Prof. Bauer: „Wir müssen von diesen Zahlen wegkommen“ – Kritische Töne zur Zahl der positiven Coronatests bei der ARD
Kritische Stimmen zur Corona-Politik kamen am Montagabend (5.10.) in einer ARD-Extra-Sendung zur Situation rund um die Pandemie und deren aktuelle Auswirkungen zu Wort. Während nicht zuletzt der Tourismus europaweit darunter leidet, dass der neuerliche Anstieg der Zahl positiver Testergebnisse zu Reisewarnungen führt, werden die Zahlen von der Politik zur Rechtfertigung neuer Beschränkungen herangezogen.
Corona-Realität komplexer als Testzahlen vermuten ließen
Auch in der ARD waren in der Vergangenheit vorwiegend Personen zu Wort gekommen, die dafür plädierten, allein schon aus Vorsicht die Pandemie-Maßnahmen wieder zu verschärfen. Nun sprachen sich jedoch mehrere Befragte aus Medizin und Verwaltung für ein Ende einer einseitig auf die Zahl der positiven Testergebnisse aufbauenden Corona-Politik aus.
Prof. Thorsten Bauer, Chef der Emil-von-Behring-Lungenklinik in Berlin, appelliert: „Wir müssen von diesen Zahlen wegkommen.“ Die Realität sei komplexer als die Infektionskurve vermuten lasse.
Trotz der hohen Zahlen an Positiv-Ergebnissen, die gemeldet würden, sei seine Station leer. Er hält die bloße Nennung der Zahl der Positiv-Ergebnisse auf SARS-CoV-2 allein nicht für aussagekräftig.
Er plädiert dafür, diesen die Zahl der dadurch bedingten stationären Krankenhausaufnahmen gegenüberzustellen.
Die bloßen absoluten Infektionszahlen sagten Medizinern lediglich, wie viele infiziert sein könnten, aber nicht, wie viele tatsächlich krank seien. Dies sei insbesondere für die Betreiber von Fachkrankenhäusern bedeutsam, denn so könne man auch abschätzen, worauf man sich einstellen müsse.
ARD-Grafik bestätigt Einschätzung der Kritiker
Die ARD zeigt in ihrer Sendung selbst anhand einer Grafik, dass zwar im Frühjahr in der heißesten Phase der Corona-Krise etwa 20 Prozent aller Infizierten in Krankenhäusern behandelt wurden.
Mittlerweile sei die Zahl der ins Krankenhaus eingelieferten Corona-Positiven aber konstant niedrig – ungeachtet der wieder angestiegenen Zahl positiver Testergebnisse. Derzeit seien es nur noch sechs Prozent – ausgehend von einer Infiziertenzahl pro Kalenderwoche, die immer noch unter einem Drittel des Höchstwertes vom April liege.
Der Grund dafür liege darin, dass sich heute vor allem junge Menschen mit dem Virus ansteckten, die selbst jedoch nicht erkrankten. Demgegenüber lägen derzeit nur 447 Infizierte in 30.000 Intensivbetten, die deutschlandweit für schwer behandlungsbedürftige Fälle zur Verfügung stünden.
Auch die Sterblichkeit an oder mit einer Corona-Infektion war lediglich kurzzeitig im April erhöht, heißt es in der ARD-Sendung weiter. Seit dem Abklingen dieser ersten Phase sei die Zahl der Verstorbenen, die das Virus in sich trugen, konstant niedrig. Auch der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung, Andreas Gassen, bestätigt, dass eine durch Corona bedingte Übersterblichkeit nicht feststellbar wäre.
Streeck: „Lernen, mit dem Virus zu leben“
Der Virologe Prof. Hendrik Streeck vom Uniklinikum Bonn plädiert deshalb für eine „achtsame Normalität“ im künftigen Umgang mit dem Virus. Es sei illusorisch, anzunehmen, dass es gelingen werde, das Virus vollständig auszulöschen. Man müsse Wege finden, um damit zu leben. Entscheidend sei, schwer Erkrankten den Zugang zur erforderlichen Versorgung zu gewährleisten. Ein Leben mit dem Virus würde vor allem bedeuten, die Risikogruppen gezielt zu schützen.
Auch die Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen, Prof. Ursel Heudorf, plädiert dafür, neben der reinen Zahl an Positivtests auch die Zahl der behandlungsbedürftigen Betroffenen in der Berichterstattung zu erwähnen, wie dies auch das Robert-Koch-Institut (RKI) täglich praktiziere. Diese Differenzierung werde immer noch zu selten vorgenommen. Sie sei aber gerechtfertigt, weil sich – anders als im Frühjahr – die Zahl der positiven Testergebnisse und die Zahl der schwer Erkrankten oder gar Verstorbenen voneinander entkoppelt hätten.
Infizierte sind nicht immer automatisch auch krank oder ansteckend
Die Kritik an der einseitigen Ausrichtung an der Zahl der Positivtests knüpft inhaltlich an jene an, die unter anderem der Harvard-Epidemiologe Dr. Michael Mina bereits Ende August in der „New York Times“ (NYT) artikuliert hatte.
Dieser hatte erklärt, dass mehr Menschen das Coronavirus in irgendeiner Weise in sich trügen als tatsächlich an COVID-19 erkranken würden. Vor allem aber sei ein bloßer positiver PCR-Test nicht aussagekräftig bezüglich der Ansteckungsgefahr, die vom Infizierten ausgehe. Diese sei jedoch der eigentlich relevante Faktor, auf den man allfällige Maßnahmen abstimmen sollte.
In der Fachwelt spricht man im Zusammenhang mit Virusträgern, die aber nicht erkranken und von denen auch keine Ansteckungsgefahr ausgeht, von „falsch Positiven“. Charité-Virologe Christian Drosten, auf den das Konzept zurückgeht, das auf positive PCR-Tests abstellt, bestreitet hingegen, dass die Differenz in der Praxis eine nennenswerte Bedeutung habe.
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