RKI-Files: Rätselraten um „RKI-Mitarbeiter“ dauert an

Noch immer liegt der Name jenes Akteurs nicht vor, der die Hochskalierung der Risikobewertung zum Corona-Geschehen Mitte März 2020 veranlasst hatte. Aus der Politik sei die Anweisung jedenfalls nicht erfolgt, sagt Bundesgesundheitsminister Lauterbach. Es wird weiter spekuliert: War es am Ende doch kein RKI-Mitarbeiter?
Titelbild
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (r.) und der ehemalige Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, bei einer Pressekonferenz am 22. Dezember 2021.Foto: Omer Messinger/AFP via Getty Images
Von 28. März 2024

Noch immer hüllt sich das Bundesgesundheitsministerium (BMG) in Schweigen, was den Namen des „RKI-Mitarbeiters“ angeht, der die Risikostufe zur Corona-Krise nach dem Wochenende des 14. und 15. März 2020 heraufsetzen ließ. Dass der RKI-Krisenstab nur noch sein „Signal“ erwarten würde, die Risikostufe von „mäßig“ auf „hoch“ zu skalieren, war den RKI-Files zufolge am 16. März 2020 innerhalb des Krisenstabs festgehalten worden. Der Name des Signalgebers ist unbekannt, weil geschwärzt.

Klar ist: Am Dienstag, 17. März 2020, hatte RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar Wieler die Hochskalierung verkündet. Sie war die Grundlage für sämtliche Grundrechtseinschränkungen und sonstige Corona-Schutzverordnungen, die die Republik die folgenden drei Jahre lang in Atem halten würden.

Spekulationen um Holtherm

Auf X wird derzeit spekuliert, dass es sich beim Signalgeber um den damals frisch ans BMG berufenen Generalarzt Dr. Hans-Ulrich Holtherm gehandelt haben könnte. Holtherm war erst Anfang März 2020 zum Abteilungsleiter 6 im BMG („Gesundheits­schutz, Ge­sund­heitssicherheit, Nachhaltigkeit“) berufen worden. Sollte der Uniformträger tatsächlich das Signal gegeben haben, wäre die Freigabe zur Hochskalierung doch aus der Politik gekommen.

Das Portal „Report24.news“ schildert, wie der Datenanalyst Tom Lausen zu seiner Vermutung gekommen war, nämlich unter dem Einsatz von KI-Software. Eine Rolle spielt dabei ein Foto aus dem „Spiegel“ vom 13. März 2020, in dem Holtherm unweit von Heiko Rottmann-Großner inmitten des Corona-Krisenstabs zu sehen ist. Niemand hält Abstand oder trägt eine Maske. Das komplette Video mit Lausens Gastauftritt bei „NuoViso“ ist auf „YouTube“ zu sehen.

Der entsprechende Protokollhinweis vom 6. Mai 2020, der den Einfluss des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU) beziehungsweise von dessen neuem BMG-Mitarbeiter Holtherm auf das RKI nach Einschätzung von Lausen untermauern könnte, bezieht sich allerdings auf die Debatte um ein „R“. Ist damit der „R-Wert“ gemeint? Oder ging es tatsächlich um eine Anweisung, ein „Risikosignal“ hochzuskalieren? Die Frage bleibt bis auf Weiteres offen.

Am 06.05.21 war im RKI-Krisenstab von BMG-Mitarbeiter Hans-Ulrich Holtherm, einem Generalarzt, die Rede. Es ging um eine Anweisung von BMG-Chef Spahn, den R-Wert auf zwei Kommastellen genau auszuweisen.Foto: RKI-Files, veröffentlicht vom „Multipolar-Magazin“ am 20. März 2024

Am 06.05.2020 war im RKI-Krisenstab von BMG-Mitarbeiter Hans-Ulrich Holtherm, einem Generalarzt, die Rede. Es ging um eine Anweisung von BMG-Chef Spahn, „das R“ auf zwei Kommastellen genau auszuweisen. Foto: RKI-Files, veröffentlicht von „Multipolar“ am 20. März 2024

Der Protokollausschnitt vom 6. Mai 2020 legt zumindest nahe, dass „die meisten Fälle“ – gemeint sind wohl die Zahl der positiven Corona-Tests – noch vor dem 16. oder 17. März 2020 gemessen worden waren. Danach flachte die Kurve wohl wieder ab („Peak“, zu Deutsch: „Gipfel“). Dennoch wurde am Wochenende darauf die „neue Risikobewertung“ vorbereitet und am 17. März schließlich „hochskaliert“. Lag es am zeitlichen Verzug der Meldungen?

Zu den Schwärzungen oberhalb der Passage verweist die Kanzlei Raue, Rechtsbeistand des RKI, darauf, dass darin Namen genannt werden, denen bei Bekanntwerden die „Stigmatisierung“ drohe. Insofern bestehe ein „schutzwürdiges Interesse an der Geheimhaltung“.

Lauterbach stellt sich schützend vor RKI – und will „nach vorne“ blicken

Der amtierende Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) hatte am Montag, 25. März 2024, jedenfalls abgestritten, dass es sich um einen externen Akteur aus den Reihen der Politik gehandelt hatte, der letztlich das Signal zur Hochstufung gab.

Vor Pressekameras erklärte Lauterbach, dass das Robert Koch-Institut (RKI) „unabhängig von politischer Weisung gearbeitet“ und auch „das Richtige getan“ habe (Video auf „Sueddeutsche.de“). Andernfalls hätte Deutschland „mehr Todesfälle gehabt, auch mehr Long-COVID-Fälle“. Gerade in der Anfangsphase der Krise hätten sich „viele jüngere“ Leute infiziert, die „heute noch an Long COVID“ litten.

Nun sei es wichtig, „dass wir nach vorne blicken“, so Lauterbach. Die Corona-Aufarbeitung liege in den Händen einer neuen „Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern“ für „Gesundheit und Resilienz“, die beim Bundeskanzleramt aufgebaut worden sei. Sie werde die „Lehren aus der Vergangenheit“ ziehen. Zu den Mitgliedern gehört als „ständiger Gast“ übrigens auch Holtherm.

RKI-Mitarbeiter „vor Hass und Hetze“ schützen

Den Namen des Signalgebers wollte Lauterbach nicht nennen. Die vielen Schwärzungen in den Protokollen, darunter auch der Name des unbekannten Akteurs, seien erfolgt, um „Mitarbeiter […] vor Hass und Hetze zu schützen“, begründete Lauterbach die Geheimhaltung ebenfalls am vergangenen Montag auf seinem X-Kanal.

Laut „Welt“ richten sich Lauterbachs Bedenken gegen „eine kleine Gruppe von Politikern, aber auch Menschen, die vielleicht auch in anderen Bereichen radikale Ideen“ verträten. Diese würden die Corona-Zeit nutzen, „um Politik gegen den Staat zu machen“. Deswegen lehne er eine Enquete-Kommission ab.

Keine Dokumente zur Grundlage der Risikobewertung

Im RKI-Krisenstabsprotokoll vom Montag, 16. März 2020, hatte der RKI-Vizepräsident Lars Schaade festhalten lassen, dass am Wochenende „eine neue Risikobewertung vorbereitet“ worden sei. Es solle noch im Laufe der Woche „hochskaliert werden“. Zur Veröffentlichung des Beschlusses warte man nur noch auf das „Signal“, das von einem namentlich geschwärzten Akteur kommen solle.

Am 16.02.20 wartet der RKI-Krisenstab nur noch auf die Freigabe zur Hocheskalierung der Risikostufe. Der Name des Signalgebers ist unbekannt. Foto: RKI-Files, veröffentlicht vom „Multipolar-Magazin“ am 20. März 2024

Am 16.03.2020 wartet der RKI-Krisenstab nur noch auf die Freigabe zur Hochskalierung der Risikostufe. Der Name des Signalgebers ist unbekannt. Foto: RKI-Files, veröffentlicht vom „Multipolar-Magazin“ am 20. März 2024. (Quelle: HiDrive.com)

Paul Schreyer, Autor und Mitherausgeber des „Multipolar-Magazins“, wollte mehr über die Vorbereitungen erfahren und bat das RKI um Zusendung der entsprechenden Protokollunterlagen, nämlich um „die Risikobewertung selbst sowie sämtliche Kommunikation und Beratung dazu“.

Doch die Rechtsanwaltskanzlei Raue teilte nach „Multipolar“-Angaben in einer schriftlichen Stellungnahme vom September 2023 an das Verwaltungsgericht Berlin mit, dass „keine weiteren Dokumente vorhanden sind, die sich mit der Änderung der Risikobewertung am 17. März 2020 von ‚mäßig‘ auf ‚hoch‘ befassen“ würden. „Informationen, die nicht vorhanden sind, kann die Beklagte nicht herausgeben“, so die Anwaltskanzlei.

Nach Einschätzung des „Multipolar-Magazins“ war die Hochskalierung damit offenbar „abrupt und überraschend“ erfolgt, „ohne dokumentierten Diskussions- und Beratungsprozess – auf Anweisung eines ungenannten Akteurs“. Schreyer ging deshalb davon aus, dass es sich wohl nicht um einen „wissenschaftlichen“, sondern um einen „politischen Beschluss“ gehandelt haben musste. Denn immerhin habe sich in den Protokollen vor dem 16. März 2020 keine „Andeutung“ für eine geplante Hochskalierung gefunden. Auch „grundlegende Kennzahlen“ hätten sich kurz vor dem Wochenende nicht „maßgeblich geändert“.

Die Epoch Times hakte noch einmal beim BMG nach: Hatte der RKI-Signalgeber tatsächlich aus freien Stücken gehandelt, ohne sich zuvor mit Vertretern der Bundesregierung abzustimmen? Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage genau war die Hochstufung vom 17. März erfolgt? Warum empfahl Lauterbach noch am vergangenen Montag kurz vor Mitternacht auf seinem X-Kanal jedermann, die RKI-Protokolle zu lesen – ordnet aber nicht an, zumindest sämtliche Inhalte ungeschwärzt freizugeben? Eine Antwort auf diese Fragen aus dem BMG liegt bisher nicht vor.

Gab der Blick ins Ausland den Ausschlag?

Nach Informationen der „Welt“ erklärte eine BMG-Sprecherin bislang lediglich, dass „das RKI“ vor der Hochskalierung „eine fachliche Bewertung der Lage vorgenommen“ habe. Diese müsse man „im damaligen Zusammenhang“ betrachten.

Als Hintergrund habe die Sprecherin genannt, dass die WHO bereits am 11. März 2020 „die Pandemie ausgerufen“ habe. Außerdem hätten „mehrere Länder […] kurz zuvor Einreiseverbote verhängt“. Im Februar und März 2020 seien zudem in Bergamo „4500 Menschen an Covid-19 gestorben“, zitiert die „Welt“ die Sprecherin des BMG.

Nach Angaben der „Tagesschau“ habe der Epidemiologie Prof. Hajo Zeeb (PDF) zur Erklärung der Hochskalierung auf den schnellen Anstieg der „Corona-Infektionen“ im März 2020 verwiesen. Dass die „Positivrate in Deutschland innerhalb von einer Woche um gut einen Prozentpunkt“ angestiegen sei, wie auch Schreyer festgestellt hatte, deute auf einen „substanziellen“ Anstieg hin, „auch wenn es nicht nach viel“ klinge, so Zeeb laut „Tagesschau“. Auch der Molekularbiologe Dr. Emanuel Wyler habe die „erste[n] Anzeichen für ein klassisches exponentielles Wachstum auch in Deutschland“ als Grund genannt.

Das RKI selbst hatte am 25. März 2024 ebenfalls auf die Veröffentlichung der RKI-Files reagiert: Die Protokolle müssten „immer in ihrem Kontext gesehen und interpretiert werden“. Am 16. März 2020 seien „die Infektionszahlen in Deutschland sehr stark“ gestiegen. Das RKI verwies nicht nur auf seine offiziellen Lageberichte vom Sonntag, 15. (PDF), und Montag, 16. März (PDF), sondern auch auf die WHO, Bergamo und bereits bestehende Beschränkungen in anderen Ländern.

„Risikobewertung“ nur „noch nicht veröffentlicht“?

Die „Tagesschau“ ging am 25. März 2024 schlussendlich davon aus, dass das RKI durchaus „eine neue Risikobewertung vorgenommen“, diese aber „noch nicht veröffentlicht“ habe. Daraus zu schließen, dass die Hochskalierung „nicht auf fachlicher Einschätzung“ gefußt habe, sei „irreführend“.

Dieser „Tagesschau“-Standpunkt aber würde der Information des „Multipolar-Magazins“ widersprechen, nach der die Kanzlei Raue im September 2023 mitgeteilt habe, keine Informationen herausgeben zu können, „die nicht vorhanden“ seien.

Merkel 2021: „Dahinter liegen natürlich auch politische Grundentscheidungen“

Wie dem auch sei: Für sämtliche Folgen der Corona-Politik trägt unterm Strich die Bundesregierung die Verantwortung. Das bestätigte laut „Tagesschau“ auch der Molekularbiologe Dr. Emanuel Wyler: „Das RKI [habe] damals sehr wohl die Vor- und Nachteile einzelner Maßnahmen berücksichtigt“. Was aber davon „umgesetzt“ worden sei, habe die Politik entschieden.

Dass es sich dabei nicht immer um „wissenschaftliche“, sondern auch um „politische“ Entscheidungen handelte, hatte der freie Journalist Boris Reitschuster der Ex-Kanzlerin Angela Merkel bereits im Januar 2021 entlockt (Video auf „YouTube“).

Neue Forderungen pro Aufarbeitung

All die bis dato aufgetauchten Ungereimtheiten während der Corona-Zeit scheinen nach dem Bekanntwerden der bislang vorliegenden RKI-Files-Inhalte jedenfalls nicht mehr alle politischen Akteure in Berlin zu überzeugen. Laut „Multipolar“ fordert inzwischen FDP-Vize Wolfgang Kubicki den Bundesgesundheitsminister zur Offenlegung der RKI-Krisenstabsprotokolle ohne Schwärzungen auf.

Wie die „Bild“ berichtet, schließt sich nun auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) den Forderungen nach einer Aufarbeitung an: „Ich denke, wir sollten den Mut haben, die Lehren ziehen, Abläufe überprüfen, die Auswirkungen evaluieren“. Habeck hatte sich im November 2021 unter anderem für Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte und für flächendeckende 2G-Maßnahmen starkgemacht und gefordert: „Impfen, bis die Nadel glüht“.

Nach Angaben der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) würde FDP-Chef Christian Lindner eine Enquete-Kommission des Bundestages für „das Mittel der Wahl“ halten. Das sieht auch der frühere NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) so. Nach Informationen der „Welt“ verlangten Sahra Wagenknecht (BSW), AfD-Bundessprecherin Alice Weidel und ihr Parteikollege Martin Sichert sogar einen Corona-Untersuchungsausschuss.

Auch der prominente Virologe Hendrik Streeck hat seinem X-Kanal zufolge angesichts der freigeklagten RKI-Protokolle „Fragen“. Seiner Meinung nach war der „größte Fehler seit Beginn der Pandemie […], dass wir es nicht geschafft haben, den Facettenreichtum der notwendigen Expertise darzustellen und zu kommunizieren“.

Mehr als 2.500 Seiten Protokolle

Das „Multipolar-Magazin“ hatte die Protokolle des RKI-Krisenstabs aus der Zeit vom 14. Januar 2020 bis zum 30. April 2021 kürzlich mit großem finanziellem Aufwand frei geklagt. Am 20. März 2024 veröffentlichte das Magazin den mehr als 2.500 Seiten starken Dokumentenstapel. „Multipolar“-Mitherausgeber Paul Schreyer rief bereits sämtliche „interessierten Journalisten und Rechercheure“ dazu auf, die Papiere unter die Lupe zu nehmen.

Die in großen Teilen geschwärzte aktuelle Fassung der RKI-Files ist in einer einzigen 355-MB-PDF-Datei unter anderem auf Telegram und auf der Website von Bastian Barucker abrufbar. Das „Multipolar-Magazin“ stellte sie auch in einzelnen Tagesprotokollen auf der Plattform „HiDrive“ zum Herunterladen zur Verfügung. Auf „HiDrive“ sind auch die Stellungnahmen der Kanzlei Raue zu den Schwärzungen einsehbar.



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