, wer welche Aufgaben zu erledigen hat, und dass wir dazu unseren fairen Anteil im Rahmen einer nationalen Kraftanstrengung leisten werden. Die Details werden bis zum 24. September zwischen Bund und Ländern besprochen werden, und dann werden wir Sie auch darüber informieren. Frage: Frau Bundeskanzlerin, viele von uns sind relativ frisch aus dem Urlaub wieder da – das sieht man auch noch – und haben im Kopf, dass das Image Deutschlands im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise durchaus Schaden erlitten hat. Ich würde gerne wissen: Macht Ihnen das etwas aus, oder – wie Sie sagen würden – ficht Sie das an" Unabhängig davon: Gibt es daraus etwas zu lernen? Gibt es einen konkreten Plan dafür, wie man dieses Image wieder drehen will" Bundeskanzlerin Merkel: Darf ich nur etwas fragen? Wo, meinen Sie, hat das Image Schaden erlitten" Zusatz: In Italien. Wenn man nicht nur die veröffentlichte Meinung liest, sondern auch mit dem normalen Italiener spricht, ist schon wieder die Rede davon, dass die Deutschen ihre Macht in einer Art und Weise ausüben, die schon wieder das Wort Panzer zulässt. Bundeskanzlerin Merkel: Wenn man sich die Diskussionslage beim Europäischen Rat angeschaut hat, dann war es ja bei Weitem nicht so, dass Deutschland dort isoliert war; das kann der Finanzminister berichten, das kann ich berichten. Ich würde an dieser Stelle immer, wenn ich damit konfrontiert werde, sagen, dass Deutschland einen sehr großen Beitrag dazu geleistet hat, dass Europa geschlossen auch auf die Griechenland-Herausforderung geantwortet hat. Es gab Länder, die vielleicht zu einfacheren Bedingungen geholfen hätten, aber es gab auch Länder, die insgesamt sehr, sehr kritisch waren, ob man weiter helfen soll. Eines der Ergebnisse, die wir erreicht haben, ist, dass Europa wie in schon so vielen anderen Fragen einheitlich gehandelt hat, und das hat sehr viel mit der deutsch-französischen Kooperation zu tun. Deshalb bin ich, ehrlich gesagt, mit mir sehr im Reinen, und wenn ich mit mir im Reinen bin, dann kann ich es auch immer gut erklären. Dann wird man sehen: Man muss auch damit leben, dass andere etwas einmal kritisch sehen. Wir sehen ja manchmal in anderen Ländern auch etwas kritisch und finden das ganz normal. Insofern können wir es auch aushalten, dass uns andere einmal kritisch sehen. Ansonsten – das glaube ich schon, wenn wir über das nächste große Problem, nämlich die Flüchtlinge, reden – gibt es ein hohes Maß an Übereinstimmung darüber, dass Italien zu entlasten ist. Man kann nicht sagen: Alle Flüchtlinge, die dort ankommen, müssen, nur weil sie jetzt über das Mittelmeer kommen, von Italien behalten werden. Das Dublin-Abkommen funktioniert nicht mehr so, wie es einmal war, weil sich die Situationen verändert haben. So wird es wichtig sein, dass sich jeder von uns für Europa und für die Gemeinsamkeit einsetzt, und dann kommen wir schon voran. Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe noch einmal eine Frage zu den Flüchtlingen und auch zu Europa. Der slowakische Ministerpräsident hat für Sonntag ein Sondertreffen der Visegrád-Staaten angekündigt. Fürchten Sie eigentlich wegen dieser doch heftigeren Debatte um die Quotenverteilung von Flüchtlingen eine Spaltung in Ost und West" Gilt das, was Sie vorhin für Ostdeutschland gesagt haben, nämlich ihr mangelndes Verständnis oder Nicht-Verständnis für menschenverachtende Haltungen, eigentlich auch in Bezug auf Osteuropa, wo ja auch einige Politiker entweder nur Christen, keine Schwarzen oder nur Katholiken als Flüchtlinge aufnehmen wollen" Bundeskanzlerin Merkel: Ich glaube, dass ein Visegrád-Treffen stattfindet, ist okay. Es finden ja auch Treffen zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Deutschland und Italien und Ähnliches statt. Daran habe ich nichts auszusetzen. Ich glaube, dass unsere Werteordnung in Europa auf der Würde jedes einzelnen Menschen aufbaut. Mich bekümmert es, wenn man dann anfängt zu sagen: "Muslime möchten wir nicht, wir sind ein christliches Land." Vielleicht sagt morgen einer: "Auch das Christentum ist nicht mehr so wichtig, sondern wir sind ohne jede Religion." Das kann nicht richtig sein. Dafür habe ich genauso wenig Verständnis wie für Äußerungen, die im eigenen Lande gemacht werden, und darüber müssen wir in Europa auch sprechen. Im Übrigen ist es Kern europäischen Handelns, dass wir dort, wo wir ein Problem haben, immer versuchen, dieses Problem miteinander und fair zu lösen, niemanden überzubelasten und natürlich unterschiedlich zu bewerten, dass viele Länder aus Mittel- und Osteuropa natürlich einen noch sehr viel geringeren Lebensstandard haben und dass man (nicht) einfach die Bevölkerungszahl heranziehen kann; das ist doch vollkommen klar. Aber wenn jemand sagt "Ich mache bei der ganzen Sache nicht mit, das ist nicht mein Thema", dann kann und darf es das aus meiner Sicht nicht geben. Deshalb werde ich mich jedenfalls mit aller Kraft dafür einsetzen, dass Europa in dieser Frage nicht versagt, sondern dass Europa unser aller Europa ist. Da muss man sich auch auf gemeinsame Werte verständigen. Zusatzfrage: Befürchten Sie also eine Ost-West-Spaltung oder nicht" Bundeskanzlerin Merkel: Mit Furcht gehe ich sowieso nicht an die Sache heran. Ich sehe, dass es bestimmte Länder gibt, die eine bestimmte Meinung haben. Jetzt ist die Aufgabe – das kann etwas dauern; das haben wir ja in Europa öfter -, daraus einen möglichst gemeinsamen Kurs hinzubekommen. Alles andere würde uns allen nicht guttun; denn jeder hat auch einmal eine Herausforderung zu bewerkstelligen, und bis jetzt sind wir gut damit gefahren, dass wir die verschiedenen Herausforderungen auch immer gemeinsam gelöst haben. Diese gehört dazu und wird im Übrigen auch sehr darüber entscheiden, wie das Bild von Europa in der Welt ist. Das muss uns nicht leiten. Leiten müssen uns unsere Werte. Man muss nur wissen, was man auch anrichtet. Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage bezüglich der Ukraine. Herr Poroschenko hat neulich verkündet, dass er die Zentralisierung der Ukraine und den Status des Donbas als eine selbständige Republik oder ein selbständiges Gebiet der Ukraine nicht mehr berücksichtigt. Das wird auch nicht mehr die Frage sein. Beabsichtigen Sie, auf Herrn Poroschenko einzuwirken, damit er diesen Teil der Minsker Abkommen auch berücksichtigt, oder haben Sie das schon gemacht" Bundeskanzlerin Merkel: Ich habe mich ja vorige Woche mit dem französischen Präsidenten und Petro Poroschenko getroffen. Sie haben sicherlich auch die Pressekonferenz verfolgt. In der hat sich der ukrainische Präsident am Tag der Unabhängigkeit der Ukraine zu den Verabredungen von Minsk bekannt. Wir haben dann im Einzelfall sehr detailliert darüber gesprochen, wie wir die Hürden, die sich jetzt in dem politischen Prozess auftun, überwinden können. Es gab dazu am Wochenende auch ein Telefonat des französischen Präsidenten mit dem russischen Präsidenten und mir. Auch darin haben wir diese Themen besprochen. Wir haben verabredet, dass wir demnächst auch wieder in Form des Normandie-Telefonats miteinander sprechen werden, dass die Arbeit in den trilateralen Kontaktgruppen zusammen mit den Vertretern der, wie sie sich nennen, Republiken Donezk und Lugansk – ich würde sagen: mit den Separatisten – stattfinden muss und dass wir jetzt insbesondere das Thema der Lokalwahlen vor uns haben. Hierbei geht es darum, dass wir es schaffen, das Wahlgesetz, das ja auch vonseiten der ukrainischen Rada in Arbeit ist, so zu gestalten, dass es auch von den Separatisten anerkannt wird. In den Minsker Vereinbarungen wird beschrieben, dass die Wahlen nach ukrainischem Recht und nach den Prinzipien von ODIR, also der OSZE-Organisation, stattfinden müssen. Bis jetzt gab es keine Übereinstimmung darüber, dass die Vertreter der Separatisten akzeptiert haben, dass ein Vertreter von ODIR in die politische Arbeitsgruppe der trilateralen Kontaktgruppe kommt. So bemühen wir uns im Detail darum, diesen Prozess voranzubringen. Alles geschieht auf der Grundlage der Vereinbarungen von Minsk, und ich habe nicht gehört, dass der ukrainische Präsident gesagt hätte, dass er sich diesem Prozess nicht weiterhin anschließen wird. Im Gegenteil: Die Gespräche waren sehr konstruktiv. Heute finden gerade auch wieder Beratungen in der Ukraine statt. Wir reden dabei noch über die Frage: Ist die Verfassungsdiskussion richtig gewichtet? Wir haben uns dafür eingesetzt, und auch darüber ist berichtet worden, dass die Rada – das hat sie dann ja auch getan – den speziellen Status von Donezk und Lugansk auch in den Entwürfen der Verfassung verankert. Darüber, ob das an der richtigen Stelle in der richtigen Form steht, gibt es jetzt einen Disput zwischen Russland und der Ukraine. Darüber hat es hier im deutschen Außenministerium mit den entsprechenden Experten inklusive der Venedig-Kommission Rechtsberatungen gegeben. So sind wir, sage ich einmal, in sehr subtiler Feinarbeit immer versucht, die Dinge voranzubringen. Leider geht es langsamer, als man denkt, aber wir fühlen uns diesem Prozess sehr verpflichtet. Frage: Im ukrainischen Parlament wurden heute Verfassungsänderungen entsprechend der Minsker Vereinbarungen verabschiedet. Können die den Friedensprozess überleben" Es gibt Berichte, dass demnächst ein Treffen mit Wladimir Putin im Normandie-Format stattfinden soll. Wird das jetzt vorbereitet? Ist es eigentlich an der Zeit für dieses Treffen" Bundeskanzlerin Merkel: Wir haben verabredet, dass wir als nächsten Schritt ein Telefonat führen werden. Es kann sein, dass sich dann die Außenminister noch einmal konsultieren werden. Aber es kann durchaus passieren, dass wir auch ein solches Normandie-Treffen durchführen werden. Man muss dann natürlich die Hoffnung haben, dass es auch einen Schritt vorangeht; das muss also gut vorbereitet sein. Aber im Grundsatz besteht da von allen Seiten Offenheit. Ich will noch einmal das unterstreichen, was Sie gerade gesagt haben: Gerade heute gab es wieder Verfassungsdebatten im ukrainischen Parlament, wo die ja auch für die Ukraine nicht ganz einfachen Dinge eines speziellen Statusâ von Donezk und Lugansk diskutiert werden. Ich meine, das ist immerhin ukrainisches Gebiet. Ich finde also, das ist auch schon etwas, bei dem die Abgeordneten sehr mit sich ringen müssen. Diesen Prozess verfolge ich auch mit großer Achtung. Frage: Sie hatten angesprochen, dass unbürokratisch Dinge verändert werden müssen. Geht das über Immissionsschutz und Brandschutz hinaus? Was wollen Sie jetzt konkret und unbürokratisch verändern, damit Sie nachher dann nicht zum Beispiel dem Vorwurf ausgesetzt sind, dass Sie Flüchtlinge in unsichere Quartiere stecken" Ganz kurz noch die zweite Frage hinterher: Die Frau, die Sie in Heidenau so heftig beleidigt hat, was man ja auch im YouTube-Internet-Video sieht, und gegen die auch ermittelt wird, ficht Sie nicht an, wie Sie sagen. Aber sind Sie vielleicht doch auch bereit, einmal einen Dialog mit so jemandem zu führen, oder eher dafür, eine Klage zu unterstützen? Gegen die wird ja ermittelt. Bundeskanzlerin Merkel: Weder unterstütze ich die Klage – wir sind ja ein Rechtsstaat – noch habe ich jetzt das dringende Bedürfnis, in eine längere Diskussion einzutreten, weil ich glaube, dass meine Aufgaben eher darin besteht, Menschen, die helfen wollen, und Menschen, die etwas Positives tun, zu ermutigen. Ansonsten haben wir unsere Rechtsordnung. Wir haben auf der einen Seite Meinungsfreiheit, also kann ich als Bundeskanzlerin nicht erwarten, dass man mir immer nach dem Munde redet – davon bin ich auch weit entfernt; ich kann Widerspruch gut aushalten und freue mich, dass ich in einem Lande lebe, in dem es Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit gibt -, aber diese Meinungsfreiheit ist durch Rechtsetzung begrenzt. Wenn dann durch die entsprechenden Institutionen ermittelt wird, dann entspricht das unserer Rechtsordnung. Überzeugungsarbeit leiste ich im Augenblick vor allem dadurch, dass wir das ganze Thema gut bewältigen. Jetzt haben Sie gefragt: Was machen wir dann mit den Standards? – Schauen Sie, wir stehen im Augenblick vor folgender Frage: Wie ist der Brandschutz in einem Zelt? Wie ist im Winter das Leben in einem Zelt? Wie ist die Brandschutzordnung zu bewerten, wenn eine Bundeswehrkaserne oder eine amerikanische Kaserne bis vor wenigen Monaten von Soldaten bewohnt wurde, der Brandschutz vielleicht noch eine Übergangszeit hatte, die Soldaten jetzt raus sind und jetzt der total neue Brandschutz gilt? Wollen und dürfen wir jetzt in einer Kaserne, die vielleicht eine Heizung hat, sanitäre Einrichtungen hat und einen Brandschutz hat, der zumindest vorgestern noch okay war, Asylbewerber aufnehmen, oder müssen sie stattdessen im Zelt bleiben, wobei in Bezug auf Zelte in der Brandschutzordnung in Deutschland noch nicht viel festgelegt wurde? – Dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass es vielleicht besser ist, die Übergangsbestimmung zu schaffen, dass der Brandschutz, die Geländerhöhe, die Wärmedämmung und vieles andere, was man inzwischen noch alles geregelt hat, jetzt einmal hintanstehen können, wenn wir dafür zu einer vernünftigen Unterbringung kommen. So haben wir eine Vielzahl von Fragen: Darf ich in einem Gewerbegebiet bauen? Wie verhält sich das Immissionsschutzrecht dazu? Darf ein Augenarzt eine gesundheitliche Erstuntersuchung machen, wenn er trotzdem eine Approbation hat? Darf ein Hautarzt das nicht? – So zählen die Länder und Kommunen zig solcher Regelungen auf, die uns alle darin bestärken, dass wir einfach sagen müssen: In dieser Situation können wir uns daran nicht halten. Wir haben jetzt glücklicherweise vonseiten der Europäischen Union die Bestätigung bekommen, dass die normalen Ausschreibungsregelungen in dieser Situation nicht einzuhalten sind, sondern dass man bestimmte Aufträge auch schneller vergeben kann. Das sind jetzt die Dinge, über die wir reden müssen. Jetzt haben wir zwei Fragen: Können wir alles einzeln regeln, oder aber machen wir, weil wir nicht wissen, ob übermorgen wieder 20 Hinderungen kommen, gleich noch ein etwas allgemeineres Standardabweichungsgesetz oder Beschleunigungsgesetz, wie auch immer Sie das nennen wollen" Darüber denkt der Innenminister zusammen mit den Ländern nach. Das Ziel muss sein, die bestmögliche Unterbringung und die schnellstmögliche Bearbeitung der Anträge zu ermöglichen. Da wird man an manchen Stellen über die bestehenden, sozusagen sehr auf eine statische Situation ausgerichteten Dinge hinwegsehen müssen. Ich glaube, wir sollten nicht als Erstes wieder die Diskussion darüber führen, wo die Gefahr liegt, sondern auch schauen: Wo ist die Chance? Man kann natürlich – ich habe darüber oft im Zuge der deutschen Einheit nachgedacht – alles so machen: Man hat eine Schule, die noch so aussieht, wie sie zu Zeiten des Sozialismus aussah, und die Alternative ist nun das tollste, beste, superste Gymnasium, vom Brandschutz – wenn Sie für den rbb arbeiten, dann wissen Sie das – bis hin zum Fachkabinett, zur voruniversitären Ausbildung usw. usf., und dazwischen gibt es nichts. Eine ganze Generation von Schülern muss dann sozusagen auf dem Niveau der sozialistischen Oberschule sein. Gott sei Dank haben wir das überwunden und gesagt: Dazwischen muss es auch noch etwas geben. Das braucht dann ja nicht der Endzustand zu sein, aber bei so einer Herausforderung – – – Ich habe auch über die Frage gesprochen: Wenn man 4.000 unbegleitete Jugendliche hat, dann ist es ja schlechterdings nicht möglich – – – Für diese 4.000 gibt es ja keine Erzieher oder Betreuer nach herkömmlichem Muster des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Die sollen alle die allerbeste mögliche Betreuung haben. Aber ein Aufenthalt in einer Turnhalle – wo es nun wirklich schlecht ist, wozu aber dann keiner etwas sagt, weil, wenn der klassische Kinder- und Jugendhilfeplatz nicht da ist, man dann eben zu 200 in der Turnhalle bleibt – ist mit Sicherheit nicht besser, als wenn wir versuchen, die Dinge eben langsam vernünftig zu regeln. So werden wir uns einiges einfallen lassen müssen. Ich glaube, dass inzwischen auch der Geist gut ist, in dem Bund und Länder und Kommunen hierüber beraten. Die Praktiker können Ihnen einfach unendlich viele solcher Geschichten erzählen. Was wir auch nicht machen dürfen: Dann wird vor Ort gesagt, wenn 500 Flüchtlinge kommen, "Nun handele einmal, nun handele einmal!". Wir setzten dann all die Beamten und Angestellten dort in den Landratsämtern und kommunalen Verwaltungen einem Zustand aus, in dem sie geltendes Recht sehenden Auges verletzen müssen, und wir helfen ihnen nicht und sagen: Da schauen wir einmal lieber nicht hin, ehe wir etwas auf der Bundesebene ändern; das machen wir nicht. – Das können wir so nicht machen. Da haben wir auch auf der Bundesebene die Verpflichtung, gemeinsam Dinge zu machen. Das muss sowieso immer gemeinsam von Bund und Ländern beschlossen werden. Deshalb werden da beim Mitmachen auch alle Parteien gebraucht. Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gerade noch einmal die Notwendigkeit der verstärkten diplomatischen Bestrebungen zur Lösung des Syrien-Konflikts angesprochen. Welche Rolle sehen Sie dabei für den Iran? Sehen Sie auch einen neuen diplomatischen Handlungsspielraum nach der Wiener Vereinbarung zum iranischen Nuklearprogramm" Bundeskanzlerin Merkel: Ich halte erstens das Wiener oder Genfer Nuklearabkommen – oder wie auch immer man es nennt – für einen Fortschritt. Es muss jetzt umgesetzt werden. Ich bin dennoch betrübt oder finde es nicht akzeptabel, wie der Iran nach wie vor über Israel spricht. Es ist ein herber Rückschlag beziehungsweise kein Rückschlag, aber eine Enttäuschung, dass hier auch gar keine Wende zu erkennen ist, was die Akzeptanz des Staates Israel anbelangt. Ich glaube, dass der Iran sehr viel Einfluss auf das hat, was in Syrien stattfindet. Jeder ist eingeladen, sich konstruktiv an den Verhandlungen zu beteiligen. Vor allen Dingen sehe ich aber die Aufgabe, dass gerade in dem E3+3-Format jetzt auch an anderen Stellen weitergearbeitet werden kann, und die Kontakte zum Iran sind dabei mit Sicherheit hilfreich. Das gilt insgesamt im Kampf gegen IS, das gilt aber auch für andere Organisationen wie zum Beispiel Hisbollah und Hamas. Frage: Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin! Ich habe zwei kurze Fragen zu Ihrem Treffen mit dem polnischen Präsidenten. Vors. Welty: Eine bitte! Bundeskanzlerin Merkel: Manch einer macht es geschickter, indem er einfach eine Nachfrage stellt, aber na gut! Vors. Welty: Eine Nachfrage zur selben Frage ist ja schon erlaubt! Bundeskanzlerin Merkel: Stellen Sie also eine Nachfrage. Zusatzfrage: Frau Bundeskanzlerin, haben Sie mit Präsident Duda eine Einigung gefunden, was das Thema "Flüchtlinge" oder das Thema "Nato-Truppen im Baltikum oder in Polen" betrifft" Zweite Frage: Präsident Duda hat gestern gesagt, dass er Bundespräsident Gauck im Gespräch mit ihm gesagt hat, dass es in Polen heutzutage keine Gerechtigkeit gibt. Hat Präsident Duda auch Ihnen gegenüber so eine Aussage zu Polen formuliert" Bundeskanzlerin Merkel: Ich berichte aus den internen Gesprächen sowieso nicht, und ansonsten mischen wir uns auch nicht in die Innenpolitik ein. Die öffentlichen Äußerungen von Präsident Duda kennen wir ja, und dass er sich um die soziale Gerechtigkeit bemüht, weiß man schon aus der Zeitungslektüre. Wir hatten ein sehr gutes Gespräch, bei dem wir verabredet haben, dass wir den Warschauer Nato-Gipfel auch gemeinsam vorbereiten werden. Ich habe ihm gesagt, dass die Russland-Nato-Akte aus meiner Sicht nicht infrage gestellt werden sollte und dass wir vor allen Dingen die Beschlüsse von Wales umsetzen sollten. Wir sind uns auch einig, dass diese Beschlüsse umgesetzt werden müssen. Was die Flüchtlingsfrage anbelangt, so werden wir sicherlich noch weitere Gespräche mit Polen darüber führen müssen – nicht nur mit dem Präsidenten, sondern auch mit der polnischen Ministerpräsidentin -, wie wir zu einer fairen Lastenverteilung kommen. Frage : Frau Bundeskanzlerin, Sie sprachen vorhin schon von den Beispielen der Bankenrettung oder der Naturkatastrophen, mit denen Deutschland fertig geworden sei. Wenn ich mich recht erinnere, hat sich die Bundesregierung in diesem Zusammenhang sehr oft dazu entschlossen, ein großes Programm aufzulegen, ein Signal zu senden, nicht einzelne Maßnahmen zu beschließen und sie über einen längeren Zeitraum anzukündigen, sondern sozusagen ein gebündeltes Paket zu präsentieren – 25 Milliarden, 50 Milliarden, was auch immer damals sozusagen nötig war. Wenn ich jetzt – Stichwort Flüchtlingskrise – an Wohnungsbau, Bildung, Polizei und all das denke, was einem in diesem Zusammenhang sonst noch einfallen könnte, was spricht dann dagegen, ein solches Gesamtprogramm zu verkünden? Gibt es möglicherweise falsche Signalwirkungen, die damit verbunden sein könnten" Nun möchte ich gewissermaßen als Nachfrage ganz kurz noch einmal auf die Ost-West-Frage zurückkommen, die andere Kollegen gestellt haben. Was sagen Sie denen, die im Osten leben und sagen "Im Grunde sind wir in ganz vielen Fragen der politischen Bildung, in Fragen des Demokratiebewusstseins, des Freiheitsbegriffs usw. sehr weit zurückgeworfen worden und führen jetzt wieder Debatten, die wir seit zehn, zwanzig Jahren hinter uns glaubten" Bundeskanzlerin Merkel: Erstens. Als in Baden-Württemberg – ich glaube, 1991 war es – plötzlich 11 Prozent Republikaner im Landtag saßen, konnte man auch sagen, dass man Debatten führt, bei denen man wieder zurückgeworfen wurde. Debatten sind da, wenn sie da sind, und sie müssen geführt werden, wenn sie aufkommen. Genauso wenig wie ich sagen würde, ich müsse jetzt mit irgendeiner Ost-Geschichte irgendwelche Phänomene erklären, sage ich: Eine dieser Debatte möchte ich nicht mehr führen; denn die haben wir doch schon einmal vor 20 Jahren geführt. Es kann sein, dass man in jeder Generation jede Debatte wieder führen muss. Wenn sie da ist, muss sie geführt werden. Wir haben eine Konstante. Das ist unser Grundgesetz. Das ist die generelle Ausrichtung. Jetzt sind die neuen Bundesländer sehr unterschiedlich. Wir haben jahrelang hier in Berlin die Debatten über den 1. Mai und darüber geführt, ob man in der Vornacht Gewalt anwenden darf. Jetzt haben wir solche Phänomene in Leipzig und müssen die Debatte wieder genauso führen. Ich rate uns, so wenig wie möglich Erklärungsmuster zu suchen, die immer gleich mit Verständnis verbunden sind. Dazu gehört auch, dass es nicht sein kann, dass gesagt wird, wir hätten eine Debattenkultur nach der deutschen Einheit gehabt, damit hätten wir ein Thema abgearbeitet, und nun dürften wir es nicht wieder aufrufen. Wir haben es offensichtlich noch nicht genug debattiert. Da muss man jetzt Flagge zeigen und deutlich machen, worum es geht. Zweitens. Was das Gesamtpaket anbelangt, so muss sich natürlich jedes Paket an den Herausforderungen messen. Sicherlich wird das Paket, das wir jetzt aufzulegen haben, auch nicht im einstelligen Millionenbereich liegen. Ich will aber dem Finanzminister hier wirklich nicht vorgreifen. Was wir vorhaben, ist in der Tat: All die Maßnahmen, die wir jetzt im Auge haben, von der Frage, wie wir mit Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten umgehen, über die Frage, wie wir mit Standards umgehen, bis hin zu der Frage, ob vielleicht auch Kompetenzen von Kommunen und Ländern noch einmal neu betrachtet werden sollen, sollen in einem Paket verabschiedet werden. Das sind zum Teil Rechtsetzungen, das sind aber auch finanzielle Dinge. Was die Komplikation ausmacht: Wenn ich soundso viele Kernkraftwerke habe, und ich sage: Ich steige dann aus dem aus und dann aus dem aus und dann aus dem aus, dann habe ich eine klare Perspektive und kann das ordnen. Hier habe ich eine Situation, bei der ich nicht weiß, wie viele Hot Spots nun wirklich in Europa gebaut werden, wie viele Flüchtlinge nun wirklich ankommen, wie schnell die Asylverfahren sind. In dem Moment, in dem ein Asylverfahren beendet und zum Beispiel bei jemandem aus Syrien oder bei einem Bürgerkriegsflüchtling positiv beschieden ist, wird die Leistung nicht mehr nach Asylbewerberleistungsgesetz erbracht, die Leistung wird also nicht mehr von den Ländern und Kommunen übernommen, sondern in dem Moment befindet sich der Betreffende in Hartz IV, das heißt die Leistung wird vom Bund übernommen und zum Teil, was die Kosten der Unterkunft anbelangt, von den Kommunen. Insofern entstehen, je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln, ob unsere Beschleunigungsgesetze wirklich funktionieren oder nicht, völlig unterschiedliche Belastungen. Als konstanten Teil habe ich natürlich, dass die Kommunen und Länder mehr Kindergärtner, Lehrer usw. werden einstellen müssen, dass wir mehr Integrationskurse durchführen müssen, dass die Bundesagentur für Arbeit völlig neue Aufgaben hat. Das müssen wir jetzt geschickt so bündeln, dass wir sagen: Ja, jeder trägt seinen fairen Anteil, aber in der gegenwärtigen Situation können wir die Gesamtbelastung für die nächsten zwei Jahre noch nicht genau abwägen. Sie haben es ja erlebt: Wir haben im Juni einen großen Gipfel gemacht, wir haben das Ganze als nationale Aufgabe dargelegt, wir haben jetzt die ersten Gesetzesvorschläge des Bundesinnenministers, der gesagt hat, wir brauchten gegebenenfalls längere Aufenthaltsdauern in der Erstaufnahmeeinrichtung, wir brauchten auch andere Veränderungen – bei der Residenzpflicht usw. – in der Zeit des Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung. Wir müssen jetzt Schritt für Schritt vorgehen und einen geschickten Weg finden, wie wir uns die Gesamtherausforderung vernünftig teilen. Das wird ein Programm sein, das natürlich Milliardenbeträge umfasst. Frage: Ich habe eine Frage zu Griechenland. Frau Bundeskanzlerin, Ihr Finanzminister sagt, dass der Spielraum für weitere Zugeständnisse an Griechenland in der Schuldenfrage, sei es in Form von Laufzeitverlängerungen oder Zinssenkungen, sehr begrenzt sei. Teilen Sie diese Auffassung, und wenn ja, was meinen Sie, wie lange man die griechischen Schulden strecken könnte? Der IWF scheint etwas mehr zu verlangen. Bundeskanzlerin Merkel: Nun ja, wir haben ja eine Rechtslage. Es gibt ein Bail-out-Verbot in den europäischen Verträgen. An denen misst sich dieser Spielraum. Auch haben wir jetzt eine Diskussion über die Frage, wie die Schuldentragfähigkeit berechnet wird. Darüber ist in den letzten Tagen sehr viel geschrieben worden und auch in den vergangenen Monaten und Jahren, gerade auch von dem Chef des ESM, Herrn Regling, schon debattiert worden, weil wir eine spezifische Situation haben. Der IWF hat seine Regeln, wann er seine Schulden zurück haben möchte, die EZB hat ihre Regeln, wann sie ihre Zinszahlungen erhalten möchte. Die Gläubiger Griechenlands, soweit sie im ESM versammelt sind, haben Griechenland eine weite Stundungsregelung gegeben, ab wann überhaupt die Rückzahlungen beginnen, und dann auch noch zu sehr geringe Zinsen. Bei den Zinsen haben wir zum Beispiel meiner Meinung nach keinen Spielraum, weil diese schon sehr gering sind. Alles, was sozusagen nicht einmal die Finanzierung des ESM widerspiegelt, wäre ja dann in dem Sinne ein Bail-out. Wir haben aber natürlich bei der sogenannten "grace period" – ab wann und wie hoch die Rückzahlung einsetzen muss – einen gewissen Spielraum, und es ist richtig, dass wir wegen der Sonderheit des griechischen Staates in seinem Verhältnis zum ESM nicht einfach nach den 120 Prozent Schulden fragen, sondern dass wir fragen: Wie ist denn die tatsächliche Belastung, die Griechenland aus seinem Schuldendienst erwächst? 15 Prozent könnten ein Maßstab sein. Bis 2022 oder 2023, wenn zurückzuzahlen ist, liegt die Belastung ja auch deutlich unter 15 Prozent. Andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union sagen hingegen: Unsere Verschuldung bedeutet, obwohl sie geringer ist, eine höhere innere Belastung als die, die Griechenland heute hat. Wenn dann die Rückzahlungspflichten beginnen, muss man schauen, dass man es immer bei den 15 Prozent hält. Insoweit bin ich relativ optimistisch, dass man eine Regelung erreicht, die sowohl die Anforderungen des IWF als auch die Lösbarkeit des Problems widerspiegelt. Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Anfang gesagt, Dublin funktioniere nicht mehr so, wie es sollte. Stehen für Sie Schengen und Dublin zur Disposition" Bundeskanzlerin Merkel: Schengen und Dublin, das ist ja nun ein weites Feld. Zusatzfrage: Könnten sie modifiziert eingeschränkt werden" Nachfrage: Sie fahren übermorgen in die Schweiz. Die Schweiz hat einen Ausländeranteil von 23 Prozent und möchte die Personenfreizügigkeit ritzen, sage ich einmal, und angesichts der jetzigen Situation in Europa Kontingente einführen. Ändert das Ihre Meinung zum Wunsch der Schweiz" Bundeskanzlerin Merkel: Nein, ich respektiere natürlich den Ausgang des Referendums, das in der Schweiz durchgeführt wurde, und unterstütze auch, dass wir uns bemühen, Lösungen zu finden, um eine möglichst enge Anbindung der Schweiz an die Europäische Union zu erhalten. Aber das Prinzip der Freizügigkeit ist ein Grundprinzip der Europäischen Union. Jetzt müssen wir schauen, welche Möglichkeiten gefunden werden. Ich freue mich auf den Besuch in der Schweiz. Wir sind Nachbarn, haben vielerlei Verpflichtungen und gute Beziehungen. Ich werde mich auch erkundigen. Die Bearbeitung bestimmter Asylanträge ist in der Schweiz deutlich kürzer, als wir das bis jetzt in Deutschland geschafft haben. Sicherlich werden wir uns auch darüber austauschen." (Fortsetzung folgt).
(dts Nachrichtenagentur)
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