Seehofers Lockdown-Auftrag – Opposition: „Politik hat die Wissenschaft instrumentalisiert“
Die jüngste Enthüllung der „Welt“ über ein vermeintliches Geheimpapier, das vom Bundesinnenministerium im März 2020 von mehreren namhaften Forschungsinstituten angefordert worden war, hat erste kritische Reaktionen aus der Opposition hervorgerufen.
Die Zeitung war an einen 200 Seiten umfassenden E-Mail-Verkehr zwischen dem von Horst Seehofer geleiteten Ministerium und den Einrichtungen der Wissenschaft gelangt. Aus diesem soll hervorgehen, dass die Politik eine Expertise angefordert hat, die zu einem von vornherein definierten Ergebnis kommen soll: nämlich der Rechtfertigung eines Lockdowns zur Eindämmung der Corona-Seuche.
Seehofers Mitarbeiter stimmten Arbeit eng mit Forschern ab
Juristen hatten die Einsichtnahme in den Schriftwechsel gegen das Robert Koch-Institut (RKI) erstritten. Der Inhalt des Schriftwechsels lässt erkennen, dass das Bundesinnenministerium mehr wollte als nur eine wissenschaftliche Untersuchung über mögliche Pandemie-Szenarien.
Vielmehr soll das Ministerium von den angesehenen Forschungseinrichtungen binnen vier Tagen ein Papier auf der Grundlage der ihnen vorliegenden Daten angefordert haben, auf dessen Basis „Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ als unausweichlich dargestellt werden könnten.
Die Ausarbeitung sei während der gesamten vier Tage, wie die „Frankfurter Rundschau“ schreibt, „offenbar in enger Abstimmung mit Seehofers Behörde“ vonstattengegangen. Neben der Rechtfertigung für Lockdown-Maßnahmen soll das Ministerium auch noch weitere inhaltliche Ausgestaltungswünsche an die Forscher gerichtet haben.
Unter anderem solle neben einer aktiven Teststrategie auch „längerfristig der Einsatz von Big Data und Location Tracking“ als „unumgänglich“ dargestellt werden. Kern des bewusst nicht ergebnisoffen formulierten Forschungsauftrages sei jedoch die Rechtfertigung des Lockdowns – weshalb, wie es im Papier hieß, das „Verschweigen des Worst Case keine Option“ sei.
„Politik hat die Wissenschaft instrumentalisiert“
Am 18. März soll Bundesinnenminister Horst Seehofer das Papier offiziell in Auftrag gegeben haben. Es umfasste am Ende 17 Seiten und trug den Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“.
Nun werden Vorwürfe laut, die Politik habe die Wissenschaft für ihre Zwecke instrumentalisiert. In der Opposition stößt das Vorgehen auf heftige Kritik. Nicht nur, dass die Politik auf Forscher inhaltlich in enger Weise Einfluss nehme, ruft in FDP, Linkspartei und AfD Befremden hervor.
Dass namhafte und international angesehene Einrichtungen wie das RKI ihrerseits offenbar zumindest in Teilbereichen Bereitschaft zeigen, in wenigen Tagen auf Bestellung Gutachten zur Rechtfertigung bestimmter politischer Entscheidungen anzufertigen, sorgt für Besorgnis.
Geheimpapier malt Worst-Case-Szenarien an die Wand
In dem vermeintlichen „Geheimpapier“, das in weiterer Folge gezielt an ausgewählte Medien weitergeleitet wurde, schilderten die Wissenschaftler unterschiedliche denkbare Szenarien für die weitere Entwicklung der Corona-Pandemie. Auf diese Szenarien wurden unterschiedliche Empfehlungen gestützt.
Das Worst-Case-Szenario ging davon aus, dass sich die Verdopplungszeit der Fallzahlen bis zum 14. April von drei auf dann sechs Tage erhöhen würde – und bis Ende April auf neun Tage. In diesem Fall würde der Anteil der Infizierten „schon relativ bald 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen“.
Dies würde in weiterer Folge zu einer so immensen Überlastung des Gesundheitssystems führen. Am Ende würde eine Situation eintreten, wonach „über 80 Prozent der intensivpflichtigen Patienten von den Krankenhäusern mangels Kapazitäten abgewiesen werden“ müssten.
Dabei sei berücksichtigt, dass zeitnah zusätzliche Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur Verfügung gestellt werden könnten. Die Phase der Rationierung könnte zwei Monate andauern – und auf diese würde sich eine Zahl von „mehr als einer Million Todesfälle“ errechnen.
Linkspartei: Ansehen einer faktenbasierten Corona-Bekämpfung nimmt Schaden
Der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, forderte noch am Montag eine Aufklärung der Vorwürfe im Innenausschuss des Bundestages, der am Mittwoch (10.2.) tagen soll. Gegenüber der „Welt“ erklärte er, der Ausschuss müsse von der Bundesregierung die Übersendung des vollständigen Schriftverkehrs fordern und das Thema auf die Tagesordnung setzen.
Kuhle betonte gegenüber dem Blatt, er begrüße einen ständigen Austausch zwischen Politik und Wissenschaft, allerdings schade der Eindruck, wissenschaftliche Erkenntnisse würden der Politik gleichsam auf Bestellung geliefert, „dem Ansehen einer unabhängigen Wissenschaft und einer faktenbasierten Pandemie-Bekämpfung“.
Auch der Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sorgt sich um die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft, sobald diese „Unabhängigkeit aus der Hand gibt“. Außerdem gäbe es einen klaren Zusammenhang zwischen Vertrauen und Glaubwürdigkeit der Wissenschaft auf der einen und der Akzeptanz von Corona-Maßnahmen auf der anderen Seite.
Kubicki: Wer mit Angst Politik macht, legt die Axt an die FDGO
FDP-Vize Kubicki warf dem Innenministerium vor, auf Kommunikationswerkzeuge zurückgegriffen zu haben, die man „eher bei autoritären Staaten vermutet hätte“.
Es gehe, so Kubicki, „offensichtlich nicht mehr darum, mündigen Bürgerinnen und Bürgern evidenzbasiert und sachorientiert politische Entscheidungen zu erklären, sondern darum, diese Entscheidungen auf repressivem Wege durchzuprügeln“.
Wer allerdings versuche, Angst zu erzeugen, um politische Entscheidungen durchzusetzen, lege „selbst die Axt an unsere demokratische Grundordnung“.
In einer Pressekonferenz der AfD-Fraktion im Bundestag warf deren Parlamentarischer Geschäftsführer Bernd Baumann den Hochschulen vor, ihrer Aufgabe, neutral zu forschen und zu berichten, nicht nachgekommen zu sein.
Es sei nicht hinnehmbar, dass statt mit Zahlen, Daten und Fakten auf Bestellung mit Angst operiert werde – und die Politik dabei auch noch „maximale Kollaboration“ fordere.
Sein Fraktionskollege Gottfried Curio erklärt, dass das Vorgehen des Bundesinnenministeriums sich in jene Praxis der Bundesregierung einfüge, die jüngst sogar aus der SPD kritisiert worden wäre.
Bundeskanzlerin Angela Merkel zeige sich von vornherein nicht bereit, Stimmen aus der Wissenschaft, die ihren Vorstellungen zur Corona-Bewältigung zuwiderliefen, überhaupt zuzuhören. Weil eine objektive Bestandsaufnahme gar nicht gewünscht sei, habe Merkel erst jüngst Wissenschaftler von der Bund-Länder-Runde ausgeladen, die sogar die SPD dabei haben wollte.
Twitter-Nutzer äußern Misstrauen gegenüber der Wissenschaft
Auf Twitter wird unter dem Hashtag #SeehoferGate ebenfalls scharfe Kritik am Bundesinnenministerium, aber auch an den Forschungseinrichtungen geübt, die verdächtigt werden, Gefälligkeitsgutachten zu liefern.
Eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW in Mannheim und der Humboldt-Universität Berlin, über die heute auf dem Portal der „Tagesschau“ berichtet wurde, rückten Twitter-Nutzer vor dem Hintergrund der „Welt“-Enthüllungen ebenfalls in die Nähe bestellter Arbeiten.
Der Studie zufolge hätten Protestkundgebungen gegen die Pandemie-Maßnahmen im November zu einer starken Verbreitung des Virus beigetragen.
Ist irgendwie interessant: bei #BLM Demos gabs keine Virenverbreitung… #SeehoferGate #COVID19 #Corona #COVID19 https://t.co/G4lIkwsfLA
— IchWillMeinLandZurueck! ❌ ?? (@IchWillMeinLand) February 9, 2021
Ein weiterer Nutzer fragt:
„Nach all dem was die letzten Tage so durchgesickert ist über die Gefallen der Leopoldina und des RKI für die Regierung – Wie sehr vertraut ihr noch ‚der Wissenschaft‘?“
Nach all dem was die letzten Tage so durchgesickert ist über die Gefallen der Leopoldina und des RKI für die Regierung – Wie sehr vertraut ihr noch „der Wissenschaft“? #SeehoferGate
— Eddy Bernayz (@Eddy_Bernayz) February 9, 2021
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