Richter: Kein Urteil kann Verlust Tugces ausgleichen
Das Strafmaß von drei Jahren Jugendhaft nehmen die Albayraks gefasst auf. Dogus schüttelt nur leicht den Kopf als Aßling sagt, Sanels Entschuldigung im Gerichtssaal sei nach Einschätzung der Kammer „durchaus aufrichtig gemeint gewesen“.
„Die ganze Familie ist immer noch in Schockstarre“, sagt Tugces Cousine Capri vor Verhandlungsbeginn. Der älteste Sohn der Familie, auch er Nebenkläger, ist nicht zur Urteilsverkündung gekommen. „Ich glaube, dass die Familie froh ist, dass der Prozess vorbei ist“, sagt ihr Anwalt Macit Karaahmetoglu. Die Albayraks seien in den vergangenen Wochen immer wieder mit den Einzelheiten des Todes ihrer Tochter konfrontiert worden.
Und wie sieht die Familie das Strafmaß für den 18 Jahre alten Angeklagten? Sie selbst äußert sich nicht. Ihr Anwalt sagt: „Jetzt besteht die Chance, eine Zäsur in seinem Leben zu setzen. Sein Leben kann man noch retten. Das von Tugce nicht mehr.“
Sanel M., der einen grellrosa Pullover trägt, blinzelt während der Urteilsverkündung einige Male, scheint sonst aber ruhig. Eine Freundin bricht im Zuschauersaal in Tränen und Schluchzen aus. Vor dem Gerichtsgebäude kommt es bei einer Mahnwache für Tugce zu Beleidigungen. Tugces Tante Mihrican weint und ist außer sich: Einige Frauen aus dem Gerichtssaal hätten auf ein Foto Tugces gespuckt.
Richter Aßling wendet sich gleich zu Beginn seiner Urteilsbegründung an Tugces Familie. Die Albayraks hätten einige Fragen während der Verhandlung vielleicht als despektierlich empfunden. Es sei aber nicht die Absicht des Gerichts gewesen, Tugce „herabzusetzen oder gar zu demontieren“, betonte Aßling. „Es geht allein darum herauszufinden, was passiert ist.“ Dabei sei dem Gericht bewusst: „Dieser Verlust ist durch kein Urteil dieser Welt wieder auszugleichen. Damit müssen Sie leben, so schwer es fällt.“
Auch während seiner Begründung der Höhe des Strafmaßes spricht Aßling die Albayraks an. Es sei sicher schwer, für sie zu ertragen, dass nun über die Zukunft des Angeklagten gesprochen werde. Dieser sei von einer Vorverurteilungskampagne „in großem Umfang gebrandmarkt“ und spüre dies auch im Gefängnis.
Gegen Sanel spreche, dass er die Warnschüsse von drei Jugendarresten – den letzten zwei Monate vor der Tat – nicht verstanden habe. Auch nach seinem verhängnisvollen Schlag „hätte man sich gewünscht, dass er mehr Empathie und Mitempfinden mit dem Opfer hat“, sagt Aßling. Daran müsse er nun in der Jugendhaft arbeiten. „Wir fürchten, wenn er jetzt einfach so wieder in Freiheit kommt, dass er relativ schnell in alte Verhaltensmuster und seinen Freundeskreis zurückfällt, der sich hier nicht unbedingt rühmlich gezeigt hat.“
Das Jugendstrafrecht
Im Mittelpunkt des Jugendstrafrechts steht die Erziehung und nicht die Bestrafung. Voraussetzung für die Verurteilung eines Heranwachsenden nach dem Jugendstrafrecht ist eine jugendtypische Tat oder die verzögerte Reife der Persönlichkeit des Angeklagten.
Heranwachsend ist, wer zur Tatzeit 18 bis 20 Jahre alt war. Sanel M. war erst wenige Tage vor der Tat 18 Jahre alt geworden und hatte in dieser Nacht seinen Geburtstag nachgefeiert.
Die Gerichte gehen nach Einschätzung der Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen – besonders bei jungen Heranwachsenden und schweren Straftaten – häufig von einer Reifeverzögerung aus. In dieser Frage holt das Gericht eine Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe ein. Bei Sanel M. hatte sich diese aber nicht festgelegt.
Voraussetzung für eine Jugendstrafe – also Haft – ist die Feststellung sogenannter schädlicher Neigungen. Kriterium dafür sind unter anderem frühere Straftaten. Der 18-jährige Sanel M. war laut Anklagebehörde schon viermal strafrechtlich in Erscheinung getreten, zweimal wegen Diebstahls, einmal wegen räuberischer Erpressung und einmal wegen gefährlicher Körperverletzung. Dafür saß er seit 2013 schon dreimal im Jugendarrest – zuletzt zwei Monate vor der Tat, für die er nun verurteilt wurde.
Sechs Monate bis zehn Jahre Jugendgefängnis können verhängt werden, bei Mord auch bis zu 15 Jahre. Beim Anklagevorwurf Körperverletzung mit Todesfolge beträgt die Mindeststrafe nach dem Erwachsenenstrafrecht drei Jahre.
(dpa)
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