Scholz bei Kandidatur unter Druck – AfD im Merz-Dilemma

Nicht erst seit der ATACMS-Freigabe für die Ukraine durch den US-Präsidenten steht die AfD bei einem Vertrauensentzug für Olaf Scholz vor dem Dilemma, den Taurus-Befürworter Friedrich Merz ins Kanzleramt zu befördern. Trotzdem will die Partei bei ihrem Nein zu Scholz bleiben. Der wiederum steht parteiintern unter Druck.
Titelbild
Das Archivbild zeigt die AfD-Cofraktionsvorsitzende Alice Weidel auf dem Weg zum Rednerpult des Deutschen Bundestags. Nicht alle AfD-Fraktionsmitglieder wollen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, r.) am 16. Dezember das Vertrauen entziehen.Foto: ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images
Von 19. November 2024

Die Entscheidung von Noch-US-Präsident Joe Biden, der Ukraine den Einsatz von ATACMS-Raketen gegen russisches Territorium im Umfeld des seit August umkämpften Gebiets Kursk zu erlauben, wirbelt die ohnehin angespannte innenpolitische Lage in Deutschland noch mehr durcheinander.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnt es bisher noch strikt ab, der Ukraine deutsche Taurus-Marschflugkörper zu liefern, die mit ihren 500 Kilometern Reichweite noch tiefer nach Russland eindringen könnten als die ATACMS, die lediglich 300 Kilometer schaffen. Lediglich die Verschickung von 4.000 KI-gestützter Drohnen mit einer Reichweite von bis zu 40 Kilometern soll nach Angaben von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) den Segen des Kanzlers erhalten haben.

Opposition verlangt von Scholz Umkehr – auch SPD-Politiker zweifelt

Sein Nein zum Taurus setzt Scholz nun von mehreren Seiten unter Druck: Einerseits attackieren ihn Vertreter der Grünen, der FDP und der Union seit jeher für seine zögerliche Haltung. Andererseits machen sich manche Sozialdemokraten inzwischen ebenfalls für eine Meinungsänderung in der Taurus-Frage stark.

Der SPD-Haushaltspolitiker Andreas Schwarz etwa erklärte nach Informationen der Nachrichtenagentur dts im „Tagesspiegel“: „Die Entscheidung der USA wird bereits in Europa, aber auch im Bundestag diskutiert und eventuell zu einem Umdenken führen“. Denn neue Situationen verlangen nach seiner Auffassung „ein Überdenken von Positionen und Entscheidungen“.

Der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Florian Hahn, warf Scholz in der „Augsburger Allgemeinen“ Taktiererei vor: „Der Bundeskanzler zieht wieder einmal Parteiinteressen den außen- und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands vor“.

Marcus Faber (FDP), der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, betonte gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“, dass es keine Argumente mehr für eine Verweigerung des Kanzlers gebe. Im Bundestag müsse deswegen noch einmal über den Taurus debattiert werden.

Manche SPD-Mitglieder sähen lieber Pistorius als Kanzlerkandidat

Dazu kommt noch die Überzeugung vieler Sozialdemokraten, dass angesichts der schlechten Umfragewerte von Scholz vielleicht doch besser Verteidigungsminister Boris Pistorius als Kanzlerkandidat in den Ring steigen sollte.

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hatte laut „Tagesschau“ schon in der vergangenen Woche von einem parteiinternen „Grummeln“ über die Personalie Scholz gesprochen. Gegenüber dem WDR erklärten nun auch Wiebke Esdar und Dirk Wiese, die beiden Vorsitzenden der starken NRW-Landesgruppe im Bundestag, dass es in den Wahlkreisen Nordrhein-Westfalens „viel Zuspruch für Boris Pistorius“ gebe. Letztlich hätten aber die Parteigremien das letzte Wort.

SPD-Parteigranden setzen weiter auf Scholz

Bislang hatten sich SPD-Generalsekretär Matthias Miersch sowie die beiden SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil stets für Scholz als Kandidaten positioniert.

Nach den Worten von Klingbeil in der ARD-Talkshow „Caren Miosga“ wolle die Partei die Marschrichtung ihres Wahlkampfes in den kommenden Tagen festlegen. „Es geht schon um Klarheit in der Sache, es geht um einen Weg, den wir jetzt bis zum Bundesparteitag gehen“, sagte Klingbeil am vergangenen Sonntag.

Saskia Esken legte sich am Montag im ARD-„Morgenmagazin“ fest: Es sei „beschlossene Sache“, dass Scholz „unser Kanzler“ und „unser Kanzlerkandidat“ sei.

Scholz-Gegner auf Stimmen der AfD angewiesen

Seit etwa zwei Tagen macht jedoch das Gerücht die Runde, dass es bis zum 23. Februar vielleicht gar keine vorgezogene Bundestagsneuwahl geben könnte. Denn immerhin ist rechnerisch nicht ausgeschlossen, dass Scholz seine für den 11. Dezember angekündigte Vertrauensfrage mit der Abstimmung am 16. Dezember doch noch zu seinen Gunsten entscheiden könnte.

Gegen Scholz würden höchstwahrscheinlich alle 196 Unionsabgeordneten stimmen, um ihren Kandidaten Friedrich Merz ins Kanzleramt zu hieven.

Ob sämtliche 90 MdB‘s aus den Reihen der FDP ihr mögliches vorzeitiges Ausscheiden durch eine Auflösung des Bundestags riskieren würden, erscheint schon weniger sicher. Doch selbst wenn alle Liberalen das Risiko in Kauf nehmen würden, kämen Union und FDP gemeinsam nur auf 286 Stimmen gegen Scholz.

Für eine Mehrheit im Parlament wären allerdings 367 von 733 Stimmen nötig. Einer schwarz-gelben Front würden demnach 81 Stimmen fehlen. Und diese ließen sich nicht alleine mit der Gruppe der Linken (28 Sitze), der Gruppe BSW (10 Sitze) und den Fraktionslosen (9 Sitze) auffüllen. Um die aktuelle Minderheitsregierung unter Scholz zu beerdigen, müsste sich zumindest ein Großteil der 76 starken AfD-Fraktion anschließen. Was zugleich ein punktuelles Einreißen der „Brandmauer“ bedeuten würde.

Die Grafik zeigt die Sitzverteilung des 20. Deutschen Bundestags. Foto: Bildschirmfoto/Bundestag.de

Die Grafik zeigt die Sitzverteilung des 20. Deutschen Bundestags. Foto: Bildschirmfoto/Bundestag.de

Stimme gegen Scholz wäre Stimme für Merz

Zwar drängt die AfD seit Langem ebenfalls grundsätzlich auf ein Ende der Ära Scholz und Neuwahlen im Bund, zumal die Blauen ihren Stimmenanteil in einem neuen Parlament wahrscheinlich nahezu verdoppeln könnten.

Doch jede AfD-Stimme gegen den amtierenden Kanzler bei der Vertrauensfrage wäre aktuellen Umfragen zufolge wohl zugleich eine Stimme für einen zukünftigen Regierungschef Friedrich Merz. Und damit höchstwahrscheinlich zugleich eine Stimme für die Taurus-Lieferung in die Ukraine, die aus Sicht der AfD wiederum ein No-Go wäre.

Mit den Grünen als künftigem Koalitionspartner hätte Merz regierungsintern jedenfalls keinen Widerstand zu erwarten. Ob die SPD als Juniorpartner der Union bei den Tauruslieferungen nicht doch einknicken könnte, bleibt bis auf Weiteres eine offene Frage.

Nach dem Wahltrend der Plattform „Dawum.de“ könnte sich Merz seinen Wunschpartner derzeit aussuchen: Schwarz-Grün käme im künftig auf 630 Sitze beschränkten Plenum auf eine 328-Sitze-Mehrheit, Schwarz-Rot hätte sogar 360 Sitze.

Die Grafik zeigt den Wahltrend aus den sieben jüngsten Wahlumfragen verschiedener Meinungsforschungsinstitute. Foto: Bildschirmfoto/dawum.de

Die Grafik zeigt den Wahltrend aus den sieben jüngsten Wahlumfragen verschiedener Meinungsforschungsinstitute. Foto: Bildschirmfoto/dawum.de

AfD in der Zwickmühle: Scholz als „kleineres Übel“?

Nach Informationen des Nachrichtenmagazins „Politico“ könnten sich mehrere AfD-Abgeordnete am 16. Dezember offenbar für Scholz und gegen Merz entscheiden. In einer internen Telegram-Nachricht habe sich bislang der AfD-MdB Jürgen Pohl dazu durchgerungen:

Klar und offiziell möchte ich mitteilen, dass ich Herrn Merz unter keinen Umständen in verantwortungsvoller Position sehen möchte. […] Ich muss und ich werde somit in der Vertrauensabstimmung für oder gegen Scholz, für Scholz, als das kleinere Übel stimmen.“

Pohl habe zudem berichtet, dass er auch andere AfD-MdB’s aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg kenne, die angesichts des Ukraine-Kriegs darüber nachdächten, für Scholz zu stimmen. Laut „Politico“ sollen auch die AfD-Abgeordnete Christina Baum und sogar der AfD-Cobundessprecher Tino Chrupalla ähnliche Gedanken hegen.

Auf dem offiziellen X-Kanal der AfD scheint das Problem erkannt worden zu sein:

Während die Wahl von Donald Trump vorsichtige Hoffnung auf Frieden macht, legen Merz und die CDU die Lunte an den Frieden. Die #AfD hat sich dieser Eskalationspolitik, die nicht im deutschen Interesse liegt, immer verweigert und wird es auch weiterhin tun: Wir brauchen eine diplomatische Lösung des Konflikts, anstatt weiterhin ein hochriskantes Drehen an der Eskalationsspirale zu betreiben. Friedrich Merz darf deshalb niemals Bundeskanzler werden!“

AfD-Fraktionsspitze hält an Nein zu Scholz fest

Nach den Worten von Daniel Tapp, dem Sprecher der AfD-Kanzlerkandidatin und Co-Bundessprecherin Alice Weidel, bedeutet das allerdings nicht, dass die AfD im Bundestag offiziell für Scholz stimmen wird: „Die Fraktionsspitze fordert seit Monaten Neuwahlen und wird auch entsprechend empfehlen, dem Bundeskanzler das Vertrauen nicht auszusprechen“, so Tapp auf Nachfrage von „Politico“.

Auch Peter Böhringer, der stellvertretende Sprecher im AfD-Bundesvorstand, hatte im Gespräch mit dem Youtuber Elijah Tee bereits am Sonntag klargestellt, dass die AfD-Fraktion nicht wegen bloßer taktischen Erwägungen davon Abstand nehmen werde, Scholz das Vertrauen zu entziehen:

Eigentlich ist die Sache ja völlig klar: Wir als Oppositionspartei stimmen gegen einen Kanzler, der seit drei Jahren von uns massiv bekämpft wird. Was sollten wir auch anderes tun?“

Faktisch regiere Merz ohnehin schon, ergänzte Böhringer später (Video ab ca. 4:49 Min. auf YouTube).

Nach einer gescheiterten Vertrauensfrage hätte Scholz die Möglichkeit, den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier um die Auflösung des Bundestags und Neuwahlen zu bitten. Falls Steinmeier sich darauf einließe, dürften die deutschen Wahlberechtigten am 23. Februar 2025 zur Urne schreiten.

Bis ein neuer Koalitionsvertrag ausgearbeitet und unterschrieben wäre, würde es danach wahrscheinlich noch bis ins Frühjahr dauern.

Trump wird Amtsgeschäfte vier Wochen vor Bundestagsneuwahl antreten

Da der neue US-Präsident Donald Trump nach Angaben der „Stuttgarter Zeitung“ bereits am 20. Januar 2025 die Amtsgeschäfte von Joe Biden übernehmen wird, könnte der Krieg in der Ukraine allerdings auch zu Ende sein, bevor Merz zum zehnten Kanzler der Bundesrepublik vereidigt sein würde.

Trump hatte im Wahlkampf immer wieder betont, dass er im Fall seiner Wiederwahl den Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden würde.



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