Prof. Dr. Bruns: Neue Protestwellen in Deutschland befürchtet

Deutschland steht nach Ansicht des Soziologen Werner Bruns vor einer Politisierung der Unpolitischen. Nachlassendes Vertrauen in staatliche Institutionen und die Medien plus eine wachsende Wirtschaftskrise bieten einen Nährboden für zunehmende Proteste in der Bevölkerung.
Die Politisierung der Unpolitischen
Demonstranten in Berlin nahe dem Bundestag.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 25. September 2022

Der Soziologe und Autor Prof. Dr. Werner Bruns sieht eine neue Protestwelle auf Deutschland zukommen, die sich in der Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation und der gesellschaftlichen Ungleichheiten begründet. Er sieht Proteste voraus, auch von bisher eher unpolitischen Bürgern.  Damit meint Bruns nicht nur Demonstrationen auf der Straße oder in den sozialen Medien, sondern auch einen Trend zu extremen gesellschaftlichen Gruppierungen und Parteien.

Herr Bruns, Sie vertreten die These, dass wir vor einer Politisierung der Unpolitischen stehen. Wie darf man das verstehen?

Das Grundproblem seit einigen Jahren ist, dass das Vertrauen in staatliche Institutionen immer mehr nachgelassen hat. Die Problemlösungskompetenz der Politik wird von Teilen der Gesellschaft infrage gestellt. Der sogenannten vierten Säule der Gewaltenteilung, den Medien, schlägt großes Misstrauen entgegen. Dazu addiert sich jetzt auch noch eine Wirtschaftskrise, die sich durch eine verfehlte Energiepolitik und durch den Krieg in der Ukraine gerade entwickelt.

Klar ist, dass wirtschaftliche Krisen die gesellschaftlichen Ungleichheiten verstärken, und Ungleichheiten verursachen Unzufriedenheiten bei nicht privilegierten Menschen. Wir erleben zurzeit eine Entwicklung, die das Wirtschaftswachstum für lange Zeit erschweren wird. Wohlstandsversprechen, gleiche Lebensverhältnisse gehören wohl auf absehbare Zeit der Vergangenheit an. Die Ursachen sind bekannt: globale Krisen, Energiekosten, Inflation, Preisentwicklungen, Instabilität der Lieferketten usw.

Anpassungsprozesse sind nötig! Die hier skizzierten Probleme werden mittelfristig dazu führen, dass immer mehr Menschen von der Wohlstandsentwicklung abgeschnitten werden und der unbezahlbare Sozialstaat nicht mehr alle Risiken – so wie bisher – abdecken kann. Wir stehen deshalb vor der folgenschwersten Entwicklung in den sozialen Bereichen, zumal der Sozialstaat immer mehr in Schwierigkeiten geraten wird, denken Sie nur an die Renten und das teure Gesundheitssystem. Der Sozialstaat steht als sozialer Rettungsschirm zukünftig nicht mehr in ausreichendem Maße zur Verfügung.

Das Problem reicht weit in die Mittelschicht, die sich das nicht gefallen lassen wird. Corona hat uns gezeigt, wie schnell Unruhe in eine Gesellschaft kommen kann. Das ist aber ein vergleichbar kleines Problem im Vergleich um „Brot und Butter“ fürs Leben und die Kinder. Es wird Proteste geben, auch von bisher eher unpolitischen Bürgerinnen und Bürgern. Damit meine ich nicht nur Demonstrationen auf der Straße oder in den sozialen Medien, sondern auch einen Trend zu extremen gesellschaftlichen Gruppierungen und Parteien.

Woran machen Sie diese These fest?

Die bisher Unpolitischen, so meine Vermutung, wagen sich immer mehr in die Öffentlichkeit. Der Protest wird auch die kleinen und mittleren Unternehmer erfassen, die von der Politik bisher sträflich vernachlässigt wurden. Die Regierung hat sich in der Mittelstandspolitik nicht mit Ruhm bekleckert, mir fehlen hier die klugen Wirtschaftspolitiker im Bundestag. Die Entscheidung, die Kernkraftwerke nicht zu verlängern, sind in der Wirtschaft zum Beispiel völlig unverständlich.

Hat die Politisierung der Unpolitischen schon angefangen?

Wir bewegen uns schon länger in diese Richtung, das hat mit verschiedenen Ereignissen zu tun. Die Flüchtlingskrise 2015 und die Pandemie haben diese Entwicklung bereits eingeleitet. Viele Menschen fühlten sich durch die „Forschheit“ des Staates überrumpelt. Man sah sich bedroht in seiner Existenz – ob das immer rational war, mag dahingestellt bleiben. Die Wiedervereinigung läuft uns durch Ungleichheiten auch noch nach. Hier findet man den Ausgangspunkt für die verbreitete Kritik an der Politik, die Probleme und Sorgen zu ignorieren und keine adäquate Lösung zur Verfügung zu stellen. Staatliche Institutionen unterliegen in der Wahrnehmung vieler Bürger Kompetenzverlusten, sie werden teilweise sogar als Bedrohung gesehen.

Sehen Sie Risiken bei einer Politisierung der Unpolitischen? Sollte sich ein demokratischer Staat nicht über ein gesteigertes Interesse an Politik freuen?

Über ein Mehr an politischem Engagement sollte man sich natürlich freuen, solange nicht extreme Positionen gefördert werden, die die liberale Demokratie am Ende zerstören können. Die deutsche Geschichte hat gezeigt, dass die Demokratie eine zarte Pflanze ist, die wir schützen müssen. Wir sollten aber auch nicht pessimistisch sein, denn die Politisierung ist natürlich kein Nachteil. Wir wollen ja, dass Menschen sich in unser Gemeinwesen verstärkt einbringen.

Aber sehen Sie, was mich beunruhigt, ist Folgendes. Ich benutze mal eine Metapher: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir ein neues und modernes Haus aufgebaut, um das uns viele in der Welt beneidet haben. Wir haben dann seit den 1970-Jahren kein Geld mehr in die Sanierung des Gebäudes gesteckt, wir haben es runtergewirtschaftet.

Die Folgen heute sind konkret: Marode Infrastruktur, eine Deutsche Bahn, die schlecht aufgestellt ist, eine kampfunfähige Bundeswehr, eine überzogene Bürokratie, Stillstand in der Bildungspolitik, bei der Digitalisierung spielen selbst Bayern und Baden-Württemberg, die ehemaligen Lokomotiven der Wirtschaft, keine große Rolle. Uns fehlen die Haushaltsmittel für Modernisierungen, vor allem auch beim Umstieg vom Industrie- in das Digitalzeitalter.

Ich sehe auch positive Ansätze! Ihre Wettbewerbsfähigkeit und globale Vernetzung verdankt die deutsche Wirtschaft den umsatzstarken Branchen Automobilbau, Maschinen- und Anlagenbau, der Chemieindustrie sowie der Medizintechnik. Sie sind aber auf bestimmte Märkte, Energiesicherheit und stabile Lieferketten angewiesen – mehr als viele europäische Partner. Der Export ist die Herzkammer der deutschen Wirtschaft. Wenn die Geschäfte hier nicht laufen, steigen die Arbeitslosenzahlen und die Unzufriedenheit mit dem politischen System.

Diese Dinge hängen zusammen. Wir können uns keine Wohlstandsverluste erlauben, weil die Zufriedenheit der Menschen davon abhängig ist. Das sehen Sie gerade jetzt, wo die Energie so teuer wird, dass viele Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren können. Ein Prozess, der ebenfalls dazu führen wird, dass ehemals eher unpolitische Menschen auf die Straße gehen und sich äußern werden. Denn auch Teile der Mittelschicht werden betroffen sein, vor allem unter anderem Menschen mit Kindern und ältere Bürger. Ein Teil wird sich einbringen und laut protestieren, ein anderer sich zurückziehen aus dem gesellschaftlichen Leben. Die Parameter dafür sind entweder Frustration und oder Resignation.

Was kann ein Staat, die Medien oder seine Bevölkerung, aber womöglich auch der Einzelne tun, um extremen Entwicklungen entgegenzuwirken?

Wir sollten sachlich bewerten und fair miteinander umgehen. Der Stil ist in unserer Gesellschaft etwas verloren gegangen.

Warum gehen Menschen unterschiedlich mit Krisen um? Wird jeder in einer Krise plötzlich politisch?

Der Umgang mit der Krise hängt natürlich von der finanziellen Situation, den Ressourcen ab. Kämpfe ich mit meiner Familie um mein Auskommen, habe ich natürlich andere Bedingungen als Menschen mit mehr Einkommen. Das ist klar. Krisen verunsichern extrem. Die Mentalitäten im Umgang damit sind zudem sehr unterschiedlich.

Politisches Handeln sollte zweckrational sein, das bedeutet, das Engagement für meine persönlichen Interessen ist stets legitim. Das Ziel ist in Ordnung, nur der Mitteleinsatz sollte angemessen sein. Es gibt immer auch Ziele für die Gemeinschaft, für die es sich lohnt, politisch zu werden. Das ist eine Gesellschaftsordnung, die Freiheit und Verantwortung ermöglicht. Das Ziel sehe ich in der liberalen Demokratie gut vertreten.

In Krisenzeiten entstehen leicht anomische Zustände (soziale Regeln finden keine Beachtung mehr; die kollektive Ordnung löst sich auf), die solche Reaktionen hervorrufen – das heißt Situationen, in denen Menschen, vereinfacht gesagt, nicht mehr genau wissen, was eigentlich gilt und möglich ist und was nicht.

Die Medien haben in dieser Zeit eine besondere Verantwortung. Sie müssen sachlich berichten und klar trennen zwischen Bericht und Kommentar, das läuft zurzeit etwas auseinander. Man sollte mit anderen Meinungen vorsichtig umgehen und Menschen nicht ausgrenzen.

Das Interview führte Erik Rusch.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 63, vom 24. September 2022.



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