Schlagabtausch neues Infektionsschutzgesetz – Gesetzentwurf dient „eher dem Schutz des Ministerpräsidenten als dem Volk“

Die von der Bundesregierung angestrebte Novelle zum Infektionsschutzgesetz war am Freitag Gegenstand einer Aussprache im Bundestag. Dabei wurde deutlich, dass die jüngst immer stärker gewordene Kritik an der Rolle der Exekutive nicht zeitnah abklingen dürfte.
Von 7. November 2020

Am Freitag (6.11.) debattierte der Bundestag den von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingebrachten und inhaltlich federführend vom Bundesgesundheitsministerium gestalteten Entwurf eines dritten Gesetzes „zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Mittlerweile befindet sich der Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf dem Weg in die Ausschüsse, wo er überarbeitet werden soll.

Bereits gestern zeichnete sich jedoch ab, dass die geplante Überarbeitung jüngst geäußerte Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung im Allgemeinen und der Rolle der Exekutive im Besonderen nicht ausräumen dürfte.

Infektionsschutzgesetz stärkt RKI und soll Reisen in Risikogebiete sanktionieren

Wie Debattenredner im Bundestag ansprachen, ist in der geplanten Neufassung kein Passus enthalten, der darauf hindeuten würde, dass die Parlamente eine stärkere Mitsprache im Bereich der Pandemiemaßnahmen erlangen würden – was zuletzt einer der Hauptkritikpunkte war.

Stattdessen versucht die Exekutive, Befugnisse abzusichern, die ihr selbst und Einrichtungen wie dem „Robert-Koch-Institut“ (RKI) zupasskommen, mit denen sie in der Corona-Bekämpfung eng kooperiert und deren Einschätzungen unmittelbare Wirkungen auf die Rechtslage haben können.

Die Bundesregierung will mit dem neuen Entwurf den verfassungsjuristischen Bedenken bezüglich diverser Gestaltungsbefugnisse entgegenwirken, die bereits mehrfach zur gerichtlichen Aufhebung von Corona-Maßnahmen geführt hatten. Dies will sie bewerkstelligen, indem sie diese im Gesetz verankert.

Spahn: „Bittere Medizin in Form von Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten“

In der Aussprache im Bundestag ging es weniger um die geplanten Detailregelungen als um die Frage der Angemessenheit der Corona-Maßnahmen als solche und die Rolle des Parlaments. Neben dem Regierungsantrag werden sich die Ausschüsse auch mit Anträgen der Fraktion der AfD, der Linkspartei und der Grünen befassen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn rechtfertigte die „bittere Medizin in Form von Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten“, die erforderlich wäre, um die Bevölkerung vor einer weiteren unkontrollierten Ausbreitung des Virus zu schützen.

Die Zahl der positiv auf SARS-CoV-2 Getesteten in Deutschland ist trotz der neuen Lockdown-Maßnahmen weiterhin im Steigen begriffen. Am Freitag (6.11.) wurde mit 22.246 positiv Getesteten ein neuer Höchstwert festgestellt. Auch die Zahl der Toten stieg auf 174 und bewegt sich seit mehreren Tagen auf einem Level, wie es auch während der ersten Welle im Frühjahr unterhalb einzelner Spitzenwerte zu verzeichnen war.

Lindner: „Rechtspolitisches Feigenblatt“

Auf Dauer, so Spahn, wäre die Ansteckungsdynamik zu groß, um auf die neuerliche „nationale Kraftanstrengung“ verzichten zu können. Die Pandemie sei „eine Mammutaufgabe und der Höhepunkt vermutlich noch nicht erreicht“.

Aus den Reihen des Koalitionspartners meldete sich die Duisburger Bundestagsabgeordnete Bärbel Bas (SPD) zu Wort. Sie räumte ein, man könne über einzelne Maßnahmen durchaus streiten und die Parlamentsbeteiligung müsse abgesichert werden. In der gegenwärtigen Situation seien ein einheitliches Vorgehen und wirksame Kontaktbeschränkungen jedoch vordringlich. Die Regierung müsse aber aufpassen, dass ihr am Ende die Maßnahmen „nicht um die Ohren fliegen“.

Christian Lindner kritisierte namens der FDP-Fraktion ein „rechtspolitisches Feigenblatt […], um Entscheidungen nachträglich zu legitimieren“, und sprach gar davon, dass das Vorgehen der Regierung „hart an die Grenze der Missachtung des Parlaments“ sei. Er warnte vor einem langfristig möglichen Jojo-Effekt mit regelmäßigen freiheitseinschränkenden Lockdown-Maßnahmen und betonte, es gebe „keinen Grund, immer noch im Notfallmodus an der Verordnungspraxis festzuhalten“.

AfD für gezielten Schutz von Risikogruppen

Für die AfD warnte Detlev Spangenberg vor „beispiellosen Einschränkungen der persönlichen Freiheit“, die nicht einmal vor der Unverletzlichkeit der Wohnung haltmachten. Dazu kämen zerstörerische wirtschaftliche und soziale Folgen infolge von Phänomenen wie Vereinsamung oder psychischer Belastungen. Spangenberg forderte einen gezielten Schutz von Risikogruppen, statt das Land weiter durch „unverhältnismäßige“ Maßnahmen in den Ruin zu treiben.

Für die Linke sprach Susanne Ferschl, die von einer sinkenden Akzeptanz der Corona-Maßnahmen in der Öffentlichkeit sprach. Dies liege auch daran, dass das Parlament an den Rand gedrängt worden wäre. Bereits vor der Krise habe die Politik entscheidende Maßnahmen unterlassen, die sich nun rächen würden. In Situationen wie in öffentlichen Verkehrsmitteln oder an Schulen seien Menschen faktisch gar nicht in der Lage, ihrer Verpflichtung zum Einhalten des Abstandes zu entsprechen.

Die Grünen würden, so MdB Dr. Manuela Rottmann, die jüngsten Maßnahmen dem Grunde nach mittragen. Es sei jedoch davon auszugehen, dass die derzeitigen Verordnungsermächtigungen im Infektionsschutzgesetz (IfSG) nicht ausreichten, um die mit den Maßnahmen verbundenen Grundrechtseingriffe auf Dauer zu rechtfertigen.

Denunziation oder „aufeinander achten“?

Der gestrige Schlagabtausch im Bundestag lässt erahnen, dass die grundlegenden Auseinandersetzungen über den künftigen Kurs in der Corona-Politik noch an Heftigkeit zunehmen könnten. Was die AfD als „Aufruf zum Denunziantentum“ anprangerte, nämlich, dass Nachbarn dazu aufgerufen würden, ein Auge auf die Einhaltung der Corona-Regeln im eigenen Umfeld zu haben, verteidigt Spahn als Ausdruck davon, dass man „aufeinander aufpasst“.

Während Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) von einer „erforderlichen Ermächtigungsgrundlage“ sprach, die für die Corona-Politik geschaffen werden müsse, betonte Dr. Andrew Ullmann (FDP), es gäbe keine Rechtfertigung, die Bürger auf Dauer mit Grundrechtseinschränkungen leben zu lassen.

Achim Keßler (Linke) erklärte, der Gesetzentwurf diene „eher dem Schutz des Ministerpräsidenten als dem Volk“.

Der fraktionslose Dortmunder Bundestagsabgeordnete Marco Bülow (ehemals SPD) forderte, die Bürger selbst über entsprechende Versammlungen an der Pandemiebekämpfung zu beteiligen.
(Mit Material von AFP)



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